HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 335
Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 395/21, Urteil v. 26.01.2022, HRRS 2022 Nr. 335
1. Auf die Revision der Nebenklägerin B. wird das Urteil des Landgerichts Bückeburg vom 23. April 2021, soweit der Angeklagte hinsichtlich der Tat 2 der Anklage freigesprochen worden ist, mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
- Von Rechts wegen -
Das Landgericht hat den Angeklagten von den Vorwürfen der Vergewaltigung und einer versuchten Nötigung zum Nachteil der Nebenklägerin aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Nebenklägerin mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat im tenorierten Umfang Erfolg.
1. Die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklage legt dem Angeklagten insoweit Folgendes zur Last:
Der zum Tatzeitpunkt 16 Jahre und 10 Monate alte Angeklagte habe sich mit der damals 14-jährigen Nebenklägerin in der Wohnung eines Freundes getroffen und mit ihr „Wahrheit oder Pflicht“ gespielt. Als die Nebenklägerin dem Angeklagten während dieses Spiels einen Kuss gegeben und er daraufhin seine Zunge in ihren Mund eingeführt habe, habe sie ihm gesagt, dass sie keinen Geschlechtsverkehr mit ihm haben wolle. Gleichwohl habe der Angeklagte sie ausgezogen und ihr gesagt, dass sie süß sei, wenn sie Angst habe. Daraufhin habe er sie auf ein Bett gedrückt, sich ausgezogen, die Nebenklägerin unter anderem im Intimbereich berührt, zunächst mit seinen Händen und anschließend mit seinen Beinen ihre Beine auseinandergedrückt und dann ohne Verwendung eines Kondoms den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr ausgeübt. Die Nebenklägerin habe hierbei Schmerzen verspürt und dem Angeklagten mitgeteilt, dass es ihr weh tue und sie es nicht wolle. Ihre Versuche, sich durch Kratzen und Wegdrücken des Angeklagten zu befreien, habe dieser mit seinem Körpergewicht unterbunden und den Geschlechtsverkehr noch eine gewisse Zeit fortgesetzt (Fall 2 der Anklage). Kurz nach Beendigung des Geschlechtsverkehrs habe er zu ihr gesagt, dass sie nichts erzählen solle, sonst würde sie „Ärger“ bekommen; die Nebenklägerin erstattete gleichwohl Strafanzeige (Fall 3 der Anklage).
2. Das Landgericht hat zwar die Einlassung des Angeklagten, es sei nicht zum Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin gekommen, als widerlegt angesehen. Es hat sich jedoch weder davon überzeugen können, dass für den Angeklagten ein dem Geschlechtsverkehr entgegenstehender Wille der Nebenklägerin erkennbar gewesen sei und er ihr nach dessen Vollzug „Ärger“ für den Fall in Aussicht gestellt habe, dass sie anderen Personen davon berichten sollte. Es hat den Angeklagten deshalb unter Berufung auf den Zweifelssatz aus tatsächlichen Gründen freigesprochen.
Die Revision der Nebenklägerin wendet sich allgemein gegen den Freispruch. Sie ist gemäß § 395 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 401 Abs. 1 Satz 1 StPO nur zulässig, soweit sie den Freispruch wegen Vergewaltigung betrifft (Fall 2 der Anklage), hingegen nicht in Bezug auf die versuchte Nötigung (Fall 3 der Anklage), die kein Nebenklagedelikt darstellt. Der Senat schließt dabei aus, dass die Nebenklägerin lediglich den Freispruch wegen des letztgenannten Delikts angreift. In diesem Umfang hat das Rechtsmittel Erfolg; das Urteil hält insoweit einer sachlich-rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
1. Die angefochtene Entscheidung wird bereits den formellen Anforderungen, die gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO an ein freisprechendes Urteil zu stellen sind, nicht gerecht und unterliegt schon deshalb der Aufhebung.
a) Wird ein Angeklagter aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, so müssen nach Mitteilung des Anklagevorwurfs zunächst in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen festgestellt werden, die das Tatgericht für erwiesen hält. Erst auf dieser Grundlage ist in der Beweiswürdigung darzulegen, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden können (vgl. BGH, Urteile vom 16. Juni 2016 - 1 StR 50/16; vom 3. März 2010 - 2 StR 427/09, NStZ-RR 2010, 182; vom 17. März 2009 - 1 StR 479/08, NStZ 2009, 512, 513). Nur hierdurch wird das Revisionsgericht in die Lage versetzt, nachprüfen zu können, ob der Freispruch auf rechtlich bedenkenfreien Erwägungen beruht (vgl. BGH, Urteile vom 8. Mai 2014 - 1 StR 722/13; vom 5. Februar 2013 - 1 StR 405/12, NStZ 2013, 334 [dort nicht abgedruckt]; vom 17. Mai 1990 - 4 StR 208/90, BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 4).
b) Diese Anforderungen an die Darstellung eines freisprechenden Urteils sind hier nicht erfüllt. Es wird schon nicht zusammenhängend mitgeteilt, welche Feststellungen getroffen werden konnten. Das Landgericht führt zum äußeren Tatgeschehen lediglich aus, dass es zum vaginalen Geschlechtsverkehr kam und „die Nebenklägerin - unter anderem weil es um ihren ersten Geschlechtsverkehr ging - hin- und hergerissen war und dem Angeklagten durch ihr ambivalentes Verhalten jedenfalls nicht deutlich zu verstehen gegeben hat, dass sie nicht mit ihm den Geschlechtsverkehr vollziehen wollte“ (UA S. 22). Die näheren Umstände des Geschlechtsverkehrs, die für die weitere Beweiswürdigung von erheblicher Bedeutung sind, bleiben hingegen unklar.
