Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 650/94, Beschluss v. 07.02.1995, HRRS-Datenbank, Rn. X
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 10. Juni 1994 gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben, soweit die Angeklagten verurteilt worden sind. Die Angeklagten werden freigesprochen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Das Landgericht hat den Angeklagten A. wegen versuchten Totschlags zu einem Jahr Jugendstrafe, den Angeklagten K. wegen Beihilfe hierzu - unter Freisprechung im übrigen - zu einem Jahr Freiheitsstrafe, jeweils unter Strafaussetzung zur Bewährung, verurteilt.
Am Abend des 25. Januar 1967 war der damals 20jährige A., der seinen Wehrdienst als Soldat bei den Grenztruppen der DDR leistete, an der Berliner Sektorengrenze zwischen den Bezirken Treptow und Neukölln im Bereich des stillgelegten Bahndamms "Köllnische Heide" als Fahrer seines Kompaniechefs, des 29jährigen Oberleutnants K., eingesetzt. K. hatte A. zuvor - der Befehlslage des Grenzregimes der DDR entsprechend - wiederholt dazu "vergattert", Grenzdurchbrüche unbedingt - notfalls unter Einsatz der Schußwaffe, auch mittels gezielter Schüsse - zu verhindern; "Grenzverletzer" seien festzunehmen oder "unschädlich zu machen". Daß bei uneingeschränkter Verfolgung dieses Zieles durch Einsatz der Schußwaffe je nach den Gegebenheiten des Einzelfalles der Tod eines Flüchtlings in Kauf genommen werden mußte, setzten K. und A. voraus. In der Einhaltung des Befehls wurde A. am Tattage durch die von K. zuvor erteilten Vergatterungen und dessen Ortsanwesenheit als Kompaniechef bestärkt.
Nachdem A. den K. bei einer Kontrollfahrt an einem Wachturm abgesetzt hatte, entdeckte er einen 15jährigen Flüchtling, der bereits zwei Zäune der Grenzbefestigung überwunden hatte und sich kriechend auf die hinter einem breiten Sandweg und einem Sperrgraben befindliche, dort damals durch Stacheldrahtzaun gesicherte Demarkationslinie zu bewegte. Als der Flüchtling auf Anruf des A. und drei Warnschüsse nicht reagierte, sondern weiterkroch, gab A., um den Fluchtversuch, dem Befehl folgend, unbedingt zu vereiteln, aus seiner Maschinenpistole "Kalaschnikow" mit Einzelfeuer im Laufen, ohne die Waffe anzulegen, mindestens zwei ungezielte Schüsse in Richtung des etwa 35 m entfernten kriechenden Flüchtlings ab. Dabei hielt er dessen Tötung für möglich und fand sich damit ab. Der Flüchtling wurde an beiden Beinen getroffen und brach blutend zusammen.
A., der zunächst für möglich hielt, den Flüchtling tödlich getroffen zu haben, begab sich zunächst zu ihm und nahm keine Verletzung an ihm wahr. Als K., der auf dem nahen Wachturm durch die Schüsse aufmerksam geworden war, hinzukam, lief A. zum Fahrzeug zurück und stellte es abfahrbereit. K., der ebenfalls keine Verletzungen bei dem Flüchtling wahrnahm, trug diesen zum Fahrzeug, als er dem Befehl aufzustehen unter Hinweis auf eine Beinverletzung nicht Folge leistete. A. fuhr K. mit dem Flüchtling zu einem 200 m entfernt bereitgestellten Krankenwagen, den K. nach Vernehmen der Schüsse sogleich zur Grenze bestellt hatte. Der Flüchtling wurde medizinisch versorgt; seine infolge der Schüsse erlittenen Beinverletzungen - ein Oberschenkeltrümmerbruch rechts und ein Wadenbeinbruch links - erforderten einen vierteljährlichen stationären Krankenhausaufenthalt. Anschließend wurde er wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts inhaftiert und verurteilt. Zeitlebens - er ist 1992 aus einem nicht mit dem Tatgeschehen zusammenhängenden Grund verstorben - hatte er infolge der Beinverletzungen körperliche Beschwerden.
Der Angeklagte A. wurde aufgrund des Vorfalls belobigt und vorzeitig zum Gefreiten befördert. Der Angeklagte K. nahm den Vorfall hingegen zum Anlaß, letztlich mit Erfolg seine Entlassung von den Grenztruppen zu betreiben.
Die Revisionen der Angeklagten führen jeweils mit der Sachrüge zur Aufhebung ihrer Verurteilung und zum Freispruch. Das Landgericht hat nach den getroffenen Feststellungen zu Unrecht Rücktritt vom Versuch verneint.
