Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 111/94, Urteil v. 20.03.1995, HRRS-Datenbank, Rn. X
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 29. September 1993 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Die Revision des Angeklagten ist nicht begründet.
Die Verurteilung bezieht sich auf den Tod des siebzehn Jahre alten Axel H., der am Nachmittag des 5. Juni 1962 in der Spree erschossen worden ist, als er versuchte, den Westteil von Berlin schwimmend zu erreichen.
Der Angeklagte, der damals einundzwanzig Jahre alt war, gehörte als Gefreiter einer Grenzbrigade der DDR an, die seinerzeit dem Innenministerium unterstand. Er war zusammen mit seinem - inzwischen verstorbenen - Postenführer östlich des Reichstagsgebäudes am linken Spreeufer an einem Flußabschnitt eingesetzt, der dem Bezirk Mitte von Berlin (sowjetischer Sektor) zugerechnet wurde, während etwas weiter flußabwärts das linke Ufer zum Bezirk Tiergarten (britischer Sektor) gehörte. Der täglich bei Dienstbeginn mitgeteilte "Kampfauftrag" besagte, daß Grenzverletzer, die nicht auf Anruf und Warnschuß reagierten, zu "vernichten" seien, die Flucht in den Westen also notfalls durch gezielte tödliche Schüsse verhindert werden müsse. Als die beiden Posten den flußabwärts schwimmenden Axel H. entdeckt hatten, wies der Postenführer den Angeklagten an, auf den Schwimmer zu schießen, wenn dieser nicht auf Warnschüsse des Postenführers reagiere; die Flucht müsse auf jeden Fall verhindert, der Flüchtling notfalls erschossen werden. H. reagierte nicht auf den Anruf und Warnschuß des Postenführers, der sich nahe an das Wasser begeben hatte. Sodann gab der Postenführer einen ersten gezielten Schuß auf den Schwimmer ab. Der Angeklagte schoß sodann aus einer Entfernung von 25 m zweimal mit seiner Kalaschnikow - Maschinenpistole. "Dabei hielt er die Waffe leicht rechts neben den Kopf des Opfers dergestalt, daß die rechte Kopfpartie gerade noch links im Visier war ... Der Angeklagte wollte dabei dem ihm erteilten Befehl, die Flucht auch um den Preis des Todes des Flüchtlings zu verhindern, zwar nicht in letzter Konsequenz Folge leisten und H. direkt töten. Dennoch fühlte er sich an die Befehlslage gebunden und nahm billigend in Kauf, daß der Schwimmer auch durch einen seiner Schüsse getötet werden könnte". H. wurde von den Schüssen des Angeklagten nicht getroffen. Während der Angeklagte schoß, gab der Postenführer einen weiteren Zielschuß ab. Kurz darauf schoß der Postenführer zum dritten Mal gezielt. Dieser Schuß traf den Kopf des Schwimmers tödlich.
In einem Bericht des Stabschefs der Grenzabteilung an das Innenministerium wurden die Handlungen der beiden Grenzposten als "taktisch richtig und zweckmäßig" bezeichnet; der Angeklagte wurde drei Tage später mit einer Medaille für vorbildlichen Grenzdienst ausgezeichnet.
Der Angeklagte hat sich damit verteidigt, er habe "bei der geschilderten Visierstellung zum Kopf des Opfers auf jeden Fall einen halben bis einen Meter neben den Kopf des Schwimmers geschossen und ihn daher - wie von ihm beabsichtigt - auch weder verletzen noch gar töten können". Demgegenüber folgert das Landgericht aus den Umständen, daß dem Angeklagten "bei der von ihm gewählten Anvisierung" die Möglichkeit eines Treffers am Kopf des Schwimmers "klar" gewesen ist und daß der Angeklagte den Tod billigend in Kauf genommen hat. Nach Auffassung des Tatrichters ist das Schießen auf einen Schwimmer, bei dem nur der Kopf als Zielpunkt in Betracht kommt, stets in besonderem Maße mit Lebensgefahr verbunden. Nach Anhörung eines Waffensachverständigen ist der Tatrichter zu der Überzeugung gekommen, daß bei einer Entfernung von 25 m "bei Anvisierung über Kimme und Korn der Seitenabstand zu einem gerade noch am linken Rand des Visiers sichtbaren Ziel lediglich 30, höchstens 40 cm beträgt", während im Polizeidienst ein seitlicher Winkel von mindestens 30 Grad für erforderlich gehalten werde, um das "Ziel" nicht zu gefährden; auch sei es wegen des Eigengewichts der Waffe, die bei jedem Schuß leicht nach rechts seitlich ausweiche, erforderlich gewesen, das Ziel beim zweiten Schuß erneut anzuvisieren, wobei die Aufregung des Schützen und die Bewegungen des Opfers die Zielgenauigkeit stark beeinflußt hätten. Hiernach habe der Angeklagte es dem Zufall überlassen, ob seine Schüsse den Kopf des Schwimmers trafen oder nicht. Daß sich der Angeklagte innerlich damit abgefunden hat, durch sein der Befehlslage entsprechendes Schießen den Flüchtling zu töten, entnimmt der Tatrichter der Zielsetzung des Angeklagten, dem Befehl, eine Flucht notfalls durch Tötung zu unterbinden, Folge zu leisten, "wenn auch nicht in letzter Konsequenz".
