HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 717
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 390/21, Beschluss v. 02.02.2022, HRRS 2022 Nr. 717
Die Revision des Beschuldigten gegen das Urteil des Landgerichts Kiel vom 28. Juli 2021 wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet (§ 63 StGB). Mit seiner hiergegen gerichteten Revision macht der Beschuldigte ein Verfahrenshindernis geltend und rügt die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Der Erörterung bedarf nur Folgendes:
Ein Verfahrenshindernis besteht nicht. Die Vernehmungsfähigkeit des Beschuldigten ist keine Verfahrensvoraussetzung für das Sicherungsverfahren.
1. Die Verteidigung stützt sich für die Annahme der Unzulässigkeit der Durchführung des Sicherungsverfahrens auf folgende Umstände: Der Beschuldigte war in der Hauptverhandlung zunächst noch anwesend. Als ihm Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden war, hat er zwar versucht, hiervon Gebrauch zu machen, indes keinen zusammenhängenden Satz bilden können. Akustisch war er kaum zu verstehen und dem Geäußerten inhaltlich kein Sinn zu entnehmen. Sachverständig beraten ist das Landgericht davon ausgegangen, dass „der Beschuldigte nicht nur dauerhaft verhandlungs-, sondern auch vernehmungsunfähig“ gewesen ist.
Die Revision ist der Ansicht, dass der Beschuldigte zwar nicht verhandlungsfähig, aber vernehmungsfähig sein müsse. Insoweit unterscheide sich das Sicherungsverfahren nicht vom Strafverfahren. Das Erfordernis der Vernehmungsfähigkeit ergebe sich zudem aus § 415 Abs. 2 und 3 StPO (so auch LG Aachen, Urteil vom 11. Dezember 2020 - 60 KLs 15/19, juris; MüKoStPO/Putzke/Scheinfeld, § 413 Rn. 14; KMRStPO/Metzger, 96. EL März 2020, § 415 Rn. 12; KKStPO/Maur, 8. Aufl., § 415 Rn. 6: bei dauerhafter Vernehmungsunfähigkeit scheide in der Regel ein Sicherungsverfahren aus). Ein nicht vernehmungsfähiger Beschuldigter sei zu einer sachgemäßen Verteidigung nicht in der Lage und es sei unvertretbar, seine Beteiligungsrechte hinter die Sicherungsinteressen der Allgemeinheit zurücktreten zu lassen. Diese Defizite seien durch einen Pflichtverteidiger nicht zu kompensieren.
2. Dem ist nicht zu folgen. Vielmehr gilt: Das Sicherungsverfahren kann unabhängig vom psychischen Zustand des Beschuldigten durchgeführt werden. Dies ergibt sich aus dem Regelungszusammenhang der §§ 413 ff. StPO und des § 71 Abs. 1 StGB.
a) Der Anwendungsbereich des Sicherungsverfahrens ist nach § 413 StPO, § 71 Abs. 1 StGB eröffnet, wenn das Verfahren wegen Schuldunfähigkeit oder Verhandlungsunfähigkeit nicht durchgeführt werden kann. Die Verhandlungsfähigkeit kann daher von vornherein nicht Voraussetzung des Sicherungsverfahrens sein (BGH, Beschluss vom 18. November 2021 - 3 StR 419/21); sie stellt vielmehr einen der Anwendungsfälle des selbständigen Verfahrens zur Anordnung von Sicherungsmaßregeln dar. Dass mit der Möglichkeit der Durchführung des Sicherungsverfahrens gegen einen verhandlungsunfähigen Beschuldigten eine Einschränkung der persönlichen Ausübung seiner prozessualen Beteiligungsrechte einhergeht, weil wesentliche Rechte des Beschuldigten nicht in gleicher Weise wie im Strafverfahren gewährleistet werden können, liegt in der Natur des Verfahrens begründet und ist vom Gesetzgeber bewusst hingenommen worden (vgl. BGH, Urteil vom 23. März 2001 - 2 StR 498/00, BGHSt 46, 345, 348; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2018, 148, 149).
b) An zusätzliche subjektive Voraussetzungen hat der Gesetzgeber das Sicherungsverfahren als eine Art objektives Verfahren (vgl. BGH, Urteil vom 23. März 2001 - 2 StR 498/00, BGHSt 46, 345, 348; vom 25. Juni 1968 - 5 StR 191/68, BGHSt 22, 185, 186) nicht geknüpft. Dementsprechend ist die Vernehmungsfähigkeit des Beschuldigten keine Voraussetzung zur Durchführung des Verfahrens nach §§ 413 ff. StPO (vgl. OLG Frankfurt, NStZ-RR 2018, 148; BeckOK StPO/Temming, 42. Ed., 1.1.2022, § 415 Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 414 Rn. 1; LRStPO/Gaede, 27. Aufl., § 415 Rn. 7; Eb. Schmidt, Lehrkommentar StPO II, § 429c Rn. 19).
