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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 228

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 540/23, Urteil v. 04.01.2024, HRRS 2024 Nr. 228


BGH 5 StR 540/23 - Urteil vom 4. Januar 2024 (LG Zwickau)

Vergewaltigung (Gewalt; schutzlose Lage); Täter-Opfer-Ausgleich (friedensstiftender Ausgleich; keine Maßgeblichkeit der subjektiven Bewertung von Täter und Opfer); Fehlen von einschlägigen Vorstrafen kein Strafmilderungsgrund.

§ 177 Abs. 5 StGB; § 46 StGB; § 46a StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Gewalt im Sinne von § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB ist die eigene Kraftentfaltung des Täters auf das Opfer, um damit geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden. Dafür kann es ausreichen, wenn der Täter sich auf das Opfer legt oder dieses festhält, um es auszuziehen, oder wenn er es, um den Geschlechtsverkehr durchzuführen, körperlich fixiert oder auf das Bett drückt oder schubst.

2. Eine schutzlose Lage im Sinne von § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB liegt bei der gebotenen rein objektiven Betrachtungsweise vor, wenn sich das Opfer dem überlegenen Täter allein gegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn nach zusammenfassender Bewertung die Möglichkeiten des Täters, mit Gewalt auf das Opfer einzuwirken, größer sind als die Möglichkeiten des Tatopfers, sich solchen Einwirkungen des Täters mit Erfolg zu entziehen, ihnen erfolgreich körperlichen Widerstand entgegenzusetzen oder die Hilfe Dritter zu erlangen. Eine gänzliche Beseitigung jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten ist nicht vorausgesetzt

3. Das Tatgericht muss regelmäßig eigenverantwortlich prüfen, ob die Voraussetzungen des § 46a Nr. 1 StGB vorliegen. Für die Annahme eines friedensstiftenden Ausgleichs darf insbesondere nicht allein auf die subjektive Bewertung von Opfer und Täter abgestellt werden. Vorrangig ist vielmehr zu prüfen, ob die konkret erbrachten oder ernsthaft angebotenen Leistungen des Täters nach einem objektivierenden Maßstab als so erheblich anzusehen sind, dass damit das Unrecht der Tat oder deren materielle und immaterielle Folgen als „ausgeglichen“ erachtet werden können.

4. Das Vorliegen insbesondere einschlägiger Vorstrafen stellt einen Strafschärfungsgrund dar. Umgekehrt vermag das Fehlen von Strafschärfungsgründen regelmäßig eine Strafmilderung nicht zu begründen.

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Zwickau vom 22. Februar 2023 im Strafausspruch aufgehoben.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten - unter Freispruch im Übrigen - wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung unter Einbeziehung einer früher verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Die mit der Sachrüge geführte Revision der Staatsanwaltschaft, die die Strafzumessung beanstandet, hat überwiegend Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Der mehrfach - im Jahr 2005 auch wegen Verbreitung pornographischer Schriften - vorbestrafte Angeklagte nahm zu einem unbekannten Zeitpunkt „im Sommer“ 2017 Kontakt zu einer in der Nähe von A. in Tschechien lebenden Frau auf, bei der die seinerzeit 13 Jahre alte Nebenklägerin gemeinsam mit einer Freundin lebte. Beide waren aus einem Erziehungsheim geflohen und gingen der Prostitution nach. Ihr „Umfeld“ nutzte ihre prekäre Lage „bei der Zuführung zur Prostitution“ aus, ohne dass die Jugendkammer insoweit nähre Feststellungen getroffen hat.

Nach der Kontaktaufnahme zu der Frau holte der Angeklagte die Nebenklägerin mit seinem Pkw in Tschechien ab und fuhr mit ihr zu seinem nahegelegenen Wohnort. Dort teilte ihm die Nebenklägerin ihr Alter mit, erklärte, dass sie sich auf der Flucht befinde, und bat ihn, sie zu ihrer Mutter zu bringen. Der Angeklagte lehnte dies unter Verweis auf mangelnden Treibstoff für sein Auto ab und „es kam, wie von Anfang an geplant, im Schlafzimmer zum vaginalen Geschlechtsverkehr“, obwohl die Nebenklägerin ihm zuvor „bei seiner körperlichen Annäherung unmissverständlich verdeutlicht hatte, dass sie damit nicht einverstanden“ war. Der Angeklagte setzte sich über ihren entgegenstehenden Willen hinweg und vollzog - Einzelheiten zum Tathergang sind nicht festgestellt - den Geschlechtsverkehr an dem Mädchen. Anschließend fuhr er es mit dem Auto zurück nach Tschechien; Geld übergab er ihm nicht. Das Landgericht hat nicht klären können, ob der Angeklagte bereits zu diesem Zeitpunkt über die genauen Hintergründe der Tätigkeit der Nebenklägerin im Prostitutionsgewerbe informiert war.

