HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 904
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 139/20, Beschluss v. 14.07.2020, HRRS 2020 Nr. 904
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hof vom 4. März 2020 aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zu den objektiven Tatgeschehen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der Angeklagte seit einem nicht sicher feststehenden Zeitpunkt vor den abgeurteilten Taten an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie (ICD-10 F 20.0) sowie einer symptomatischen Epilepsie (ICD-10 G 40.9). Ursache der Epilepsie - womöglich auch der Schizophrenie - war ein Schlaganfall, dessen Zeitpunkt nicht bekannt ist. Anlass der Unterbringung sind folgende Taten:
Entgegen einem ihm jeweils erteilten Hausverbot hielt sich der Angeklagte am 2. Februar und 27. April 2018 in den Räumen der Agentur für Arbeit in H auf, am 30. Januar und 4. Mai 2018 im „Jobcenter“ H. sowie am 30. April und 9. Mai 2019 in den Räumlichkeiten der AOK in H. (Fälle 1 bis 4 und 6). Anlässlich der Tat am 30. Januar 2018 äußerte er gegenüber einem Mitarbeiter „Halt dein Maul!“, um seine Missachtung zum Ausdruck zu bringen (Fall 2).
Am 10. Oktober 2018 war dem Angeklagten für eine Jugendherberge in H ein Hausverbot erteilt worden. Da der Angeklagte die Räumlichkeiten der Jugendherberge gleichwohl erneut betreten hatte, forderten die uniformierten Polizeibeamten G., W., Wü., K., H. und P. den Angeklagten zum Verlassen des Grundstücks auf und brachten ihn aus dem Gebäude. Da Grund zu der Annahme bestand, dass der Angeklagte sich abermals in die Jugendherberge begeben werde, erklärte ihm W., dass er in Gewahrsam genommen und zur Eigensicherung durchsucht werden müsse. Als W. und Wü. zu diesem Zweck versuchten, an die Kleidung des Angeklagten zu gelangen, wehrte der Angeklagte dies mit seinen Händen ab. Daraufhin wurde ihm angedroht, dass er unter Anwendung unmittelbaren Zwangs zum Zweck der Durchsuchung auf den Boden gelegt werden müsse. Der Angeklagte leistete jedoch weiterhin Widerstand, so dass er von K., Wü., W . und G. zu Boden gebracht werden musste. Als der Angeklagte zu Boden ging, drehte er seinen rechten, von G. festgehaltenen Arm nach links weg, so dass dessen rechtes Handgelenk verdreht wurde. Der Angeklagte versuchte, sich der Maßnahme der ihn fixierenden Polizeibeamten durch ständiges Hin- und Herwinden zu erwehren und insbesondere dem Griff von W. zu entkommen, indem er diesem in die linke Hand biss. G. erlitt Schmerzen und Verletzungen am rechten Handgelenk, W. zog sich Abschürfungen und Prellungen an beiden Knien sowie Schmerzen und Verletzungen an seiner linken Hand zu (Fall 5).
2. Die Strafkammer hat die Taten als Hausfriedensbruch (§ 123 Abs. 1 StGB) in fünf Fällen, als Beleidigung (§ 185 StGB) sowie als tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte (§ 114 Abs. 1 StGB) in vier tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 Abs. 1 StGB) und mit Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) in zwei tateinheitlichen Fällen gewertet. Sachverständig beraten ist sie zu der Überzeugung gelangt, dass die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten infolge seiner psychischen Erkrankung bei der Tatbegehung jeweils aufgehoben war (§ 20 StGB).
Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) hält rechtlicher Prüfung nicht stand.
1. Die Voraussetzungen der §§ 20, 63 StGB sind schon deshalb nicht belegt, weil das Landgericht keine hinreichenden Feststellungen zur jeweiligen subjektiven Tatseite getroffen hat. Die Strafkammer hat, dem Gutachten des Sachverständigen folgend, angenommen, dass der Angeklagte aufgrund seiner Erkrankung zu Beeinträchtigungsideen neige; er leide teilweise an Halluzinationen und fühle sich angegriffen oder verfolgt. Aufgrund einer ebenfalls krankheitsbedingten Beeinträchtigung seiner kognitiven Fähigkeiten könne er die Situation nicht erfassen, seine Stimmung schlage um „hin zu gereizt und aggressiv“ (UA S. 25).
Den Urteilsgründen lässt sich indes nicht entnehmen, dass die psychische Erkrankung bei den einzelnen Taten Auswirkungen auf die Einsichtsfähigkeit des Angeklagten hatte. Näheres zu den inneren Vorgängen im Einzelfall ergibt sich weder aus den Feststellungen noch aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe.
2. Auch die Gefährlichkeitsprognose begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 Satz 1 StGB kommt als außerordentlich beschwerende Maßnahme nur dann in Betracht, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind. Zudem ist eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung solcher Taten erforderlich. Die Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat zu stellen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 22. Mai 2019 - 5 StR 683/18 Rn. 15 mwN).
b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht.
Die Ausführungen der Strafkammer lassen zunächst besorgen, dass sie von einem unzutreffenden Prüfungsmaßstab ausgegangen ist und insbesondere auch die abgeurteilten Taten des Hausfriedensbruchs (§ 123 Abs. 1 StGB) sowie der Beleidigung (§ 185 StGB) dem Bereich mittlerer Kriminalität zugeordnet hat. Sie hat im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose maßgeblich darauf abgestellt, dass auch künftig „mit Straftaten vergleichbar den Anlasstaten“ zu rechnen sei (UA S. 27). Es sei „mit Bedrohungen, Beleidigungen, Handlungen des Hausfriedensbruchs und Widerstandshandlungen gegen Vollstreckungsbeamte“ zu rechnen, „die auch in der Intensität im Vergleich zu den bisherigen Delikten durch Wehren des Angeklagten etwa mit ihm zur Verfügung stehenden Gegenständen zunehmen“ könnten; es stehe „eine vehemente Verteidigung durch massive Gewalttaten auch unter Bedienung von Gegenständen im Raum“ (UA S. 27).
Diese Annahme belegt schon keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung erheblicher rechtswidriger Taten. Sie wird zudem von den Urteilsgründen nicht getragen. Danach ist die von dem Sachverständigen diagnostizierte Schizophrenie des Angeklagten „mutmaßlich über viele Jahre“ fortgeschritten (UA S. 24). Gleichwohl ist der 47 Jahre alte Angeklagte, der in Nigeria geboren und aufgewachsen ist und seit Jahren in Deutschland lebt, strafrechtlich bislang nicht durch gravierende Gewalttaten in Erscheinung getreten, sondern lange Zeit straflos geblieben.
Seinen Verurteilungen wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in den Jahren 2001, 2003 und 2016 lag jeweils zugrunde, dass der Angeklagte sich geweigert hatte, sich Handfesseln anlegen bzw. festnehmen zu lassen. Er hatte herumgeschrien sowie um sich geschlagen und getreten, so dass er von mehreren Polizeibeamten hatte überwältigt werden müssen. In dem der Verurteilung im Jahr 2016 zugrundeliegenden Fall hatte er zudem mit einem Gehstock „in Richtung der Beamten gewedelt“. Vor diesem Hintergrund erschließt sich nicht, dass künftig mit „massiven Gewalttaten“ des Angeklagten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB zu rechnen sein soll.
Schließlich hat die Strafkammer im Zusammenhang mit der Frage, ob die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus erforderlich ist, nicht bedacht, dass der Angeklagte seit November 2018 in einem Bezirksklinikum erfolgreich behandelt wird. Nach den Ausführungen des auch insoweit dem Sachverständigen folgenden Landgerichts ist die notwendige Behandlung des Angeklagten schon „durch die bereits vollzogene betreuungsrechtliche Unterbringung“ im Bezirkskrankenhaus „gewährleistet“ (UA S. 28).
3. Über die Anordnung der Maßregel ist deshalb erneut zu entscheiden. Die Aufhebung der Unterbringungsanordnung zieht im Hinblick auf § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO die Aufhebung des Freispruchs nach sich (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2017 - 5 StR 432/17 Rn. 24 mwN).
Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu den objektiven Tatgeschehen können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, sofern diese den aufrechterhaltenen nicht widersprechen.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 904
Bearbeiter: Christian Becker