HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 200
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 249/22, Beschluss v. 09.08.2022, HRRS 2023 Nr. 200
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hannover vom 9. Februar 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Angeklagten Sh. und L. hat es jeweils wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung verurteilt, den Angeklagten Sh. zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten und den Angeklagten L. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten haben jeweils mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), so dass es eines Eingehens auf die Verfahrensrügen nicht bedarf.
Nach den Feststellungen hielten sich die Angeklagten sowie die Zeugen H., Ha. und R. in der Nacht zum 27. Juni 2021 am Opernplatz in H. auf. Sie kamen ins Gespräch mit den Zeugen A. und M., in dessen Verlauf der Angeklagte S. sich gegenüber A. aggressiv verhielt, nachdem er erfahren hatte, dass dieser aus demselben Ort im Irak stammte wie jemand, der S. noch Geld schuldete. Aufgrund der aggressiven Stimmung verließen A. und M. den Opernplatz, weil sie keinen Streit wollten. Gemeinsam mit den Zeugen Ab., K. und Al. gingen sie zu einer nahegelegenen U-Bahn-Station, wo wenig später auch die Angeklagten S. und Sh. sowie die Zeugen H. und Ha. eintrafen. S. warf A. und M. nun vor, sich Unterstützung geholt zu haben, und beleidigte sie. Außerdem schlug er K. mit der Faust, woraufhin Ab. und Al. diesem zu Hilfe eilten, während Sh. und H. den Angeklagten S. unterstützten. Es entwickelte sich eine tätliche Auseinandersetzung, die von Mitarbeitern eines Sicherheitsdienstes unter Einsatz von Pfefferspray beendet wurde; anschließend flüchteten S., Sh., H. und Ha. .
Nachdem S. und Sh. wieder mit L. zusammengetroffen waren und erfahren hatten, dass die Gruppe um A. und M. sich im Bereich des Hauptbahnhofs aufhielt, begaben sie sich dorthin. S. hatte zwischenzeitlich eine Bauchtasche des Zeugen H. an sich genommen, in der sich unter anderem die beiden Scherenblätter von dessen Friseurschere befanden.
Am Hauptbahnhof forderten auf Geheiß der Angeklagten zunächst die mit diesen bekannten Zeugen Q., Ho. und O. und anschließend die Angeklagten selbst die Zeugen Ab., K., M., Al. und A. auf, mit ihnen zum Opernplatz zu gehen, um die Angelegenheit dort „zu klären“. Ab., K. und M. kamen dem schließlich nach, wobei alle Beteiligten mit einer körperlichen Auseinandersetzung rechneten.
Auf dem Opernplatz sagte S. einem Gesprächspartner, mit dem er gerade telefonierte, auf Kurdisch, dass er „die abstechen“ werde, was M. hörte, der selbst kurdisch spricht. Um seine Freunde zu warnen, rief er ihnen zu, dass S. ein Messer habe und sie lieber gehen sollten. Ab. und K. wollten den Opernplatz daraufhin verlassen, wurden von Sh. und L. aber daran gehindert; diese hielten „den Einsatz der Scherenblätter“ durch S. „zu einer Körperverletzung, nicht aber zu einer Tötung, für möglich“ und fanden sich damit ab. Im weiteren Verlauf schlugen die Angeklagten auf Ab. und K. ein. S. stach sodann mit einem der Scherenblätter dem Zeugen K. dreimal ins Gesäß und schließlich dem Zeugen Ab. in den Hals, wobei er dessen Tod für möglich hielt und sich damit abfand. Danach liefen die Angeklagten weg.
Ab. schleppte sich noch ca. 30 Meter zur nächstgelegenen Bushaltestelle. Dort musste er sich wegen eines erheblichen Blutverlustes hinlegen. Er wurde nach kurzer Zeit ins Krankenhaus gebracht und notoperiert; seine Verletzungen waren potentiell lebensbedrohlich.
Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Überprüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand.