Nach der Tat nahm er - nähere Feststellungen zu seinem Motiv oder den Hintergründen sind nicht getroffen - am 8. Juni 2017 per Facebook Kontakt zur tschechischen Polizei auf und teilte mit, dass er den Aufenthaltsort der - gesuchten - Nebenklägerin und ihrer Freundin kenne. Sie seien noch Kinder und würden unter anderem von der Frau, über die auch er den Kontakt zur Nebenklägerin hergestellt hatte, zum Sex angeboten. Ob die tschechische Polizei auf diese Mitteilung reagierte, hat die Jugendkammer nicht festzustellen vermocht. In einem in Tschechien geführten Verfahren wegen Menschenhandels wurde eine vom Angeklagten im Oktober 2017 geschriebene Chat-Nachricht über die Nebenklägerin beschlagnahmt, in der er ausführte: „Sa. weiß was man zu zweit im Bett machen kann :-) aber muss noch lernen ...“. Am letzten Hauptverhandlungstag wurde zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin eine „Täter-Opfer-Ausgleichsvereinbarung“ protokolliert, nach der sich der Angeklagte verpflichtete, der Nebenklägerin 1.500 Euro Schadenersatz zu zahlen, und zwar 500 Euro am selben Tag und den Rest in monatlichen Raten zu je 50 Euro. Ausweislich der Vereinbarung erkannte die Nebenklägerin in Kenntnis der schuldmindernden Wirkung die Schadenersatzzahlung „als ausgleichende Maßnahme im Sinne von § 46a StGB an“.

Vom Vorwurf, vier weitere Missbrauchshandlungen zum Nachteil der Nebenklägerin begangen zu haben, hat die Jugendkammer den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, nachdem die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung auch auf mehrfache Nachfrage bekundet hatte, sie habe mit dem Angeklagten nur einmal Geschlechtsverkehr gehabt; die abweichenden Angaben in ihrer polizeilichen Vernehmung könne sie nicht erklären.

2. Das Landgericht hat die festgestellte Tat als schweren sexuellen Missbrauch nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB (in der Fassung vom 21. Januar 2015, im Folgenden: aF) in Tateinheit mit Vergewaltigung nach § 177 Abs. 1, Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB gewertet. Im Rahmen der Strafzumessung ist es von einem minder schweren Fall ausgegangen und hat eine Ausnahme von der Regelvermutung des § 177 Abs. 6 StGB bejaht. Deshalb hat es die Strafe aus dem Strafrahmen des § 176a Abs. 4 Alt. 2 StGB aF zugemessen. Begründet hat die Jugendkammer dieses Vorgehen damit, dass der Angeklagte zwar mehrfach, aber nicht einschlägig vorbestraft sei, er der tschechischen Polizei einen Hinweis auf den Aufenthalt der Nebenklägerin eröffnet und es keinen Hinweis darauf gegeben habe, dass er über ihre genauen Lebensverhältnisse in Tschechien informiert gewesen sei. Außerdem habe wegen des in der Hauptverhandlung erzielten Täter-Opfer-Ausgleichs der vertypte Strafmilderungsgrund des § 46a Nr. 1 StGB vorgelegen; insgesamt sei deshalb die Anwendung des Strafrahmens des minder schweren Falles gerechtfertigt erschienen.

Bei der konkreten Strafzumessung hat die Strafkammer die vorgenannten Umstände erneut berücksichtigt und zusätzlich, dass die Tat schon länger zurückliege und der Angeklagte mit einer Handlung zwei Straftatbestände verwirklicht habe. Sie hat abschließend auf eine Einzelstrafe von einem Jahr und neun Monaten erkannt und mit der Ende 2021 gegen den Angeklagten verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten, die er wegen nach der vorliegenden Tat begangenen Erwerbs und Besitzes von kinderund jugendpornographischen Schriften verwirkt hatte, eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verhängt. Zur gewährten Aussetzung der Bewährung hat sie lediglich ausgeführt, das Geständnis des Angeklagten, sein fortgeschrittenes Alter und seine gefestigte Stellung im Berufsleben rechtfertigten die Annahme einer positiven Legalprognose, so dass die Strafe nach § 56 Abs. 1 und 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden könne.

II.