Den tödlichen Schuß des Postenführers muß sich der Angeklagte nach Auffassung des Landgerichts als Mittäter zurechnen lassen; auch hätten die Schüsse des Angeklagten ihrerseits zur Fluchtverhinderung beigetragen.
Zur Tatzeit gab es in der DDR kein formelles Gesetz, das ausdrücklich den Schußwaffengebrauch an der Grenze regelte. Das angefochtene Urteil nennt die "Dienstvorschrift für den Dienst der Grenzposten DV III/2" vom 12. September 1958 sowie den "Befehl des Ministers des Innern Nr. 39/60 i.d.F. vom 28. Juni 1960, 26. August 1961 und 19. März 1962". In der am 19. März 1962 vom Innenminister erlassenen Durchführungs-Anweisung Nr. 2 zum Befehl Nr. 39/60 ist der Schußwaffengebrauch gegen Personen vorgesehen, die auf den Anruf der Grenzposten oder nach Abgabe eines Warnschusses "nicht stehenbleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze ... zu verletzen", und bei denen "keine andere Möglichkeit zur Festnahme besteht" (Nr. 2c). Daß dieser Befehl einen Rechtfertigungsgrund dargestellt hat, verneint das Landgericht mit der Begründung, nach der damals geltenden Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 habe Auswanderungsfreiheit bestanden, die nur durch Gesetz eingeschränkt werden konnte (Art. 10 Abs. 3 der Verfassung); die Strafvorschrift gegen ungenehmigtes Verlassen der DDR nach § 8 des Paßgesetzes vom 15. September 1954 i.d.F. vom 11. Dezember 1957 (GBl. - DDR I S. 650) habe keine Rechtsgrundlage für Schüsse mit Tötungsvorsatz enthalten. Auch habe "die durch kein formelles Gesetz sanktionierte Befehlslage, die zur Tatzeit bestand ..., offensichtlich in grober Weise gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit" verstoßen; sie sei deswegen unbeachtlich. Der Angeklagte sei auch nicht entschuldigt, etwa in entsprechender Anwendung des § 5 Abs. 1 WStG: Möglicherweise habe er nicht positiv erkannt, daß er einem rechtswidrigen Befehl folgte; nach den ihm bekannten Umständen sei indessen offensichtlich gewesen, daß das anbefohlene Verhalten rechtswidrig war. In diesem Zusammenhang führt der Tatrichter aus: Es sei den Grenzposten möglich gewesen, weitere Warnschüsse abzugeben oder "gar" Sperrfeuer vor den Schwimmer zu legen; auch sei der Angeklagte in der Lage gewesen, bis zum Grenzzaun - der Schwimmer hatte bis zum Erreichen der Grenze noch 120 m bis 130 m zurückzulegen - vorzulaufen und dort durch erneutes Anrufen und durch Warnschüsse zu versuchen, den Flüchtling zum zurückschwimmen zu zwingen. Auch hätten die Posten abwarten können, ob, durch die Warnschüsse aufmerksam geworden, Boote der Wasserschutzpolizei und des Zolls eingriffen. Der Tatrichter bemerkt schließlich, daß der Angeklagte nach eigenem Bekunden durchaus Zweifel an der Berechtigung von Mauer und Schießbefehl gehabt und Mitleid mit Flüchtlingen empfunden habe. Ein Verbotsirrtum im Sinne der Vorstellung, man müsse zur Fluchtverhinderung auch rechtswidrigen Befehlen folgen, sei nach § 17 Abs. 2 StGB vermeidbar gewesen.
Das Landgericht hat den Strafrahmen des § 213 StGB zugrunde gelegt. Bei der Bemessung der Strafe ist zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt worden, daß ein "absolut hilfloser junger Mensch" bei seinem offensichtlich spontanen Fluchtversuch "geradezu abgeschossen wurde"; zugunsten des Angeklagten sind der weite zeitliche Abstand zwischen Tat und Aburteilung und die Stellung des Angeklagten als letztes Glied in der Befehlskette ins Gewicht gefallen, ferner der Umstand, daß der Flüchtling auch umgekommen wäre, "wenn der Angeklagte nicht mitgeschossen hätte, weil der Postenführer ohnehin entschlossen war, den Flüchtling zu töten".
Die Strafverfolgung ist nicht verjährt. In der DDR hat die Verfolgungsverjährung nach den Grundsätzen des Senatsurteils vom 12. April 1994 (BGHSt 40, 113, 116 ff; vgl. auch BGHSt 40, 48) während der SED - Herrschaft wegen eines quasigesetzlichen Verfolgungshindernisses geruht; denn nach der Staatspraxis der DDR, die mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar war, sind Schüsse an den innerdeutschen Grenzen, mit denen Grenzverletzungen verhindert werden sollten, generell nicht geahndet worden. Dem entspricht die deklaratorische Bestimmung des Art. 1 des Gesetzes über das Ruhen der Verjährung bei SED - Unrechtstaten vom 26. März 1993 (BGBl. I S. 392). Daß es sich bei dem Angeklagten nicht, wie in den in BGHSt 40, 48 ff., 113 ff. entschiedenen Fällen, um einen Soldaten der in die NVA eingegliederten Grenztruppen gehandelt hat, steht der Anwendung der genannten Grundsätze nicht entgegen. Die Grenzbrigaden, die zunächst dem Innenministerium der DDR unterstellt waren und, soweit sie an der Grenze zu Berlin (West) eingesetzt waren, erst mit Wirkung vom 23. August 1962 in die NVA überführt worden sind (Lapp, Frontdienst im Frieden - Die Grenztruppen der DDR, 1987, S. 25, 28), versahen dieselben Aufgaben wie die Grenztruppen der NVA; die Staatspraxis unterschied sich im Hinblick auf den Schußwaffengebrauch nicht von den in BGHSt 40, 113 ff. gekennzeichneten Verhältnissen.