1. Beide Angeklagte haben freiwillig die Vollendung des gemeinschaftlich versuchten Totschlags verhindert (§ 24 Abs. 2 Satz 1 StGB).
Das Landgericht hat nicht verkannt, daß die Angeklagten gemeinsam die mögliche Tötung des Flüchtlings objektiv vereitelt haben, indem sie, arbeitsteilig handelnd - K. durch das Herbeirufen des Krankenwagens und den Transport des Flüchtlings zum Fahrzeug, A. durch die anschließende Fahrt zum Krankenwagen -, die rechtzeitige medizinische Versorgung des Flüchtlings ermöglichten, durch die dessen - infolge der stark blutenden Schußverletzungen andernfalls zu erwartender - Tod verhindert wurde. Das Landgericht hat indes einen Rücktrittswillen der Angeklagten verneint, weil es davon ausgegangen ist, daß sie die lebensgefährliche Verletzung des Flüchtlings nicht bemerkt hätten. Diese Feststellungen zu den subjektiven Vorstellungen der Angeklagten entbehren - ungeachtet dessen, daß sie, wie der Generalbundesanwalt zutreffend hervorhebt, den Einlassungen der Angeklagten und ihrem sonstigen Verteidigungsvorbringen (offenbar um damit einen Tötungsvorsatz überzeugungskräftiger in Abrede zu stellen) folgen - ausreichender tatsächlicher Grundlage.
A. sah nach Abgabe der Schüsse, daß der Flüchtling, der sich zuvor bewegt hatte, liegen blieb. Er hielt es in diesem Moment nach Überzeugung des Landgerichts aus der Distanz noch für möglich, ihn tödlich getroffen zu haben. Als er hinzukam, schrie der am Boden liegende 15jährige Junge nach seiner Mutter (UA S. 14, 28). Unter diesen Umständen ist es schon ganz unwahrscheinlich, daß A. und der hinzukommende K., auch wenn sie infolge der Dunkelheit eine Schußverletzung des Flüchtlings optisch nicht wahrgenommen haben mögen, mit einer Verletzung des Flüchtlings durch die Schüsse nicht rechneten. Die abweichenden Feststellungen des Landgerichts sind jedenfalls im Blick auf den Umstand nicht hinzunehmen, daß K. den Flüchtling zum Fahrzeug trug, nachdem dieser seinem Befehl, er solle aufstehen, nicht gefolgt war und angegeben hatte, "mit seinem Bein sei etwas" (UA S. 15). Es liegt gänzlich fern, daß K. sich diesem anstrengenden Unterfangen (UA S. 16) unterzogen hätte, ohne dabei eine tatsächliche erhebliche Beinverletzung des Flüchtlings zu vermuten, die nach Sachlage schwerlich auf eine andere Ursache als auf eine - dann naheliegend auch lebensgefährliche - Schußverletzung zurückgehen konnte. Der Senat schließt aus, daß ein neuer Tatrichter über die Vorstellungen des K. - und ebenso über die entsprechenden des den Vorgang vom Fahrzeug aus wahrnehmenden A. - andere Feststellungen als solche treffen könnte, wonach neben den gegebenen objektiven Voraussetzungen für einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch gleichermaßen die subjektiven Voraussetzungen dadurch erfüllt sind, daß die Angeklagten bei der Rettung des Flüchtlings mit dessen lebensgefährlicher Verletzung rechneten.
Etwaige weitere Motive der Angeklagten für ihr Verhalten ändern an der Beurteilung nichts. Es kommt daher nicht einmal darauf an, daß das Landgericht das Verhalten der Angeklagten mit ihrem Ziel erklärt, den Flüchtling so schnell wie möglich aus dem Grenzgebiet zu entfernen (UA S. 15). Solches bedurfte zudem nicht zugleich der Absicherung alsbaldiger, hier rechtzeitiger medizinischer Versorgung, wie sie durch das Herbeirufen des Krankenwagens und den sofortigen Transport des Flüchtlings dorthin hier erfolgt ist. Vor dem Hintergrund wiederholter Erkenntnisse des Senats über die Übung stark verzögerter medizinischer Hilfe für schwerverletzte Flüchtlinge an der innerdeutschen Grenze (vgl. BGHSt 39, 1, 2; 39, 199, 201; Senatsurteil vom 26. Juli 1994 - 5 StR 98/94 - zum Abdruck in BGHSt vorgesehen -, NJW 1994, 2703) begegnet die Annahme, im vorliegenden Fall sei die Rettung des Flüchtlings eine Folge vom Motiv der Verschleierung der Fluchtvereitelung getragenen, routinegemäßen Verhaltens der Grenzsoldaten gewesen, durchgreifenden Bedenken.