1. Die Verurteilung des Angeklagten S. wegen versuchten Totschlags (§ 212 Abs. 1, § 22 StGB) kann schon deshalb nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht keine Feststellungen zum Rücktrittshorizont getroffen hat (vgl. dazu etwa BGH, Beschluss vom 19. Mai 1993 - GSSt 1/93, BGHSt 39, 221, 227 f.). So bleibt unklar, welches Vorstellungsbild S. hatte, nachdem er mit dem Scherenblatt in den Hals des Zeugen Ab. gestochen hatte. Es versteht sich nicht von selbst, dass er annahm, Ab. dadurch tödlich verletzt zu haben, zumal dieser den Feststellungen zufolge nicht sofort handlungsunfähig, sondern noch in der Lage war, sich 30 Meter vom Tatort zu entfernen.
2. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen entbehren einer tragfähigen Beweiswürdigung. Zur subjektiven Tatseite fehlt sie völlig; im Übrigen hat das Landgericht weder die Einlassungen der Angeklagten noch die Aussagen der Belastungszeugen hinreichend mitgeteilt.
a) Aus sachlich-rechtlichen Gründen ist regelmäßig eine Wiedergabe wenigstens der wesentlichen Grundzüge der Einlassung des Angeklagten erforderlich, damit das Revisionsgericht nachprüfen kann, ob sich das Tatgericht unter Berücksichtigung der erhobenen Beweise eine tragfähige Grundlage für seine Überzeugungsbildung verschafft und das materielle Recht richtig angewendet hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. Dezember 2014 - 2 StR 403/14, BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 2 Einlassung 2; vom 12. Dezember 2019 - 5 StR 444/19, NStZ 2020, 625; vom 3. Dezember 2020 - 4 StR 371/20, NStZ 2022, 228, 229).
Außerdem ist das Tatgericht - über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO hinaus - verpflichtet, die wesentlichen Beweiserwägungen in den Urteilsgründen so darzulegen, dass seine Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler überprüfbar ist. Inwieweit das Tatgericht gehalten ist, die Angaben von Belastungszeugen nicht nur zu würdigen, sondern auch deren wesentlichen Inhalt wiederzugeben, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Da die Urteilsgründe nicht dazu dienen, die Beweisaufnahme zu dokumentieren, ist es regelmäßig nicht erforderlich, sondern verfehlt, Zeugenaussagen umfangreich oder gar wörtlich wiederzugeben; dies kann die Würdigung der Beweise nicht ersetzen und unter Umständen sogar den Bestand des Urteils gefährden. Der wesentliche Inhalt einer Zeugenaussage ist in den Urteilsgründen jedoch darzustellen, wenn dies aus sachlich-rechtlichen Gründen notwendig ist, um die Beweiswürdigung auf Rechtsfehler zu überprüfen. Das Tatgericht soll belegen, warum es - unter Berücksichtigung der Einlassung des Angeklagten - bestimmte bedeutsame tatsächliche Umstände festgestellt hat (vgl. zu allem BGH, Beschluss vom 18. November 2020 - 2 StR 152/20, NStZ-RR 2021, 114, 115 mwN).
b) Den sich daraus ergebenden Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
aa) Das gilt zunächst in Bezug auf die Einlassungen der Angeklagten. Den Urteilsgründen ist insoweit lediglich zu entnehmen, dass das Landgericht die Feststellungen zum „Tatvorgeschehen“ (UA S. 14 f.), zum „äußeren Tatgeschehen“ (UA S. 15 f.) und zum „äußeren Tatnachgeschehen“ (UA S. 17 f.) unter anderem auf die Angaben des Angeklagten L. gestützt hat, „insbesondere“ auf diejenigen, die er im Rahmen seines letzten Wortes gemacht hat. Darüber hinaus ergibt sich aus den Ausführungen zur Strafzumessung, dass L. „in seinem letzten Wort ein Teilgeständnis abgelegt“ hat, indem er darauf hinwies, dass sich die Tat so ereignet habe, „wie er es bei der Polizei geschildert“ habe; die Angaben L. s im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung hat das Landgericht deshalb als Aufklärungshilfe im Sinne des „§ 46b StPO“ gewertet. Den Inhalt der Angaben, die der Angeklagte L. bei seiner polizeilichen Vernehmung und - abgesehen von dem „Teilgeständnis“ im Rahmen seines letzten Wortes - in der Hauptverhandlung gemacht hat, hat das Landgericht indes nicht wiedergegeben. Nicht nachvollziehbar ist auch, worin es das „Teilgeständnis“ gesehen hat.