Die Verfahrensrügen des Angeklagten sind unbegründet. Insbesondere ist ein Verstoß gegen § 261 StPO nicht dargetan. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß das Landgericht den Inhalt der Einlassung und der vom Verteidiger in der Hauptverhandlung verlesenen Erklärung des Angeklagten vernachlässigt oder unrichtig ausgelegt hat.
Das Urteil hält auch der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand.
Das Landgericht hat zutreffend einen gemeinschaftlichen vollendeten Totschlag, begangen mit dem bedingten Vorsatz der Tötung, angenommen. Daß nur der Schuß des Postenführers den Flüchtling getroffen hat, steht dieser Annahme nicht entgegen; es handelt sich bei den Schüssen des Angeklagten insbesondere nicht etwa nur um einen Versuch des Totschlages. Der Senat verweist auf seine Ausführungen in BGHSt 39, 1, 30 ff. Im vorliegen den Fall haben sowohl der Angeklagte als auch sein Postenführer auf den schwimmenden Flüchtling geschossen. Der Angeklagte wollte, wenn auch innerlich widerstrebend, dem Befehl entsprechen, auf Flüchtlinge zu schießen, die auf Anruf und Warnschuß nicht reagieren. Er faßte die Befehlslage dahin auf, daß eine Flucht "auch um den Preis des Todes des Flüchtlings" verhindert werden müsse. In diesem Sinne hatte der Postenführer ihn nochmals instruiert, als der Fluchtversuch des Schwimmers erkennbar wurde. Der Angeklagte hat dem Postenführer nicht etwa widersprochen; vielmehr fühlte er sich "an die Befehlslage gebunden". Daß der Angeklagte den Tod des Flüchtlings in seinen bedingten Vorsatz aufgenommen hat, hat der Tatrichter ohne Rechtsfehler aufgrund der vom Angeklagten geschilderten Visierstellung und aufgrund der vom Angeklagten empfundenen Bindung an den Befehl angenommen. Dem widerspricht nicht, daß in den Feststellungen auch gesagt wird, der Angeklagte habe dem Befehl "nicht in letzter Konsequenz" folgen wollen. Damit ist nur gemeint, daß der Angeklagte bei der Befehlsbefolgung nicht bis zur direkt vorsätzlichen oder absichtlichen Tötung gehen wollte. Ersichtlich hatte der Postenführer einen direkten Tötungsvorsatz. Eine gemeinschaftliche Tatbegehung ist auch in der Form möglich, daß der eine Mittäter mit direktem, der andere dagegen nur mit bedingtem Tötungsvorsatz handelt. Allerdings sind beim bedingtem Vorsatz an die Gemeinschaftlichkeit der Tatbegehung (§ 25 Abs. 2 StGB) hohe Anforderungen zu stellen (BGHSt 39, 1, 31). Diesen Anforderungen genügt jedoch das angefochtene Urteil.
Der Schußwaffengebrauch durch die beiden Posten stellte sich als arbeitsteiliges Vorgehen dar, bei dem der Tatbeitrag des Angeklagten denjenigen des Postenführers ergänzte. Der Postenführer konnte sich, wie der Angeklagte wußte, darauf verlassen, daß sein Schießen durch das befehlsgemäße Verhalten des Angeklagten in der Wirkung verstärkt werden würde. Schon deswegen muß sich der Angeklagte den tödlichen Schuß des Postenführers zurechnen lassen. Überdies hat das Schießen aus zwei Schußwaffen die Fluchtbewegung des Schwimmers, wie sich von selbst versteht, objektiv erschwert. Die Schüsse des Angeklagten waren unter diesen Umständen, wie bei der Auslegung des § 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB - DDR vorausgesetzt wurde, geeignet, den Tod des Opfers herbeizuführen: Daß der Postenführer, wie es in den Strafzumessungsgründen heißt, den Flüchtling auch ohne Mitwirkung des Angeklagten erschossen hätte, steht dem nicht im Wege.
Die Annahme des Tatrichters, daß der Angeklagte rechtswidrig gehandelt hat, hält im Ergebnis der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand.
1. Allerdings kann dem Tatrichter nicht gefolgt werden, soweit er annimmt, die Rechtswidrigkeit der tödlichen Schüsse ergebe sich schon daraus, daß es in der DDR zur Tatzeit - vor dem Inkrafttreten des Grenzgesetzes von 1982 - keine gesetzliche Grundlage für den tödlich wirkenden Schußwaffengebrauch gegeben habe und daß der vom Angeklagten befolgte Befehl gegen die Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 (GBl. - DDR S. 4), insbesondere gegen die dort unter Gesetzesvorbehalt verbriefte Ausreisefreiheit (Art. 10 Abs. 3), verstoßen habe. Eine solche Betrachtungsweise ist an dem rechtsstaatlichen Modell orientiert, nach dem in Grundrechte - maßgeblich wäre in erster Linie das in Art. 8 der Verfassung der DDR (1949) implizierte Recht auf Leben - nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur in den von der Verfassung aufgezählten Fällen eingegriffen werden darf. Wie der Senat in seinem Urteil vom 26. Juli 1994 - 5 StR 167/94 - (NJW 1994, 2708, 2709; zum Abdruck in BGHSt 40, 241 bestimmt) angedeutet hat, sind in der DDR möglicherweise die vom Tatrichter erwähnten Befehle des Innenministers als eine ausreichende formelle Rechtsgrundlage für den Schußwaffengebrauch angesehen worden. Dabei mag die Vorstellung eine Rolle gespielt haben, daß die von der Verfassung vorausgesetzte Existenz von Polizei und Grenzsicherungsaufgaben die Befugnis der dafür zuständigen Staatsorgane einschloß, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nach Maßgabe innerdienstlicher Vorschriften Schußwaffen einzusetzen. Dafür spricht, daß schon während der Geltung der in ihrem Wortlaut vielfach an rechtsstaatliche Verfassungstexte angelehnten Verfassung von 1949 das Prinzip der Gewaltenteilung in den Hintergrund getreten und der Gesetzesbegriff allmählich aufgelöst worden ist (zum damaligen Streitstand siehe einerseits - noch im Sinne rechtsstaatlicher Tradition - Such in: Festschrift für Erwin Jacobi, 1957, S. 22 ff. sowie Bönninger ebenda S. 333 ff., andererseits die massive Kritik an solchen Positionen in dem Protokollheft "Staats - und Rechtswissenschaftliche Konferenz in Babelsberg", 1958; aus der Zeit nach der Einführung der Verfassung von 1968/1974 vgl. ferner Riemann, Staat und Recht 1976, 1291; Joseph, Staat und Recht 1973, 1875; Bley/Dähn, Staat und Recht 1973, 1730 ff. und, im Rückblick, Friedrich Wolff in: Lampe <Hrsg.>, Die Verfolgung von Regierungs - Kriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993, S. 67, 71). Der Senat geht hiernach nicht davon aus, daß zur Tatzeit Ansatzpunkte für die Prüfung eines - auch durch Befehle begründeten - Rechtfertigungsgrundes fehlten.
2. Die am 19. März 1962 erlassene Durchführungsanweisung Nr. 2 des Innenministers der DDR zum Befehl Nr. 39/60 verpflichtete die Posten der Grenzbrigaden, an der Berliner Grenze die Schußwaffe "zur Festnahme von Personen" zu gebrauchen, die auch nach einem Warnschuß "offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der DDR zu verletzen", sofern "keine andere Möglichkeit zur Festnahme besteht". Die mit bedingtem Tötungsvorsatz abgegebenen Schüsse des Angeklagten auf den schwimmenden Flüchtling entsprachen der Zielsetzung dieses Befehls. Die Erläuterung des Befehls durch den täglich wiederholten und ersichtlich dem Willen des Befehlsgebers entsprechenden (vgl. BGHSt 39, 168, 186 ff.) "Kampfauftrag" besagte, daß eine Flucht in jedem Falle, notfalls durch tödliche Schüsse, zu verhindern war (UA S. 4). Im Hinblick auf das Ziel, Grenzübertritte zu verhindern, galt bei dieser Interpretation die Tötung (und anschließende Bergung) des Flüchtlings als eine Art der im Befehl des Ministers bezeichneten "Festnahme". Der Angeklagte hat demnach nicht die Grenzen des so zu verstehenden Befehls überschritten.
3. Hiernach käme der Befehl, obwohl er keine ausdrückliche gesetzliche Grundlage im Recht der DDR hatte, als Rechtfertigungsgrund in Frage, wenn sein Inhalt, so wie er dem Angeklagten vermittelt worden ist, hingenommen werden könnte. Das ist indessen nicht der Fall.
a) Der Senat hat in seinen Entscheidungen BGHSt 39, 1 ff. und BGHSt 39, 168 ff. (vgl. auch das Senatsurteil vom 26. Juli 1994 - 5 StR 98/94 = NJW 1994, 2703, zum Abdruck in BGHSt 40, 218 vorgesehen) ausgeführt:
aa) Ein Rechtfertigungsgrund, der einer Durchsetzung des Verbots, die DDR zu verlassen, Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gab, indem er die vorsätzliche Tötung unbewaffneter Flüchtlinge gestattete, ist wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam. Der Verstoß wiegt hier so schwer, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt; in einem solchen Fall muß das positive Recht der Gerechtigkeit weichen (sogenannte "Radbruch'sche Formel"). Diese Grundsätze werden durch Dokumente des internationalen Menschenrechtsschutzes konkretisiert. Dazu gehört für die Zeit nach dem 23. März 1976 (Zeitpunkt des Inkrafttretens) der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl. II 1973, 1534; GBl. - DDR II 1974, 57). Für die Zeit davor ist, wie der Senat in seinem Urteil vom 26. Juli 1994 (NJW 1994, 2708, 2709, zum Abdruck in BGHSt 40, 241 vorgesehen) näher dargelegt hat, auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 zu verweisen, die, ohne Vertragsrecht zu sein, die Bezugnahme der Charta der Vereinten Nationen auf die Menschenrechte konkretisiert.