aa) Dies gilt insbesondere für die Frage, ob die Nebenklägerin - wie sie in mehreren Vernehmungen bekundet hat - dem Angeklagten ausdrücklich mitteilte, dass sie keinen Geschlechtsverkehr mit ihm wolle. Das angefochtene Urteil lässt auch unter Berücksichtigung des Zusammenhangs der Urteilsgründe nicht hinreichend erkennen, welches tatsächliche Geschehen das Landgericht insoweit festgestellt hat. So wird nicht deutlich, ob es letztlich angenommen hat, die Nebenklägerin habe eine solche ablehnende Äußerung gar nicht gemacht - für ein solches Verständnis sprechen die Ausführungen im Urteil, dass die Nebenklägerin dem Angeklagten „wiederholt gesagt haben will, dass sie keinen Geschlechtsverkehr wolle“ (UA S. 35 und 36) -, oder ob es davon ausgegangen ist, die Nebenklägerin habe ihre Ablehnung eines Geschlechtsverkehrs zwar geäußert, der Angeklagte habe diese Ablehnung aber nicht erkannt bzw. nicht ernst genommen. Hierfür spricht die Formulierung, dass der Angeklagte „bei dem Vollzug des Geschlechtsverkehrs auf den wiederholten Einwand der Nebenklägerin, sie wolle keinen Sex und er möge aufhören, gesagt hat, dass sie sich halt entspannen solle und dass er sie süß fände, wenn sie Angst habe“ (UA S. 35).
bb) Ebenfalls unklar bleibt, ob das Landgericht sich davon überzeugt hat, dass der Angeklagte - wie von der Nebenklägerin bekundet - zum Vollzug des vaginalen Geschlechtsverkehrs ihre Beine auseinanderdrückte, während sie vergeblich versuchte, diese zusammenzupressen. So führt die Jugendkammer einerseits aus, die von der rechtsmedizinischen Sachverständigen festgestellten körperlichen Verletzungen der Nebenklägerin - unter anderem Hautunterblutungen an beiden Oberschenkeln - seien zwar „durchaus mit den Angaben der Nebenklägerin vereinbar, der Angeklagte habe mit seinen Händen und Knien bzw. Beinen ihre Beine - die sie zusammengedrückt habe - auseinandergedrückt“, was aber gleichwohl nicht den „sicheren Rückschluss“ darauf zulasse, dass der Angeklagte den Geschlechtsverkehr gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin vollzogen habe. Andererseits legt das Landgericht dar, es gebe auch „weitere mögliche Ursachen solcher stumpfen Gewalteinwirkungen“ (UA S. 41), allerdings ohne diese näher zu erörtern. Auch im Hinblick auf das von der Nebenklägerin geschilderte Auseinanderdrücken ihrer Beine durch den Angeklagten bleibt daher offen, von welchem konkreten Geschehen das Landgericht letztlich ausgegangen ist.
c) Auf diesem Rechtsfehler beruht das Urteil. Denn die Urteilsgründe ermöglichen dem Senat nicht die Nachprüfung, auf welcher tatsächlichen Grundlage das Landgericht den Zweifelssatz angewendet hat und ob es gegebenenfalls - etwa wenn erwiesen sein sollte, dass die Nebenklägerin ihren ablehnenden Willen vor und während des Geschlechtsverkehrs äußerte und der Angeklagte zu dessen Ermöglichung ihre Beine gegen ihren Widerstand auseinanderdrückte - an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt hat.
2. Auch die Beweiswürdigung weist eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs Rechtsfehler auf. Der Generalbundesanwalt hat hierzu in seiner Antragsschrift ausgeführt:
„Die Beweiswürdigung ist zirkelschlüssig und lückenhaft.
Für die Frage, ob der Angeklagte erkannt hat, dass die Nebenklägerin mit den sexuellen Handlungen nicht einverstanden war, ist seine etwaige Äußerung, dass sie ‚Ärger‘ oder ‚Probleme‘ bekomme, falls sie ‚etwas erzählen‘ würde, von maßgeblicher Bedeutung. Gerade im Hinblick auf diese von der Nebenklägerin bekundete Erklärung des Angeklagten ist die Beweiswürdigung denkfehlerhaft. Das Landgericht bezieht sich insoweit auf eine Erwägung, die letztlich einen Kreisschluss darstellt. Es argumentiert dahingehend, dass eine Sexualstraftat nicht stattgefunden habe und es demgemäß auch keinen Anlass für einen solchen Satz seitens des Angeklagten gegeben habe (vgl. UA S. 55). Diese Überlegung ist nicht tragfähig, da sie letztlich etwas voraussetzt, was erst festgestellt werden muss.
Hinzu kommt, dass die Nebenklägerin eine solche Äußerung des Angeklagten weitgehend konstant geschildert hat (vgl. UA S. 31, 32). Gerade dieser Aspekt wird aber im Hinblick auf den Vorwurf der Sexualstraftat völlig ausgeblendet. Die Beweiswürdigung ist insoweit demgemäß auch lückenhaft, zumal die Strafkammer die bestreitende Einlassung des Angeklagten nicht als glaubhaft angesehen hat.“ Dem schließt sich der Senat an.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 335
Bearbeiter: Karsten Gaede/Sina Aaron Moslehi