Zum Einlassungsverhalten der Angeklagten S. und Sh. finden sich gar keine Ausführungen. Der Senat vermag selbst dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht einmal zu entnehmen, ob diese Angeklagten von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht haben.
bb) Lückenhaft ist die Beweiswürdigung auch im Hinblick auf die Angaben der Belastungszeugen. Das Landgericht hat nur mitgeteilt, dass die Feststellungen zum „Tatvorgeschehen“, zum „äußeren Tatgeschehen“ und zum „äußeren Tatnachgeschehen“ auf den Bekundungen zahlreicher Zeugen beruhen, „soweit sie es nach ihren Bekundungen miterlebt und wahrgenommen haben“, zum äußeren Tatgeschehen etwa auf den Angaben „der Zeugen Ab., K., M., Ho., O., Q., Abd., H., KHK T. und PHM Ta. “. Näheres zum Inhalt der jeweiligen Zeugenaussagen ergibt sich aus den Urteilsgründen jedoch nicht. Das Landgericht hat lediglich ausgeführt, warum es einzelnen Angaben verschiedener Zeugen „insbesondere nach dem Eindruck“, den es von diesen „aufgrund ihres Auftretens und ihres Aussageverhaltens“ gewonnen habe, „nicht zu folgen vermochte“. Auf dieser Grundlage ist eine revisionsgerichtliche Überprüfung der Beweiswürdigung nicht möglich.
Die Taten der Angeklagten ereigneten sich im Rahmen einer körperlichen Auseinandersetzung auf einem öffentlichen Platz, an der außer den Angeklagten zumindest die Zeugen Ab. und K. unmittelbar beteiligt waren. Außerdem befanden sich der mit den Zeugen Ab. und K. befreundete Zeuge M. und die Zeugen Q., Ho. und O. am Tatort. In Anbetracht dessen ist der bloße Verweis auf die Aussagen der vernommenen Zeugen unzureichend.
Wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, versteht es sich schon nicht von selbst, dass jede der Personen von ihrem jeweiligen Standort aus und gegebenenfalls unter Berücksichtigung dessen, dass sie selbst an der Auseinandersetzung beteiligt war, das gesamte Geschehen in gleicher Weise wahrnehmen und davon aus eigener Anschauung berichten konnte. Der Zeuge H., auf dessen Aussage die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen ebenfalls gestützt worden sind, hatte sich bereits vor Beginn der Auseinandersetzung von der Gruppe der Angeklagten getrennt. Der Zeuge Ta., ein Polizeibeamter, kam erst später hinzu. Welche Rolle der Zeuge Abd. spielte, geht aus den Urteilsgründen überhaupt nicht hervor.
Im Hinblick auf die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass im Falle einer erneuten Verurteilung des Angeklagten Sh. Feststellungen zu dessen Alter zu treffen sein werden. Dem angefochtenen Urteil ist nicht zu entnehmen, weshalb das Landgericht ausweislich des Rubrums davon ausgegangen ist, dass dieser am 20. März 2000 geboren wurde und damit zum Zeitpunkt der Tat am 27. Juni 2021 - ebenso wie die Mitangeklagten - das 21. Lebensjahr bereits vollendet hatte, während Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss den 20. März 2001 als Geburtsdatum angeben. Zwar bliebe die sachliche Zuständigkeit der Jugendkammer gemäß § 47a JGG unberührt, falls sich in der Hauptverhandlung herausgestellt haben sollte, dass der Angeklagte Sh. zur Tatzeit bereits Erwachsener war (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2003 - 2 ARs 383/03, 2 AR 249/03). Tragfähige Feststellungen zu dessen Alter sind aber erforderlich, um beurteilen zu können, ob die Anwendung allgemeinen Strafrechts rechtsfehlerfrei ist.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 200
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi