Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 139/95, Beschluss v. 18.05.1995, HRRS-Datenbank, Rn. X
1. Auf die Revision des Angeklagten F. wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 23. August 1994
a) soweit es den Angeklagten F. betrifft, in vollem Umfang,
b) soweit es den Mitangeklagten B. betrifft, im Strafausspruch nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben.
2. Der Angeklagte F. wird freigesprochen.
Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens gegen diesen Angeklagten und die ihm entstandenen notwendigen Auslagen.
3. Zur erneuten Straffestsetzung gegen den Angeklagten B. wird die Sache an eine Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Beschwerdeführer und den Mitangeklagten B. wegen gemeinschaftlich versuchten Totschlages verurteilt. Es hat gegen den Beschwerdeführer eine Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten verhängt und die Vollstreckung dieser Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Gegen den Mitangeklagten ist eine ebenfalls zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verhängt worden. Die Sachrüge des Beschwerdeführers führt zur Aufhebung seiner Verurteilung. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, gemäß § 357 StPO die gegen den Mitangeklagten B. verhängte Strafe aufzuheben.
1. In den frühen Morgenstunden des 12. Oktober 1961 wurde von einer Streife der damals zur Grenzkontrolle eingesetzten Transportpolizei der DDR auf zwei junge Ostberliner, die Zeugen E. und G., geschossen, die an der Grenze zwischen den Bezirken Treptow und Neukölln gemeinsam den Westteil Berlins erreichen wollten. Postenführer war der Mitangeklagte B., der kein Rechtsmittel eingelegt hat. Der Beschwerdeführer, damals noch nicht ganz 21 Jahre alt und Oberwachtmeister, gehörte mit dem später verstorbenen S. und einem Hundeführer zu der Postengruppe. Er war mit einer alten Maschinenpistole sowjetischer Bauart ausgerüstet, die eine vergleichsweise große Streuung aufwies und die Eigenart hatte, trotz Einstellung auf Einzelfeuer beim Schießen auf Dauerfeuer umzuschalten.
In "raschester Abfolge" ereignete sich folgendes: Die beiden Flüchtlinge wurden in unmittelbarer Nähe des Grenzzaunes entdeckt und zum Stehenbleiben aufgefordert. Auf Warnschüsse des Postenführers reagierten sie nicht. Aus einer Entfernung von höchstens 100 Metern gaben B. und S. mehrere Feuerstöße auf den Zeugen E. ab, wobei sie die Beine anvisierten, aber erkannten und in Kauf nahmen, daß sie den Flüchtling tödlich verwunden konnten. Einer dieser Schüsse traf den Zeugen E., der schwerverletzt liegen blieb. Dem Urteil ist nicht zu entnehmen, daß der Beschwerdeführer auf E. geschossen oder sonst auf die Schüsse hingewirkt hat, die auf E. abgegeben worden sind.
Der Zeuge G., der auf dem Boden gelegen hatte, war zur selben Zeit aufgesprungen. Er lief in Richtung auf ein Treptower Laubengelände "zurück". Der Beschwerdeführer bemerkte das und schoß stehend aus seiner angelegten Maschinenpistole mit kurzen Feuerstößen auf G.; er verschoß insgesamt sechs oder sieben Geschosse. Diese schlugen unmittelbar hinter dem "hakenschlagend" laufenden G. in den Boden ein, bis G. in dem Laubengelände verschwand; er ist nicht getroffen worden. In den Urteilsgründen heißt es, der Beschwerdeführer habe billigend in Kauf genommen, daß G. durch die Schüsse getötet werden konnte.
Der Beschwerdeführer bestreitet, gezielt auf G. geschossen zu haben. Er will nur einen einzigen Schuß abgegeben und diesen fast senkrecht vor sich in den Erdboden gefeuert haben. Das hält das Landgericht für widerlegt: Die Einlassung des Beschwerdeführers sei in sich unstimmig. Denn der Beschwerdeführer habe auf Fragen erklärt, der Schuß sei "schon in Richtung der Person" gegangen; er habe "seinen Anteil daran haben wollen, daß G. nicht durchkommt", und "seine Dienstpflicht ordentlich erfüllen wollen". Die Jugendkammer stützt sich ferner auf die Aussage des Zeugen G.. Dieser hat, wie er berichtet, gespürt und gehört, daß Feuerstöße aus einer Maschinenpistole hinter ihm in den Sandboden einschlugen; einen einzelnen, von den sonstigen Schüssen abgehobenen Schuß hat er nicht wahrgenommen. Das Landgericht beruft sich auch auf die nach dem Vorfall erstattete "Verschußmeldung", nach der aus der Waffe des Beschwerdeführers insgesamt sechs bis sieben Schüsse abgegeben worden sind. Daß B. die Feuerstöße in Richtung auf G. abgegeben hat, kommt nach Auffassung der Jugendkammer angesichts der Einlassung der beiden Angeklagten nicht in Betracht. Danach hatte sich B. auf den Flüchtling E. konzentriert, während der Beschwerdeführer ausschließlich die Bewegung des anderen Flüchtlings (G.) beobachtet hat. Die Jugendkammer rechnet indessen die von dem Mitangeklagten B. auf den Zeugen E. abgegebenen Schüsse auch dem Beschwerdeführer zu: Es habe sich um einen gemeinsamen Totschlagsversuch gehandelt, weil beide Angeklagten beide Flüchtlinge an der Flucht hindern wollten und weil ihre Tatbeiträge sich arbeitsteilig ergänzten.
Der Schuldspruch gegen den Beschwerdeführer war aus sachlichrechtlichen Gründen aufzuheben.
1. Die Einlassung des Beschwerdeführers, er habe absichtlich so geschossen, daß G. nicht tödlich getroffen werden konnte, widerlegt der Tatrichter nicht in tragfähiger Weise. Die vom Beschwerdeführer abgegebenen Geschosse haben G. nicht getroffen. Zwar hat der Tatrichter die Behauptung des Beschwerdeführer, er habe nur einen Schuß abgegeben, der fast senkrecht in den Boden ging, rechtsfehlerfrei widerlegt. Damit ist aber nicht dargetan, daß der Beschwerdeführer sein Dauerfeuer mit bedingtem Tötungsvorsatz geschossen hat. Der Zeuge G. hat zwar berichtet, daß die Feuerstöße "unmittelbar hinter ihm" eingeschlagen seien (UA S. 16). Daraus folgt aber noch nicht, daß der Beschwerdeführer mit bedingtem Tötungsvorsatz geschossen hat. Er kann, um nach außen hin am Schießen Anteil zu haben und den Eindruck der Pflichterfüllung zu erwecken, Feuerstöße, die in der Nähe des Flüchtlings aufschlugen, abgegeben und als "vergleichsweise guter Schütze" (UA S. 9) doch darauf vertraut haben, daß er den weglaufenden Mann nicht oder jedenfalls nicht tödlich traf. Damit hat sich der Tatrichter nicht auseinandergesetzt. Der Umstand, daß der Beschwerdeführer bewußt falsche Angaben zu seinem Schießverhalten gemacht hat, ist hier nicht geeignet, seinen Tötungsvorsatz zu belegen.
2. Die Schüsse, die von dem Mitangeklagten B. oder von S. auf den Flüchtling E. abgegeben worden sind, können dem Beschwerdeführer nicht im Sinne der Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) zugerechnet werden. Zwar hat der Beschwerdeführer zu Beginn des Geschehens ersichtlich auch den Zeugen E. gesehen. Die Feststellungen ergeben aber nicht, daß zwischen ihm und den anderen Transportpolizisten eine ausdrückliche oder stillschweigende Verständigung herbeigeführt worden ist oder bestand, wonach seine Schüsse auf den einen Flüchtling (G.) die von den anderen Transportpolizisten abgefeuerten Schüsse auf den anderen Flüchtling (E.) fördern sollten. Ein solches arbeitsteiliges Zusammenwirken wäre möglicherweise in Betracht gekommen, wenn sich E. und G. bei dem Versuch, den Schüssen der Transportpolizisten zu entkommen, gegenseitig geholfen hätten oder wenn die Schüsse auf den einen Flüchtling auch die Bewegungsfreiheit und damit die Chancen des anderen Flüchtlings vermindert hätten. So verhielt es sich hier nicht. Der Zeuge G. hatte sich, als er die Entdeckung des Fluchtversuchs erkannt hatte, sogleich von dem Zeugen E. entfernt, indem er in Richtung der Laubenkolonie lief. Bei dieser Sachlage haben sich die Tatbeiträge der beiden Schützen nicht im Hinblick auf die Verwirklichung des Totschlagstatbestandes ergänzt. Die bloße Zugehörigkeit zu der Postengruppe begründete nicht die Mittäterschaft des Beschwerdeführers hinsichtlich der Schüsse auf E., die von anderen Angehörigen der Postengruppe abgegeben wurden.
Die Verhältnisse, unter denen der Senat in anderen Entscheidungen bei gleichzeitigem Schußwaffengebrauch mehrerer Grenzposten Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB, § 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR) angenommen hat (BGHSt 39, 1, 30; BGHSt 40, 241 ff - Abschnitt III 1 b = NJW 1994, 2708; BGH Urteil vom 20. März 1995 - 5 StR 111/94 -, zum Abdruck in BGHSt vorgesehen; vgl. auch BGHSt 39, 168, 194), unterscheiden sich von den hier festgestellten Umständen: In den Fällen, auf die sich die bisherigen Entscheidungen beziehen, hatten mehrere Soldaten koordiniert auf denselben Flüchtling oder auf eng beieinander befindliche Flüchtlinge geschossen.
3. Die Besonderheit des vorliegenden Falles veranlaßt den Senat, den sachlichrechtlichen Mangel, der die Aufhebung des Schuldspruchs notwendig macht, nicht zum Anlaß einer Zurückverweisung zu nehmen, sondern den Beschwerdeführer gemäß § 354 Abs. 1 StPO freizusprechen. Angesichts der besonderen Beweislage bei der mehr als 33 Jahre zurückliegenden Tat und mit Rücksicht darauf, daß die von dem Beschwerdeführer abgefeuerten Geschosse nicht getroffen haben, hält der Senat es für ausgeschlossen, daß eine neue Hauptverhandlung zu Feststellungen führt, die einen (bedingten) Tötungsvorsatz des Beschwerdeführers hinreichend belegen könnten.
Der die Anwendung des § 25 Abs. 2 StGB betreffende Rechtsfehler betrifft auch den Mitangeklagten B., der keine Revision eingelegt hat. Das Landgericht hat diesem Angeklagten auch die Schüsse, die der Beschwerdeführer auf den Zeugen G. abgegeben hat, zugerechnet (UA S. 20). Das ist nach den vorstehend zu II 2 bezeichneten Grundsätzen rechtsfehlerhaft. Der Schuldspruch gegen den Angeklagten B. bleibt hiervon unberührt. Wegen der Verminderung des Schuldumfanges ist aber nach § 357 StPO der Strafausspruch gegen den Mitangeklagten B. aufzuheben.
Externe Fundstellen: BGHSt 41, 149; NJW 1995, 2998; NStZ 1995, 497
Bearbeiter: Rocco Beck