HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 893
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 76/20, Beschluss v. 15.07.2020, HRRS 2020 Nr. 893
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Halle vom 29. Oktober 2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
in den Fällen II. 3 und 4 der Urteilsgründe;
im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung und wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Seine auf eine nicht ausgeführte und damit nicht in zulässiger Weise erhobene Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) sowie die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Hinsichtlich der Fälle II. 3 und 4 der Urteilsgründe besteht ein Verfahrenshindernis. Insoweit hat das Landgericht als sachlich unzuständiges Gericht entschieden.
a) Folgendes Verfahrensgeschehen liegt zugrunde:
Die Staatsanwaltschaft hatte wegen dieser beiden Taten zunächst Anklage zum Amtsgericht Halle erhoben. Am ersten Hauptverhandlungstag hat das Amtsgericht das Verfahren ausgesetzt, weil es nach vorläufiger Beweisaufnahme auch eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen räuberischer Erpressung für möglich gehalten und deshalb seine Strafgewalt als nicht ausreichend erachtet hat. Mit Beschluss vom 14. März 2019 hat es das Verfahren „gem. §§ 209 Abs. 2, 225a Abs. 1 und 2 StPO“ dem Landgericht „zur Entscheidung über die Übernahme und Verbindung zu dem dort gegen den Angeklagten anhängigen Verfahren“ vorgelegt. In den Beschlussgründen hat es unter Verweis auf das beim Landgericht anhängige Verfahren (Fälle II. 1 und 2 der Urteilsgründe) ergänzend ausgeführt, das Verfahren werde „dementsprechend dem Landgericht zwecks Verbindung gem. § 4 StPO vorgelegt“.
Mit Beschluss vom 10. April 2019 hat das Landgericht „festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Halle (…) nach § 270 Abs. 3 S. 1 StPO die Wirkung eines Eröffnungsbeschlusses für das Landgericht Halle - Strafkammer - hat und dass das Verfahren beim Landgericht Halle - Strafkammer - unmittelbar mit Erlass des Beschlusses anhängig geworden ist“. Mit Beschluss vom 16. April 2019 hat es beide Verfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Am ersten Hauptverhandlungstag hat es ausweislich der Sitzungsniederschrift neben diesem Verbindungsbeschluss festgestellt, „dass die Anklageschrift (…) gemäß §§ 209 Abs. 2, 225a Abs. 1 und 2 StPO dem LG Halle zur Entscheidung über die Übernahme und Verbindung zu dem anhängigen Verfahren (…) vorgelegt worden ist“.
b) Der Generalbundesanwalt hat hierzu in seiner Antragsschrift vom 18. Juni 2020 ausgeführt:
„Die Annahme der Strafkammer, sie sei in Folge des Beschlusses des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 14. März 2019 zuständig geworden, war rechtsfehlerhaft. Nach der verfahrensrechtlichen Situation handelte es sich um einen Vorlagebeschluss gemäß § 225a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StPO. Einen die Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung erst begründenden ausdrücklichen Übernahmebeschluss gemäß § 225a Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 StPO hat das Landgericht nicht erlassen. Ein konkludenter Übernahmebeschluss scheidet hier deshalb aus, weil die Strafkammer sich, wie der Wortlaut ihres Beschlusses vom 10. April 2019 (SA Bd. V Bl. 153) deutlich macht, an die Abgabeentscheidung des Amtsgerichts gebunden glaubte. Sie ist fehlerhaft davon ausgegangen, dass sie nur eine eingeschränkte Willkürprüfung gemäß § 270 StPO vornehmen kann und sah sich daher, da sie das Vorliegen von Willkür verneint hat, an die Verweisung des Amtsgerichts gebunden. Aus dem gleichen Grunde kommt eine schlüssige Übernahme der Sache in der von der Strafkammer durchgeführten Hauptverhandlung von vornherein nicht in Betracht, zumal darin ausweislich der Sitzungsniederschrift auch der „Abgabebeschluss“ des Amtsgerichts nicht verlesen wurde.
Der Feststellung der Unzuständigkeit des Landgerichts steht schließlich die Vorschrift des § 269 StPO nicht entgegen. Zwar liegt dieser Norm der Gedanke zugrunde, dass die Verhandlung vor einem Gericht höherer Ordnung den Angeklagten generell nicht benachteiligen kann; die Anwendbarkeit der Bestimmung setzt jedoch voraus, dass die Sache nicht mehr beim Gericht niederer Ordnung anhängig ist, sondern die Zuständigkeit des Gerichts höhere Ordnung prozessordnungsgemäß begründet wurde. Daran fehlt es hier, weshalb das Landgericht überhaupt nicht zur Sache verhandeln durfte.
Die mangelnde sachliche Zuständigkeit führt nicht zu einer Einstellung des Verfahrens, sondern zu einer Verweisung der Sache an das zuständige Gericht (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Juni 2011 - 3 StR 164/11, NStZ 2012, 46).
Die Verurteilung des Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zum Nachteil des Geschädigten M. ist daher aufzuheben. Der Senat wird die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverweisen können. Zwar ist das Verfahren, soweit es die Verstöße gegen § 223 Abs. 1 StGB betrifft, bei dem Amtsgericht Halle (Saale) anhängig geblieben. Dieses Gericht hat aber nicht nur das Hauptverfahren eröffnet, sondern die Sache auch wirksam gemäß § 225a Abs. 1 Satz 1 StPO dem Landgericht zur Übernahme vorgelegt. In diesem Stadium befindet sich das Verfahren erneut nach einer (Teil-)Aufhebung des Urteils durch den Senat. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer (§ 354 Abs. 2 StPO) wird daher zunächst gemäß § 225a Abs. 1 Satz 2 StPO über die Übernahme der Sache in den Körperverletzungsfällen zu befinden haben (vgl. BGH, Urteil vom 23. April 2015 - 4 StR 603/14, NStZ-RR 2015, 250).“
Dem schließt sich der Senat an und bemerkt ergänzend, dass aus den dargelegten Gründen auch nicht von einem die Zuständigkeit des Landgerichts begründenden (vgl. BGH, Beschluss vom 27. April 1989 - 1 StR 632/88, BGHSt 36, 175, 188 f.; Erb in Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl. § 4 Rn. 28) Verbindungsbeschluss nach § 4 Abs. 2 StPO ausgegangen werden kann; insoweit fehlt es jedenfalls an einer Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens durch die Strafkammer (vgl. BGH, Urteile vom 8. Dezember 1999 - 5 StR 32/99, 7 BGHSt 45, 342, 351; vom 5. Februar 1963 - 1 StR 265/62, BGHSt 18, 238, 239).
2. Die Aufhebung der Fälle II. 3 und 4 der Urteilsgründe zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich. Der Senat kann trotz der verbleibenden erheblichen Einzelstrafen nicht gänzlich ausschließen, dass die Strafkammer ohne die Einzelstrafen für die Fälle II. 3 und 4 auf eine niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 893
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2020, 285
Bearbeiter: Christian Becker