bb) Würde ein gesetzlicher Rechtfertigungsgrund unter Mißachtung dieser Grundsätze ausdrücklich die (bedingt oder unbedingt) vorsätzliche Tötung von Menschen gestatten, die nichts weiter wollen, als unbewaffnet und ohne Gefährdung anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten, so müßte er bei der Rechtsanwendung unbeachtet bleiben. Der Bestrafung stände dann Art. 103 Abs. 2 GG nicht entgegen. Denn der Rechtfertigungsgrund hätte wegen der Offensichtlichkeit des in ihm verkörperten Unrechts niemals Wirksamkeit erlangt.
cc) Entsprechendes gilt für eine Staatspraxis, die eine nach den vorhandenen Rechtsvorschriften mögliche, die allgemein geltenden und anerkannten Menschenrechte respektierende Gesetzesauslegung außer acht läßt. Weil eine solche Staatspraxis in gleicher Weise offensichtliches schweres Unrecht darstellt, kann ihr kein Rechtfertigungsgrund entnommen werden. Der Senat hat in den genannten Urteilen ausgeführt, daß die im Recht der DDR zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden es ermöglicht haben, Rechtfertigungsgründe für den Schußwaffengebrauch so auszulegen, daß Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden. Das gilt im Ergebnis auch für den vorliegenden Fall, der sich vor dem Inkrafttreten des Grenzgesetzes der DDR (1982) unter der Geltung der DDR - Verfassung von 1949 ereignet hat. Der Text der Verfassung von 1949 band alle Maßnahmen der Staatsgewalt an die Grundsätze der Verfassung (Art. 4 Abs. 1), betonte den Schutz der persönlichen Freiheit (Art. 8), gewährte in den Grenzen eines Gesetzesvorbehalts die Auswanderungsfreiheit (Art. 10 Abs. 3) und besagte, daß alle Verfassungsbestimmungen unmittelbar geltendes Recht seien (Art. 144 Abs. 1).
Zur Tatzeit konnten mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung Befehle über den Schußwaffengebrauch ohne weiteres an solchen Grundsätzen und am Lebensrecht der Bürger orientiert werden.
b) Der Senat hält an den Grundsätzen seiner Rechtsprechung fest. Das führt dazu, daß der Schußwaffengebrauch, wie ihn der Angeklagte mit bedingtem Vorsatz vorgenommen hat, nicht gerechtfertigt war; denn eine Rechtfertigung des Schußwaffengebrauches kann nicht anerkannt werden, wenn sie auf der Erwägung beruht, daß die Verhinderung der Flucht von einem Teil Deutschlands in den anderen Vorrang vor der Erhaltung des Lebens des Flüchtlings hat.
c) Die Rechtsprechung des Senates im Hinblick auf die "Radbruch'sche Formel", zum internationalen Menschenrechtsschutz und zu der Möglichkeit einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung des DDR Rechts hat auch nach den Senatsentscheidungen vom 26. Juli 1994 (NJW 1994, 2703 ff., 2708 ff., zum Abdruck in BGHSt 40, 218; 40, 241 vorgesehen) zu kritischen Äußerungen im Schrifttum geführt (Amelung NStZ 1995, 29; Dannecker Jura 1994, 585; Laskowski JA 1994, 151; Luchterhand in: Karsten Schmidt <Hrsg.>, Vielfalt des Rechts - Einheit der Rechtsordnung? Hamburger Ringvorlesung 1994 S. 165, 179 ff.; Pawlik GA 1994, 472 und Rechtstheorie 25, 1994, 101; Schlink NJ 1994, 433; vgl. ferner die Schrifttumshinweise in BGHSt 39, 168, 181, BGH NJW 1994, 2708, 2711 sowie Dreier ZG 1993, 300; Dreier in: Festschrift für Arthur Kaufmann, 1993, S. 57; Frommel in: Festschrift für Arthur Kaufmann, 1993, S. 81; Herrmann NStZ 1993, 487; Jakobs GA 1994, 1; Arthur Kaufmann NJW 1995, 81; Lampe ZStW 106, 1994, 683, 709; Ott NJ 1993, 337; Pawlik in: Rechtsphilosophische Hefte II, 1993, S. 95; Rittstieg Demokratie und Recht 1993, 18; Roggemann, Systemwechsel und Strafrecht, 1993; Spendel Recht und Politik 1993, 61; Wullweber Kritische Justiz 1993, 49). Die Auseinandersetzung im Schrifttum gibt dem Senat Anlaß, seine Rechtsprechung wie folgt ergänzend zu erläutern:
aa) Zur Anwendung der "Radbruch'schen Formel" (dazu jetzt insbesondere Arthur Kaufmann aaO sowie Alexy, Mauerschützen: Zum Verhältnis von Recht, Moral und Strafbarkeit 1993; Lecheler, Unrecht in Gesetzesform?, 1994; vgl. auch die erwähnten Aufsätze von Dreier und Frommel sowie - kritisch - Pawlik GA 1994, 472) hat der Senat in BGHSt 39, 1, 15 ff. hervorgehoben, daß die Schüsse an der Berliner Mauer und an anderen Stellen der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden können, auf den Radbruch seine Ausführungen bezogen hat. Daraus folgt jedoch nicht, daß eine Unverbindlichkeit extrem ungerechter Gesetze ausschließlich in Fällen des Völkermordes, der Friedens-, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen im Sinne des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof vom 8. August 1945 sowie des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 (AmtsBl. des Kontrollrats S. 22) in Betracht kommt. Der Anwendungsbereich der "Radbruch'schen Formel" ist auch nicht notwendig auf diejenigen Verbrechen (Völkermord, Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen, schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen von 1949) beschränkt, die nach der Resolution 827 (1993) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen dem Internationalen Strafgerichtshof im Hinblick auf Menschenrechtsverbrechen im früheren Jugoslawien zugewiesen worden sind (vgl. den Gesetzesentwurf der Bundesregierung Bundesrats - Drucks. 991/94 mit dem Text der Resolution 827 sowie Oellers - Frahm ZaÖRV 54, 1994, 416 ff.; Bassiouni, Crimes against Humanity in International Criminal Law, 1992, S. 288 ff.).
Allerdings müssen Fälle, in denen ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund wegen seiner Ungerechtigkeit als unbeachtlich angesehen wird, wegen des hohen Wertes der Rechtssicherheit auf extreme Ausnahmen beschränkt bleiben (BGHSt 39, 1, 15); daran hält der Senat trotz der Einwände bei Dreher/Tröndle StGB, 47. Aufl. 1995, vor § 3 Rdn. 52 a fest.
Einen extremen Ausnahmefall, der im Sinne der in Radbruchs Konzept enthaltenen "Unerträglichkeitsformel" (Arthur Kaufmann NJW 1995, 81, 82) zur Unverbindlichkeit eines Rechtfertigungsgrundes führt, hat der Senat bei den tödlichen Schüssen an der innerdeutschen Grenze aus einer Gesamtwertung des Grenzregimes hergeleitet. Diese Bewertung bezieht sich sowohl auf die Hintanstellung des Lebensrechtes der Flüchtlinge als auch auf die besonderen Motive, die Menschen für die Überquerung der innerdeutschen Grenze hatten; in die Bewertung sind auch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze eingegangen, die durch "Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl" gekennzeichnet waren (BGHSt 39, 1, 20 unter Hinweis auf BVerfGE 36, 1, 35). Angesichts dieser besonderen Züge kann das Grenzregime der DDR nicht mit den üblichen Formen bewaffneter Grenzsicherung gleichgesetzt werden, zumal da diese tpyischerweise gegen Eindringlinge gerichtet sind. Der Senat hat nicht übersehen, daß die DDR die Flucht ihrer Bürger unter anderem deswegen unterband, weil sie von einem Anschwellen des Flüchtlingsstroms eine politische und wirtschaftliche Destabilisierung der DDR und ihrer östlichen Nachbarn befürchtete. Er hat auch nicht unerwähnt gelassen (BGHSt 39, 1, 19), daß verschiedene Länder, zumal in der dritten Welt, aus Gründen der Entwicklung die Auswanderung gut ausgebildeter Bürger zu unterbinden suchen. Mit der "beispiellosen Perfektion" des Grenzregimes und dem in der Praxis rücksichtslos angewandten Schußwaffengebrauch bei prinzipieller Versagung der Ausreisebefugnis (BGHSt 39, 1, 21) ist die DDR indessen über solche Beschränkungen weit hinausgegangen. Es mag sein, daß einzelne Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktsystems ein ähnlich perfekt organisiertes Grenzregime eingerichtet hatten. Das hindert die Beurteilung des DDR Grenzregimes, wie sie der Senat vorgenommen hat, nicht; überdies trennten die anderen Grenzen nicht in gleichem Maße Menschen, die auf vielfältige Weise, zumal durch Familienbeziehungen, miteinander verbunden waren.
Der Senat ist unter den gegebenen Umständen zu der Bewertung gekommen, daß die Verneinung von Menschenrechten durch den Schießbefehl in der Staatspraxis der DDR - gleichviel ob er auf bloßen Anordnungen der Exekutive beruhte oder auf das Grenzgesetz 1982 zurückgeführt wurde - ein so schweres Unrecht darstellte, daß etwaige Rechtfertigungsgründe des DDR - Rechts unbeachtlich bleiben. Der Senat nimmt zur Kenntnis, daß der unbestreitbare Unterschied in der Schwere nationalsozialistischer Gewaltverbrechen einerseits und der Tötungen an der innerdeutschen Grenze andererseits von verschiedenen Autoren zum Anlaß genommen worden ist, die Anwendbarkeit der "Radbruch'schen Formel" auf die hier in Rede stehenden Sachverhalte zu verneinen. Gleichwohl bleibt der Senat bei seiner Rechtsprechung. Der Senat hat mit seiner Bewertung der Schüsse an der innerdeutschen Grenze materiell - rechtliche Grundlagen des Urteils des Internationalen Militärgerichtshofs vom 30. September/1. Oktober 1946, auf denen er aufbaut, für einen speziellen Fall weiterentwickelt (vgl. Internat. Militärgerichtshof Nürnberg, Verhandlungsniederschriften, amtlicher Text in deutscher Sprache Bd. XXII S. 466, 524 ff., 533 ff., 565 f.; s. auch das Nürnberger Juristenurteil vom 3./4. Dezember 1947, deutscher Text, hrsg. von Zentral - Justizamt für die Britische Zone, S. 34). Die nach 1946 eingetretene Betonung und Festschreibung von Menschenrechten, insbesondere in den beiden erwähnten Dokumenten der Vereinten Nationen, läßt es zu, das Tötungsverbot noch stärker zu betonen, also die Anforderungen an wirksame Rechtfertigungsgründe weiter heraufzusetzen.
