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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 223

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 453/23, Beschluss v. 06.12.2023, HRRS 2024 Nr. 223


BGH 5 StR 453/23 - Beschluss vom 6. Dezember 2023 (LG Bremen)

Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten (Abwesenheit; Hauptverhandlung; Ausnahmen; Sicherungsverfahren; absoluter Revisionsgrund).

§ 230 Abs. 1 StPO; § 415 StPO; § 338 Nr. 5 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Nach § 230 Abs. 1 StPO findet eine Hauptverhandlung gegen einen ausgebliebenen Angeklagten nicht statt; seiner Abwesenheit steht grundsätzlich seine Verhandlungsunfähigkeit gleich. Daraus folgt, soweit nicht die Abwesenheitsverhandlung ausnahmsweise, etwa nach § 231a StPO gestattet ist, dass ein nach § 338 Nr. 5 StPO zu berücksichtigendes Verbot des Weiterverhandelns gemäß § 230 StPO schon dann vorliegt, wenn das Tatgericht Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten hat.

2. Das Verbot einer Hauptverhandlung gegen den ausgebliebenen Angeklagten ist zwingend, Ausnahmen davon sind nur dort und nur insoweit zulässig, als sie das Gesetz ausdrücklich bestimmt. Eine dieser Ausnahmen ist in § 415 StPO für das Sicherungsverfahren bestimmt. Liegt indes kein Sicherungsverfahren vor, greift auch die Ausnahmeregelung nicht. Die Regelungen für die Hauptverhandlung sind ausnahmslos anzuwenden. Eine Herabsenkung der Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit unter Verweis auf die im Sicherungsverfahren bestehenden Möglichkeiten kommt nicht in Betracht.

3. Stellt sich heraus, dass gegen einen Angeklagten mangels Verhandlungsfähigkeit nicht nach den §§ 226 ff. StPO verhandelt werden kann, ist der Übergang in ein Sicherungsverfahren ausgeschlossen, vielmehr muss das Verfahren eingestellt werden. Die Staatsanwaltschaft hat sodann nach ihrem Ermessen zu entscheiden, ob nach § 413 StPO ein Sicherungsverfahren durchgeführt werden soll, das sie gemäß § 414 StPO durch einen entsprechenden Antrag einzuleiten hat.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bremen vom 26. April 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls in drei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 50 Tagessätzen zu je fünf Euro verurteilt, ihn im Übrigen freigesprochen, seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner auf eine Verfahrensbeanstandung und die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Verfahrensrüge Erfolg.

1. Mit ihr macht die Verteidigung den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO iVm § 230 Abs. 1 StPO geltend, weil der Angeklagte zumindest an den ersten beiden Hauptverhandlungstagen nicht verhandlungsfähig gewesen sei.

a) Der Beanstandung liegt folgender Verfahrenssachverhalt zugrunde: Einen Tag vor Beginn der Hauptverhandlung am 20. Februar 2023 stellte der Verteidiger den Antrag, den ersten Hauptverhandlungstermin wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten aufzuheben und eine Stellungnahme der behandelnden Ärzte zur Verhandlungsfähigkeit, Aussagetüchtigkeit und Konzentrationsfähigkeit des Angeklagten sowie deren vermutlicher Dauer einzuholen. Begründet wurde dies damit, dass eine Terminsvorbereitung mit dem Angeklagten infolge psychischer Beeinträchtigung und Anzeichen von optischen und akustischen Halluzinationen nicht möglich gewesen sei. Ohne Erkundigungen des Gerichts zur Verhandlungsfähigkeit begann am nächsten Tag die Hauptverhandlung. Auf die Erklärung des Verteidigers, er halte den Angeklagten nicht für verhandlungsfähig, ordnete der Vorsitzende der Strafkammer an, dass die Hauptverhandlung nicht unterbrochen werden sollte, weil „ja insbesondere in der Hauptverhandlung geklärt werden [solle], ob die vorgeworfenen Taten im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen wurden“; die einzelnen Termine sollten aber maximal drei Stunden dauern. Der Verteidiger beantragte daraufhin erneut, den Termin aufzuheben und ein Sachverständigengutachten zur Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten einzuholen.

In der folgenden Befragung zur Person gab der Angeklagte ein unzutreffendes Geburtsjahr an und konnte seinen Geburtsort nicht namentlich benennen; seine Antwort auf die Frage nach seiner Staatsangehörigkeit war unverständlich. Weitere Fragen wurden daraufhin nicht mehr gestellt. In der Folge beanstandete der Verteidiger die vom Vorsitzenden angeordnete Fortführung der Hauptverhandlung und beantragte eine Entscheidung des Gerichts, worauf die Strafkammer die Anordnung des Vorsitzenden ohne nähere Begründung bestätigte. Sodann wurden insbesondere die verfahrensgegenständlichen Anklageschriften und ein Strafbefehl sowie die zugehörigen Eröffnungs- und Verbindungsbeschlüsse verlesen, bevor die Hauptverhandlung für diesen Tag unterbrochen wurde.