aa) Das Erfordernis der Vernehmungsfähigkeit folgt nicht aus der in § 414 Abs. 1 StPO geregelten sinngemäßen Anwendbarkeit der Vorschriften über das Strafverfahren für das Sicherungsverfahren. Zwar wird im Strafverfahren die Vernehmungsfähigkeit insoweit als Bestandteil der Verhandlungsfähigkeit angesehen, als eine Stellungnahme des Beschuldigten in Frage steht (vgl. LRStPO/Stuckenberg, 27. Aufl., § 205 Rn. 22). Dieses Erfordernis lässt sich jedoch auf das Sicherungsverfahren nicht sinngemäß übertragen, da es dessen Zweck widerstreiten würde. Dieser liegt darin, die Allgemeinheit auch bei Undurchführbarkeit des Strafverfahrens vor gefährlichen - aber schuld- oder verhandlungsunfähigen - Tätern unabhängig von ihrem psychischen Zustand zu schützen. Eine solche Unabhängigkeit des Verfahrens von in der Person des Beschuldigten liegenden Hindernissen findet Bestätigung in der mit Einführung der § 71 StGB, §§ 413 ff. StPO geschaffenen erweiterten Möglichkeit der selbständigen Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung. Diese sollten sowohl gegen zur Tatzeit schuldunfähige und aufgrund ihres Zustands verhandlungsunfähige Täter angeordnet werden können als auch gegen Beschuldigte, die aufgrund eines von dem Zustand zur Tatzeit unabhängigen nachträglichen Ereignisses verhandlungsunfähig werden (vgl. BT-Drucks. 7/550 S. 306 f.). Dies zeigt, dass sich das Sicherungsverfahren insoweit von seiner Ausgestaltung her wesentlich vom Strafverfahren unterscheidet (vgl. BGH, Urteil vom 23. März 2001 - 2 StR 498/00, BGHSt 46, 345, 348; vgl. auch LRStPO/Gaede, 27. Aufl., Vor § 413 Rn. 4: kein echtes Strafverfahren, das an die Verhandlungsfähigkeit gebunden wäre).
bb) Auch aus § 415 Abs. 2 und 3 StPO ergibt sich nicht, dass die Durchführbarkeit des Sicherungsverfahrens von der Vernehmungsfähigkeit des Beschuldigten abhängig ist (vgl. OLG Frankfurt, NStZ-RR 2018, 148, 149; LRStPO/Gaede, 27. Aufl., § 415 Rn. 7; aA KMRStPO/Metzger, 7 8 96. EL März 2020, § 415 Rn. 12; SKStPO/Degener, 5. Aufl., § 415 Rn. 5; AKStPO/Keller, § 415 Rn. 6).
(1) Das Gericht kann nach § 415 Abs. 1 StPO ohne den Beschuldigten verhandeln, wenn sein Erscheinen vor Gericht wegen seines Zustands unmöglich oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung unangebracht ist; in diesen Fällen ist eine sogenannte Vorvernehmung durch einen beauftragten Richter unter Hinzuziehung eines Sachverständigen vorgesehen, § 415 Abs. 2 Satz 1 StPO. Nach § 415 Abs. 3 StPO kann zudem nach der Vernehmung des Beschuldigten zur Sache die Hauptverhandlung ohne ihn durchgeführt werden, wenn die Rücksicht auf seinen Zustand dies fordert oder eine ordnungsgemäße Durchführung der Hauptverhandlung sonst nicht möglich ist.
(2) Schon aus dem Wortlaut ergibt sich nur das Erfordernis einer Vernehmung, nicht aber, dass der Beschuldigte in der Lage sein muss, in der Vernehmungssituation seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen. Vielmehr ist das Erfordernis der Vernehmung auf die Besonderheiten des Sicherungsverfahrens zugeschnitten und in dem Sinne zu verstehen, dass sich das Gericht wenigstens mittelbar einen Eindruck von der Persönlichkeit und dem Zustand des Beschuldigten verschaffen und ihm die Möglichkeit geben soll, Gehör zu finden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 415 Rn. 4; LR/Gaede, 27. Aufl., § 415 Rn. 5; SSWStPO/Rosenau, 4. Aufl., § 415 Rn. 6). Insbesondere soll dem Gericht hierdurch ermöglicht werden, sich von der Verhandlungsunfähigkeit zu überzeugen und so die Rechtmäßigkeit der Verhandlung in Abwesenheit des Beschuldigten sicherzustellen (vgl. BGH, Urteil vom 13. November 1951 - 1 StR 597/51, BGHSt 2, 1, 4). Inhalt und Umfang richten sich danach, inwieweit eine Verständigung zustandsbedingt möglich ist (vgl. OLG Frankfurt, NStZ-RR 2018, 148, 149; LRStPO/Gaede, 27. Aufl., § 415 Rn. 7). Zwar darf zur Gewährleistung des elementaren Rechts auf rechtliches Gehör auf die gesetzlich vorgesehene Vernehmung nicht verzichtet werden; erweist sich die Fortsetzung aber im Verlauf der Vernehmung als sinnlos, kann sie abgebrochen werden (vgl. BeckOK StPO/Temming, 42. Ed., 1.1.2022, § 415 Rn. 2; vgl. auch LRStPO/Gaede, 27. Aufl., § 415 Rn. 2: Bemühen bis zur faktischen Grenze der Verständigungsmöglichkeit).