bb) Der Senat hält auch nach Überprüfung kritischer Stellungnahmen im Schrifttum daran fest, daß bei der Bewertung des Grenzregimes auf Grundsätze des internationalen Menschenrechtsschutzes zurückgegriffen werden darf, ohne daß es darauf ankäme, ob die DDR den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 in innerstaatliches Recht transformiert hat (BGHSt 39, 1, 16 ff.). Die DDR hatte sich durch die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde zur Respektierung der in dem Pakt bezeichneten Menschenrechte verpflichtet (BGHSt 39, 1, 16) und schon vorher stets verlautbart, sie betrachte die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 als Richtschnur für die Gestaltung der Verhältnisse im eigenen Land (vgl. BGH NJW 1994, 2708, 2709 f. - zum Abdruck in BGHSt 40, 241 vorgesehen - ). Die Frage, ob der einzelne Grenzposten diesen Einfluß internationaler Menschenrechtsdokumente gekannt hat oder erkennen konnte, betrifft nicht die Rechtswidrigkeit seines Tuns, sondern die Schuld (vgl. dazu BGHSt 39, 1, 32 ff.).
cc) Kritiker haben das Verhältnis der vom Senat angewandten Grundsätze der "Radbruch'schen Formel" zu den Prinzipien der menschenrechtsfreundlichen Auslegung nach Grundsätzen des DDR - Rechts als unklar bezeichnet. Dazu ist zu bemerken: Der Senat hat auf die Möglichkeit einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung mit Mitteln des Rechtes der DDR Bezug genommen, weil er das geschriebene Recht der DDR nicht außer Betracht lassen durfte und weil die Möglichkeit der menschenrechtsfreundlichen Auslegung dieses Rechts auch im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG zu beachten ist (BGHSt 39, 168; 40, 30, 42; vgl. auch nachstehend zu dd).
Der Schutz der Menschenrechte war - anders als im nationalsozialistischen Regime - offizielle Programmatik des Staates. Dies gilt auch für die DDR Verfassung von 1949, deren Text im Übrigen von dem rechtsstaatlichen Modell der Weimarer Reichsverfassung weniger weit entfernt war als die Verfassungstexte von 1968 und 1974. Der Senat hat nicht übersehen, daß tatsächlich weder die verschiedenen Verfassungen der DDR noch die sonstigen Gesetze in dem vom Senat bezeichneten Sinne menschenrechtsfreundlich ausgelegt worden sind. Mit dem Hinweis auf eine menschenrechtsfreundliche Auslegungsmöglichkeit hat der Senat nicht etwa ein Rechtssystem konstruiert, das mit dem Recht der DDR schlechthin nichts zu tun hatte. Der Senat nimmt insbesondere die eingehenden Hinweise von Luchterhand (aaO) auf die tatsächlichen Verhältnisse im Rechtswesen der DDR ernst. Das hindert ihn aber nicht an der Analyse, daß in dem geschriebenen Recht der DDR Möglichkeiten zu einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung angelegt waren. Daß sie überwiegend nicht wahrgenommen worden sind, eine menschenrechtsfreundliche Auslegung den Rechtsanwender vielmehr in größte Schwierigkeiten gebracht hätte, ändert daran nichts. Der Senat verweist im übrigen darauf, daß DDR - Wissenschaftler immerhin in den letzten Jahren der DDR Ansichten vertreten haben, die auf rechtsstaatliche Ansätze in Gesetzen der DDR einschließlich der Verfassung Bezug nahmen (vgl. u.a. U.-J. Heuer, Marxismus und Demokratie 1989, S. 460, 470 f. und Lekschas, Probleme künftiger Strafpolitik in der DDR, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR - Gesellschaftswissenschaften -, 1989 S. 6 f., 11 ff.). Desgleichen ist auf die Einführung von Elementen gerichtlicher Nachprüfung von Verwaltungsakten sowie auf die Abschaffung der Todesstrafe in den letzten Jahren der DDR hinzuweisen.
dd) Der Senat hat die besonderen Probleme, die durch das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG entstehen, gesehen (BGHSt 39, 1, 26 ff.). Verschiedene Äußerungen im Schrifttum, wonach die Rechtsprechung des Senats nicht mit dem Rückwirkungsverbot vereinbar sein soll (vgl. u.a. Schmidt - Aßmann in: Maunz/Dürig/Herzog, GG Art. 103 Abs. 2 Rdn. 255; Pieroth in: Jarass/Pieroth, GG, 3. Aufl. Art. 103 Rdn. 54; Jakobs GA 1994, 1 ff.), haben den Senat zu einer nochmaligen Prüfung seines Standpunktes veranlaßt; er hält daran fest, daß Art. 103 Abs. 2 GG seiner Rechtsprechung nicht entgegensteht.