Zwischen dem ersten und dem neun Tage später liegenden zweiten Hauptverhandlungstag ergriff das Landgericht keine Maßnahmen, um die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten aufzuklären. Der Verteidiger erkundigte sich aber bei dem den Angeklagten behandelnden Oberarzt, der ihm mitteilte, dass der Angeklagte an einer floriden Psychose mit - eher unwahrscheinlich - nicht auszuschließenden optischen sowie wahrscheinlichen akustischen Halluzinationen leide, weshalb seine Konzentrationsfähigkeit stark eingeschränkt sei, krankheitsbedingte Verkennungen, Irrtümer und Verständnisprobleme zudem erwartbar seien. Zu Beginn des zweiten Hauptverhandlungstages am 1. März 2023 stellte der Verteidiger deshalb den Antrag, das Verfahren wegen vorübergehender Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten vorläufig einzustellen, hilfsweise die Hauptverhandlung auszusetzen, und beantragte erneut, ein Sachverständigengutachten zum Beweis der Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten einzuholen.

Diese Anträge wies die Strafkammer außerhalb der Hauptverhandlung mit Beschluss vom 8. März 2023 zurück. Die Verteidigung verkenne die Anforderungen an eine Verhandlungsunfähigkeit im vorliegenden Verfahren, das „ja gerade anhängig [sei], weil eine krankheitsbedingte Schuldunfähigkeit und eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB zu prüfen ist. Das Verfahren näher[e] sich somit einem Sicherungsverfahren gemäß §§ 413 ff. StPO an“, in dem „gänzlich ohne den Beschuldigten die Hauptverhandlung durchgeführt werden“ könne. Deshalb dürften an die Verhandlungsfähigkeit des verteidigten Angeklagten „keine überzogenen Anforderungen gestellt werden.“ Der Angeklagte habe in den vergangenen zwei Hauptverhandlungstagen zwar „offensichtlich krankheitsbedingte Auffälligkeiten“ aufgewiesen, habe aber „im ganzen Satz“ zum Ausdruck bringen können, dass er nicht aussagen wolle; die Strafkammer habe nicht bemerken können, dass der Angeklagte überhaupt nicht erkannt habe, in welcher Situation er sich vor Gericht befinde. Eine Rücksprache mit dem behandelnden Oberarzt habe ergeben, dass der Angeklagte „zur Zeit mittels einer Depotmedikation recht gut eingestellt sei“. Er „sei nicht signifikant stärker als andere psychotisch erkrankte Menschen“ in seiner Möglichkeit beeinträchtigt, an einer ihn betreffenden Gerichtsverhandlung teilzunehmen. Die Hauptverhandlung wurde an sechs weiteren Hauptverhandlungstagen gegen den Angeklagten geführt; am 8. Hauptverhandlungstag wurde das Urteil gesprochen.

b) Mit dieser Verfahrensweise hat das Landgericht jedenfalls an den ersten beiden Hauptverhandlungstagen im Sinne von § 338 Nr. 5 StPO in Abwesenheit des Angeklagten als einer Person verhandelt, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt. Nach § 230 Abs. 1 StPO findet eine Hauptverhandlung gegen einen ausgebliebenen Angeklagten nicht statt; seiner Abwesenheit steht grundsätzlich seine Verhandlungsunfähigkeit gleich. Daraus folgt, soweit nicht die Abwesenheitsverhandlung ausnahmsweise, etwa nach § 231a StPO gestattet ist, dass ein nach § 338 Nr. 5 StPO zu berücksichtigendes Verbot des Weiterverhandelns gemäß § 230 StPO schon dann vorliegt, wenn das Tatgericht Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten hat (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juli 1984 - 5 StR 449/84, NStZ 1984, 520).

Dem muss der Fall gleichstehen, in dem das Tatgericht bestehende Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit nur deshalb meint überwinden zu können, weil es einen rechtlich unzutreffenden Maßstab an die Verhandlungsfähigkeit anlegt. So verhält es sich hier:

Die Strafkammer hatte - wie sie es in dem Beschluss vom 8. März 2023, aber auch in dem angefochtenen Urteil ausgeführt hat - objektive Gründe, an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zu zweifeln, bei dem sie selbst „offensichtlich krankheitsbedingte Auffälligkeiten“ festgestellt hatte und den sie als „oftmals nur schwer erreichbar“ bezeichnete. Auch die durch den Verteidiger zwischen dem ersten und zweiten Hauptverhandlungstag von dem behandelnden Arzt eingeholten Informationen, nach denen der Angeklagte an einer floriden Psychose mit jedenfalls wahrscheinlichen akustischen Halluzinationen litt, boten nach den oben angegebenen Grundsätzen Anlass zur Abklärung der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten unter Hinzuziehung fachkundiger Personen, zu der sich der Vorsitzende der Strafkammer aber erst in der Zeit nach dem zweiten Hauptverhandlungstag und vor Absetzung des Beschlusses der Strafkammer vom 8. März 2023 verstand. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Strafkammer aber bereits an zwei Hauptverhandlungstagen gegen das Verbot des Weiterverhandelns verstoßen.