2. Sind die Angeklagten nach § 24 Abs. 2 Satz 1 StGB nicht wegen versuchten Totschlags zu bestrafen, so kommt vorliegend auch ein Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung nicht in Betracht.
a) Allerdings umfaßt ein bedingter Tötungsvorsatz, wie ihn das Landgericht hier festgestellt hat, auch - als minus - einen entsprechenden Körperverletzungsvorsatz, so daß bei Rücktritt von einem Totschlagsversuch, bei dem das Opfer verletzt wurde, eine Verurteilung wegen - bei Strafbarkeit des Totschlagsversuchs sonst regelmäßig als verdrängt angesehener - (gefährlicher) Körperverletzung grundsätzlich verbleibt (BGHSt 16, 122, 123 f.; 21, 265, 267).
Dies setzt indes Rechtswidrigkeit und Schuld jener verbleibenden gefährlichen Körperverletzung voraus. Deren Vorliegen versteht sich nicht etwa von selbst, wenn sie - wie vom Landgericht bejaht - für den versuchten Totschlag gegeben wären, für den der Strafaufhebungsgrund des § 24 StGB eingreift. Sie sind vielmehr, ungeachtet gegebener Handlungseinheit, für jeden dabei in Betracht kommenden Tatbestand nach dessen besonderen Voraussetzungen gesondert zu prüfen und können, nicht anders als bei den Prozeßvoraussetzungen (z. B. Strafantrag, Verjährung), ungeachtet der Handlungseinheit divergieren. Dabei ist vorliegend bei Prüfung der Rechtswidrigkeit und Schuld der verbleibenden gefährlichen Körperverletzung nur auf den für diesen Tatbestand maßgeblichen Verletzungsvorsatz abzustellen und - wie von der Rechtsprechung zur Strafzumessung ausdrücklich anerkannt (vgl. BGH StV 1990, 303; Dreher/Tröndle, StGB 46. Aufl. § 24 Rdn. 18; jeweils m.w.N.) - nicht etwa auf den weitergehenden Tötungsvorsatz, der allein für den vom Strafaufhebungsgrund erfaßten Tatbestand des Totschlagsversuchs maßgeblich ist.
b) Soweit es den Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung - Einsatz der Schußwaffe mit Verletzungsvorsatz - betrifft, waren die Angeklagten jedenfalls entschuldigt, und zwar wegen Handelns auf Befehl - § 258 Abs. 1 i.V.m. § 81 Abs. 3 StGB-DDR; § 5 Abs. 1 WStG (analog) i.V.m. § 2 Abs. 3 StGB, Art. 315 Abs. 1 EGStGB - (BGH NStZ 1993, 488) oder zumindest wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums (BGHSt 39, 168, 194 f.).
Das gilt nach den Grundsätzen von BGH NStZ 1993, 488 fraglos für den Angeklagten A. als einfachen Grenzsoldaten. Der Senat hält es weitergehend indes auch nicht für richtig, den Angeklagten K. im Ergebnis abweichend zu beurteilen. Auch als Befehlsgeber war er seinerseits in eine Befehlsstruktur eingebunden, auf deren maßgebliche Inhalte er seiner Stellung gemäß keinen Einfluß hatte. Selbst wenn er aufgrund des von ihm erreichten militärischen Ranges anders als ein einfacher Wehrdienstleistender nicht auch als Opfer staatlicher und militärischer Indoktrination (vgl. BGHSt 39, 1, 36; 39, 168, 193; BGHSt 40, 133 = NJW 1994, 2240, 2241; BGH NStZ 1993, 488) gelten kann, so ist ihm doch fehlende Einsicht, daß ein militärischer Befehl zur Fluchtverhinderung auch mittels Schußwaffeneinsatzes rechtswidrig sei, soweit nicht Tötungsvorsatz hinzukommt, nicht als schuldhaft anzulasten.
c) Auch vorliegend braucht der Senat die zweifelhafte Frage (vgl. dazu BGHSt 39, 1, 25) nicht zu entscheiden, ob der Einsatz der Schußwaffe zur Verhinderung der Flucht an der innerdeutschen Grenze mit dem Vorsatz, den Flüchtling lediglich zu verletzen, zumal im Blick auf aus Art. 103 Abs. 2 GG abzuleitende Grundsätze überhaupt als rechtswidrig eingestuft werden dürfte.
Externe Fundstellen: BGHSt 41, 10; NJW 1995, 1437; NStZ 1995, 282
Bearbeiter: Rocco Beck