Die wirksam auf den Strafausspruch beschränkte - der Teilfreispruch wird in der Revisionsbegründung nicht angegriffen (vgl. hierzu etwa BGH, Urteil vom 14. April 2022 - 5 StR 313/21, NStZ-RR 2022, 201) - Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die Strafzumessungsentscheidung des Landgerichts weist auch eingedenk des insoweit eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 12. Mai 2021 - 5 StR 120/20 Rn.12, 16) durchgreifende Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf.

1. Der Ausspruch über die wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung verhängte Strafe hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand.

Namentlich erweist sich die Begründung der Jugendkammer für die Annahme eines minder schweren Falls im Sinne von § 176a Abs. 4 Alt. 2 StGB aF und für ein Absehen von der Regelvermutung des § 177 Abs. 6 StGB unter mehreren Gesichtspunkten als rechtsfehlerhaft.

a) Das Landgericht durfte den vertypten Strafmilderungsgrund des § 46a StGB nicht zugunsten des Angeklagten berücksichtigen, denn die Annahme der Voraussetzungen eines Täter-Opfer-Ausgleichs nach Nr. 1 dieser Vorschrift wird von den Urteilsgründen nicht getragen.

Dafür stritt zwar die „Täter-Opfer-Ausgleichsvereinbarung“, in der die mittlerweile volljährige Nebenklägerin die ihr angebotene Zahlung „als ausgleichende Maßnahme“ akzeptierte. Der Anwendung des § 46a Nr. 1 StGB würde auch nicht grundsätzlich entgegenstehen, wenn die Nebenklägerin dem Angeklagten den Ausgleich dadurch leicht gemacht hätte, dass sie an das Maß der Wiedergutmachungsbemühungen keine hohen Anforderungen gestellt und schnell versöhnungsbereit gewesen wäre, wofür - ohne dass dies ausdrücklich festgestellt worden ist - der Inhalt der Vereinbarung sprechen könnte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Februar 2001 - 3 StR 41/01, BGHR StGB § 46a Nr. 1 Ausgleich 3; vom 28. Januar 2016 - 3 StR 354/15, NStZ 2016, 401, 402). Diese Umstände enthoben die Strafkammer aber nicht der eigenverantwortlichen Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 46a Nr. 1 StGB tatsächlich vorlagen. Denn für die Annahme eines friedensstiftenden Ausgleichs darf nicht allein auf die subjektive Bewertung von Opfer und Täter abgestellt werden. Vorrangig ist vielmehr zu prüfen, ob die konkret erbrachten oder ernsthaft angebotenen Leistungen des Täters nach einem objektivierenden Maßstab als so erheblich anzusehen sind, dass damit das Unrecht der Tat oder deren materielle und immaterielle Folgen als „ausgeglichen“ erachtet werden können (BGH, Urteil vom 22. Mai 2019 - 2 StR 203/18, NStZ-RR 2019, 369, 370). Dies folgt schon daraus, dass überhaupt nur angemessene und nachhaltige Leistungen die erlittenen Schädigungen ausgleichen und zu einer Genugtuung für das Opfer führen können (BGH, Urteil vom 7. Dezember 2005 - 1 StR 287/05, NStZ 2006, 275, 276).

Nach diesen Grundsätzen kann hier nicht von einer die Voraussetzungen des § 46a Nr. 1 StGB erfüllenden Leistung des Angeklagten ausgegangen werden. Die Zahlung von lediglich 500 Euro und die vereinbarte weitere Zahlung von 1.000 Euro in monatlichen Raten von nur 50 Euro über den Zeitraum von annähernd zwei Jahren stellen schon auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen zur Tat im Ansatz keine angemessene Schmerzensgeldleistung dar. Mit Blick auf die festgestellten Einkommensverhältnisse (der ledige Angeklagte erzielt ein monatliches Einkommen von 2.400 Euro) kann die angebotene Ratenzahlung auch nicht als ernsthaftes Erstreben der Wiedergutmachung angesehen werden.

b) Hinzu kommt, dass - wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat - die Feststellungen zum Schuldgehalt der Tat lückenhaft sind:

Das Landgericht hat sich nicht mit der sich aufdrängenden Frage befasst, ob der Angeklagte die Vergewaltigung unter den Bedingungen des § 177 Abs. 5 StGB beging, weil er beim oder im Zusammenhang mit dem Vollzug des vaginalen Geschlechtsverkehrs Gewalt im Sinne von § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB anwendete oder dadurch, dass er die Nebenklägerin zur Begehung der Tat in seine Wohnung brachte, eine schutzlose Lage im Sinne von § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB schuf und ausnutzte. Die Erörterungsmängel betreffen als das Tatbild wesentlich prägende Umstände die Einordnung als minder schweren Fall im Sinne von § 176a Abs. 4 Alt. 2 StGB aF an sich und die Bewertung, ein Abweichen von der Regelwirkung des § 177 Abs. 6 StGB sei gerechtfertigt; sie berühren daneben aber auch die Frage, ob die getroffene „Täter-Opfer-Ausgleichsvereinbarung“ einen angemessenen Ausgleich der immateriellen Straftatfolgen hätte herbeiführen können, so dass sich auch insoweit die Annahme eines Täter-Opfer-Ausgleichs im Sinne von § 46a Nr. 1 StGB als rechtsfehlerhaft erweist. Im Einzelnen:

aa) Gewalt im Sinne von § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB ist die eigene Kraftentfaltung des Täters auf das Opfer, um damit geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden (vgl. BGH, Urteil vom 15. Juli 2020 - 6 StR 7/20, NStZ-RR 2020, 312; Beschluss vom 12. Dezember 2018 - 5 StR 451/18, BGHR StGB § 177 nF Abs. 5 Gewalt 1). Dafür könnte hier schon ausgereicht haben, wenn der Angeklagte sich auf das Mädchen gelegt oder dieses festgehalten hätte, um es auszuziehen, oder wenn er es, um den Geschlechtsverkehr durchzuführen, körperlich fixiert oder auf das Bett gedrückt oder geschubst hätte (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 10. Februar 2011 - 4 StR 566/10; NStZ 2011, 456, 457 mwN; Beschluss vom 12. Dezember 2018 - 5 StR 451/18, BGHR StGB § 177 nF Abs. 5 Gewalt 1). Da die Nebenklägerin dem Angeklagten „bei seiner körperlichen Annäherung unmissverständlich verdeutlicht hatte“, den Geschlechtsverkehr mit ihm nicht durchführen zu wollen, lag es nicht fern, dass er zur Überwindung ihres entgegenstehenden Willens Gewalt in diesem Sinne anwendete; ob dies tatsächlich der Fall war, kann der Senat mangels näherer Feststellungen zum konkreten Tathergang nicht prüfen.

bb) Eine schutzlose Lage im Sinne von § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB liegt bei der nach geltendem Recht gebotenen rein objektiven Betrachtungsweise vor, wenn sich das Opfer dem überlegenen Täter allein gegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn nach zusammenfassender Bewertung die Möglichkeiten des Täters, mit Gewalt auf das Opfer einzuwirken, größer sind als die Möglichkeiten des Tatopfers, sich solchen Einwirkungen des Täters mit Erfolg zu entziehen, ihnen erfolgreich körperlichen Widerstand entgegenzusetzen oder die Hilfe Dritter zu erlangen. Eine gänzliche Beseitigung jeglicher Verteidigungsmöglichkeiten ist nicht vorausgesetzt (vgl. BGH, Urteil vom 2. Juli 2020 - 4 StR 678/19, BGHSt 65, 62, 67 Rn. 15 mwN). Angesichts des vom Angeklagten gewählten Tatorts in seiner von ihm allein bewohnten Wohnung, der Abwesenheit schutzbereiter Dritter und insbesondere des Alters der Nebenklägerin und ihrer körperlichen Unterlegenheit waren die Voraussetzungen einer schutzlosen Lage objektiv gegeben; die Jugendkammer hätte sich deshalb bei der Prüfung des Schuldumfangs dazu verhalten müssen.

c) Die von der Strafkammer zur Begründung des minder schweren Falls herangezogenen allgemeinen Milderungsgründe begegnen zum überwiegenden Teil durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

aa) Die Berücksichtigung des Fehlens einschlägiger Vorstrafen erweist sich als rechtsfehlerhaft, weil das Landgericht damit das Fehlen eines Strafschärfungsgrunds tragend strafmildernd berücksichtigt hat. Insoweit gilt:

Das Vorliegen insbesondere einschlägiger Vorstrafen stellt einen Strafschärfungsgrund dar (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. März 2023 - 5 StR 21/23 Rn. 9; vom 7. März 2023 - 3 StR 4/23 Rn. 4; vom 2. Februar 2023 - 4 StR 293/22 Rn. 8; Urteil vom 22. Juni 2006 - 3 StR 88/06, NStZ-RR 2006, 337). Umgekehrt vermag das Fehlen von Strafschärfungsgründen regelmäßig eine Strafmilderung nicht zu begründen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 13. April 2023 - 4 StR 429/22 Rn. 31; vom 2. Juni 2022 - 3 StR 472/21, JR 2022, 605 Rn. 10; vom 12. Februar 2015 - 5 StR 536/14 Rn. 3; vom 5. März 1997 - 2 StR 641/96; vom 7. November 1973 - 3 StR 186/73). Hier kommt hinzu, dass die Jugendkammer bei ihrem Abstellen auf die fehlende Einschlägigkeit der -immerhin neun - Vorstrafen nicht erkennbar in den Blick genommen hat, dass jedenfalls eine Verurteilung die Verbreitung pornographischer Schriften betraf und damit ein Delikt aus dem nämlichen 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ wie die beiden durch die vorliegende Tat verwirklichten Straftatbestände, und das zudem mit dem Jugendschutz (vgl. MüKoStGB/Hörnle, 4. Aufl., § 184 Rn. 2 mwN) eine ähnliche Schutzrichtung hat wie § 176a StGB aF.

bb) Auch die strafmildernde Berücksichtigung des Umstandes, dass es keine Hinweise auf eine Kenntnis des Angeklagten von den genauen Lebensverhältnissen der Nebenklägerin in Tschechien gegeben habe, begegnet durchgreifenden revisionsrechtlichen Bedenken.

Wiederum ist nicht nachvollziehbar, warum die nicht feststellbare Kenntnis von der Notlage, in der sich die Nebenklägerin befand - die das Gegenteil belegende Mitteilung an die tschechische Polizei und die sichergestellte Chat-Nachricht des Angeklagten stammen von Zeitpunkten nach der Tatbegehung -, ihn entlasten sollte; umgekehrt würde es das Tatbild erschweren, wenn der Angeklagte schon bei Tatbegehung genaue Kenntnis vom fremdbestimmten Einsatz der Nebenklägerin als Kinderprostituierte gehabt und sich über diese Kenntnis hinweggesetzt hätte. Auch insoweit durfte aber im Rahmen der Erfassung der Gesamtumstände der Tat nicht unerörtert bleiben, dass die Nebenklägerin dem Angeklagten ihr Alter ausdrücklich mitgeteilt, ihn um Hilfe und darum gebeten hatte, sie zu ihrer Mutter zu bringen, was der Angeklagte mit fadenscheiniger Begründung ablehnte, bevor er an ihr gegen ihren Willen den Geschlechtsverkehr vollzog.

d) Da bereits die vorgenannten Rechtsfehler zur Aufhebung der Einzelstrafe nötigen, bedarf es keiner Entscheidung, ob die Strafe sich hier zudem so weit nach unten von ihrer Bestimmung gelöst hat, gerechter Schuldausgleich zu sein, dass sie nicht mehr innerhalb des Spielraums lag, der dem Landgericht bei der Strafzumessung eingeräumt war (vgl. dazu etwa BGH, Urteile vom 27. Oktober 1970 - 1 StR 423/70, BGHSt 24, 132, 133; vom 17. September 1980 - 2 StR 355/80, BGHSt 29, 319, 320 mwN).

2. Die Aufhebung der Einzelstrafe entzieht der Gesamtstrafe und der Bewährungsentscheidung die Grundlage. Auf etwaige weitere Rechtsfehler bei der Gesamtstrafenbildung oder die - wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat - rechtsfehlerhaften, den Anforderungen insbesondere an das Vorliegen besonderer Umstände im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB nicht ansatzweise genügenden Ausführungen der Jugendkammer zur Aussetzung der Strafe zur Bewährung kommt es damit nicht mehr an. Bei der Bewährungsentscheidung wäre zudem in den Blick zu nehmen gewesen, dass der Angeklagte sich ausweislich der von ihm stammenden Chat-Nachricht auch Monate nach der Tat noch in Kenntnis des wahren Alters der Nebenklägerin im Menschenhandelsmilieu zu einer Bewertung ihrer Fähigkeiten als Prostituierte verstand.

3. Die Sache bedarf daher zum Strafausspruch umfassend neuer Verhandlung und Entscheidung. Die - rechtsfehlerfrei getroffenen - zugehörigen Feststellungen werden von den Wertungsfehlern nicht berührt und können deshalb bestehen bleiben; insoweit bleibt die Revision der Staatsanwaltschaft ohne Erfolg. Ergänzende Feststellungen sind möglich, soweit sie den bisherigen nicht widersprechen; insbesondere zu den näheren Umständen der konkreten Tatbegehung und zu den bislang nicht in den Blick genommenen Folgen der Tat für die Nebenklägerin erscheinen sie auch geboten.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 228

Bearbeiter: Christian Becker