Nach Auffassung des Senats sind die Grenzposten nicht in ihrem Vertrauen auf die Fortgeltung gesetzlicher Regelungen enttäuscht worden; denn das geschriebene Recht der DDR konnte auch menschenrechtsfreundlich interpretiert werden. Art. 103 Abs. 2 GG schützt nicht das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Staats - und Auslegungspraxis. Soweit Gesetze oder Staatspraxis offensichtlich und in unerträglicher Weise gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstießen, können die dafür verantwortlichen Machthaber und diejenigen, die auf deren Anordnung handelten, nicht dem Strafanspruch, den die Strafrechtspflege als Reaktion auf das verübte Unrecht mit rechtsstaatlichen Mitteln durchsetzt, unter Berufung auf das Rückwirkungsverbot entgegenhalten, sie hätten sich an bestehende Normen gehalten. Sie konnten nicht darauf vertrauen, daß eine künftige rechtsstaatliche Ordnung die menschenrechtswidrige Praxis auch in Zukunft hinnehmen und nicht sanktionieren werde. Ein solches Vertrauen kann nicht als schutzwürdig im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG gelten. In einem derartigen Fall dürfen sie sich nicht auf den Satz berufen, daß heute nicht Unrecht sein kann, was früher "Recht" war. Das entspricht dem formalen Charakter des Art. 103 Abs. 2 GG: Die Vorschrift soll es dem Bürger ermöglichen, sich auf das geschriebene Gesetzesrecht einzurichten (vgl. insbesondere Schreiber, Gesetz und Richter, 1976, S. 213 ff., 220 ff.; siehe auch Roxin Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 2. Aufl. 1994 S. 114).
Das würde sich erst recht zeigen, wenn ein Gesetz so pervertiert war, daß eine menschenrechtsfreundliche Auslegung überhaupt nicht in Betracht kam (BGHSt 39, 1, 30; BGH NJW 1994, 2708, 2710, zum Abdruck in BGHSt 40, 241 vorgesehen). In Fällen dieser Art könnte Art. 103 Abs. 2 GG nicht die Bestrafung hindern. Das folgt aus der Erwägung, daß eine Freistellung von Strafbarkeit, die derart gegen die Menschenrechte verstößt, von vornherein unwirksam ist, also überhaupt nicht Recht geworden ist. Auch wäre es unverständlich, wenn der Schutz des Rückwirkungsverbots unter derart extremen Verhältnissen eingreifen würde, während bei noch bestehender Möglichkeit menschenrechtsfreundlicher Gesetzesinterpretation die Schutzvorschrift des Art. 103 Abs. 2 GG nicht anwendbar wäre.
ee) Es ist geltend gemacht worden, eine Bestrafung sei auch unter der Voraussetzung unmöglich, daß der Rechtfertigungsgrund wegen grober Ungerechtigkeit und Menschenrechtswidrigkeit für unwirksam gehalten werde; es ergebe sich dann ein "normatives Vakuum", denn die Verneinung der Rechtfertigungswirkung könne die Strafbarkeit nicht "wiederherstellen" (Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, S. 121 sowie GA 1994, 1, 11 f.). Dem kann der Senat nicht folgen. Die DDR gehörte zu denjenigen Staaten, in denen es sich von selbst versteht, daß die vorsätzliche Tötung eines Menschen umfassend strafbar ist, es sei denn, ein Rechtfertigungsgrund griffe ein. Zur Tatzeit galten in der DDR und in der Bundesrepublik gleichermaßen die §§ 211, 212 StGB; das 1968 in Kraft getretene neue Strafgesetzbuch der DDR enthält ebenso wie die genannten Vorschriften ein generelles strafrechtliches Verbot der vorsätzlichen Tötung (§§ 112, 113). Die grundsätzliche Strafbarkeit vorsätzlicher Tötungen gehört zum elementaren Bestand aller zivilisierten Rechtskulturen. Daraus folgt, daß bei Nichtigkeit des Rechtfertigungsgrundes der Tatbestand des Totschlages anwendbar bleibt und daß die Tat, sofern keine anderen Rechtfertigungsgründe vorliegen, als rechtswidrig aufzufassen ist. Auch aus Art. 103 Abs. 2 GG ist kein anderes Ergebnis herzuleiten.
Seine Annahme, daß der Angeklagte schuldhaft gehandelt habe, hat der Tatrichter im Einklang mit den vom Senat bezeichneten Grundsätzen (BGHSt 39, 1, 32 ff.) begründet. Ein Rechtsfehler ist nicht erkennbar. Die Anwendbarkeit der genannten Grundsätze ist nicht dadurch in Frage gestellt, daß die jetzt abgeurteilte Tat 22 Jahre vor jener Tat begangen worden ist, auf die sich die Erwägungen in BGHSt 39, 1 beziehen.
Auch der Strafausspruch hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand.
Der Senat übersieht nicht, daß die verhängte Freiheitsstrafe in einer Spannung zu Strafen gleicher oder geringerer Höhe steht, die mit der Billigung des Senats (vgl. z.B. BGHSt 39, 1, 35 f.) gegen Grenzsoldaten verhängt worden sind, obwohl dort einige Besonderheiten des vorliegenden Falles (sehr weit zurückliegende Tatzeit, Verzicht auf "letzte Konsequenz" beim Zielen, kein Treffer aus der eigenen Waffe) nicht gegeben waren. Bei der Aburteilung von Grenzposten der DDR stößt indessen die Anwendung sonst geltender Strafzumessungsgesichtspunkte auf Grenzen. Die Strafzumessung wird nicht durchweg der Schwere der Totschlagstaten und ihren Folgen differenzierend gerecht werden können. Der Tatrichter hat im Einklang mit BGHSt 39, 1, 35 f. nicht übersehen, daß Befehlsempfänger wie der Angeklagte der Wirkung staatlicher Indoktrination kaum entgehen konnten und in gewisser Weise selbst Opfer der Verhältnisse an der Grenze gewesen sind.
Externe Fundstellen: BGHSt 41, 101; NJW 1995, 2728; NStZ 1995, 401
Bearbeiter: Rocco Beck