Dem steht - anders als der Generalbundesanwalt meint - nicht entgegen, dass die Strafkammer Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten möglicherweise überwinden zu können glaubte, weil der Angeklagte die Geltendmachung seines Schweigerechts „im ganzen Satz“ zum Ausdruck bringen konnte und nicht zu bemerken gewesen sei, dass der Angeklagte „überhaupt nicht erkannt [habe], in welcher Situation er sich vor Gericht“ befunden habe. Unbeschadet des Umstands, dass damit der Begriff der Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 2. Februar 2022 - 5 StR 390/21 Rn. 12, BGHSt 67, 12) nicht zutreffend erfasst ist, haftet einer daraus erkennbaren eigenen Überprüfung der Verhandlungsfähigkeit darüber hinaus der Makel an, dass die Strafkammer ihrer Prüfung einen falschen Maßstab zugrunde gelegt hat: Wird eine Hauptverhandlung im Sinne des sechsten Abschnitts des zweiten Buches der Strafprozessordnung (§§ 226 ff. StPO) gegen einen Angeklagten geführt, sieht § 230 Abs. 1 StPO - wie dargelegt - die Anwesenheit des Angeklagten verpflichtend vor. Das Verbot einer Hauptverhandlung gegen den ausgebliebenen Angeklagten ist zwingend, Ausnahmen davon sind nur dort und nur insoweit zulässig, als sie das Gesetz ausdrücklich bestimmt (LRStPO/Becker, 27. Aufl., § 230 Rn. 3 mwN). Eine dieser Ausnahmen ist in § 415 StPO für das Sicherungsverfahren bestimmt. Liegt indes - wie hier - kein Sicherungsverfahren vor, greift auch die Ausnahmeregelung nicht. Die Regelungen für die Hauptverhandlung sind ausnahmslos anzuwenden. Das Landgericht durfte deshalb nicht unter Hinweis auf die im Sicherungsverfahren bestehenden Möglichkeiten die Anforderungen an die Anwesenheit und damit auch die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten absenken. Denn stellt sich heraus, dass gegen einen Angeklagten mangels Verhandlungsfähigkeit nicht nach den §§ 226 ff. StPO verhandelt werden kann, ist ein Übergang in ein Sicherungsverfahren ausgeschlossen, vielmehr muss das Verfahren eingestellt werden (vgl. BGH, Urteil vom 23. März 2001 - 2 StR 498/00, BGHSt 46, 345, 346; Beschluss vom 21. Juni 2016 - 5 StR 266/16, NStZ 2016, 693). Die Staatsanwaltschaft hat sodann nach ihrem Ermessen zu entscheiden, ob nach § 413 StPO ein Sicherungsverfahren durchgeführt werden soll, das sie gemäß § 414 StPO durch einen entsprechenden Antrag einzuleiten hat (vgl. LRStPO/Gaede, 27. Aufl., § 416 Rn. 17). Dieses Regelungsgefüge würde unterlaufen, wenn die Anforderungen an die Verhandlungsfähigkeit in Fällen wie dem vorliegenden abgesenkt würden.

Es trifft entgegen der Auffassung des Landgerichts deshalb nicht zu, dass - solange gegen einen Angeklagten kein Sicherungsverfahren geführt wird - die Frage der Verhandlungsfähigkeit in Fällen, in denen „eine krankheitsbedingte Schuldunfähigkeit und eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB zu prüfen ist“, anders zu beurteilen wäre, als in jedem anderen subjektiven Strafverfahren. Vielmehr führt eine in einem solchen Verfahren festgestellte Schuldunfähigkeit zum Freispruch und gegebenenfalls zu einer Maßregel, etwa nach § 63 StGB (vgl. BGH, Urteil vom 23. März 2001 - 2 StR 498/00, BGHSt 46, 345, 347); die Frage der Verhandlungsfähigkeit - deren Fehlen stellt im Übrigen eine gesonderte Voraussetzung eines Sicherungsverfahrens dar (§ 413 StPO; vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 2. Februar 2022 - 5 StR 390/21 Rn. 5, BGHSt 67, 12) - bleibt davon unberührt.

2. Nach alledem führt der Verfahrensfehler zur Aufhebung des Urteils insgesamt, ohne dass es darauf ankommt, ob er sich auf die Urteilsfindung ausgewirkt hat, § 338 Nr. 5 StPO.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 223

Bearbeiter: Christian Becker