(3) Würde man demgegenüber für diesen Verfahrensteil die Vernehmungsfähigkeit im Sinne strafverfahrensrechtlicher Maßstäbe fordern, ließe dies die gesetzgeberische Intention, die selbständige Anordnung von Maßregeln auch gegen gefährliche, aber verhandlungsunfähige Täter zu ermöglichen, weitgehend leerlaufen.
Nach allgemeiner Ansicht bedeutet Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne, dass der Beschuldigte in der Lage sein muss, seine Interessen in und außerhalb der Verhandlung vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. Februar 1995 - 2 BvR 345/95, NJW 1995, 1951; vom 7. März 1995 - 2 BvR 1509/94, NStZ-RR 1996, 38; BGH, Beschluss vom 8. Februar 1995 - 5 StR 434/94, BGHSt 41, 16; Urteil vom 4. Juli 2018 - 5 StR 46/18, NStZ-RR 2018, 320 [sogenannte Verteidigungsfähigkeit unter Bezugnahme auf Widmaier, NStZ 1995, 361]; KKStPO/Schneider, 8. Aufl., § 205 Rn. 9; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., Einl. 97; LRStPO/Stuckenberg, 27. Aufl., § 205 Rn. 20; MüKoStPO/Wenske, § 205 Rn. 18). Die Anforderungen an die Fähigkeit zur vernünftigen Interessenwahrnehmung sind dabei je nach Verfahrenslage unterschiedlich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 1995 - 2 BvR 345/95, NJW 1995, 1951; BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 - 5 StR 46/18, NStZ-RR 2018, 320; LRStPO/Stuckenberg, 27. Aufl., § 205 Rn. 17; KKStPO/Schneider, 8. Aufl., § 205 Rn. 9; MüKoStPO/Wenske, § 205 Rn. 24 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., Einl. Rn. 97; Widmaier, NStZ 1995, 361, 362; Bischoff/Kusnik/Bünnigmann, StraFo 2015, 222; Rath, GA 1997, 214, 224).
In Vernehmungssituationen kommt es für den Beschuldigten darauf an, ob er in der Lage ist zu entscheiden, ob und inwieweit er sich äußern will, die gegen ihn gerichteten Vorwürfe und im Zusammenhang damit gestellte Fragen oder Vorhalte geistig zu erfassen und den Inhalt seiner Aussage zu überblicken (vgl. LRStPO/Becker, 27. Aufl., § 231a Rn. 14; KKStPO/Gmel, 8. Aufl., § 231a Rn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 231a Rn. 11; Groh/Werner in: Weber kompakt, Rechtswörterbuch, 5. Edition 2021, Verhandlungsfähigkeit, beckonline).
Diese Begriffsbestimmungen erhellen, dass sich die Anforderungen an den psychischen Zustand bei der Verhandlungsfähigkeit einerseits und der Vernehmungsfähigkeit andererseits nicht substantiell unterscheiden, wenn auch der prozessuale Bezugspunkt ein anderer ist. Ein aufgrund seines geistigen Zustands dauerhaft Verhandlungsunfähiger wird nur in Ausnahmefällen (etwa wenn die Verhandlungsunfähigkeit durch die konkrete Prozesssituation ausgelöst wird) vernehmungsfähig im strafverfahrensrechtlichen Sinne sein.
c) Zum Ausgleich etwaiger Defizite des Beschuldigten bei der Wahrnehmung der ihm gesetzlich eingeräumten Rechte sieht das Gesetz für das Sicherungsverfahren in § 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO die Mitwirkung des notwendigen Verteidigers vor (vgl. auch BT-Drucks. 19/4467 S. 13). Dies entspricht den Anforderungen der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. L 65 vom 11. März 2016), die auch auf Verfahren, die die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus zum Gegenstand haben, Anwendung findet (EuGH, Urteil vom 19. September 2019 - C-467/18, Rn. 41 ff.).
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 717
Bearbeiter: Christian Becker