HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 709
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 74/22, Beschluss v. 10.05.2022, HRRS 2022 Nr. 709
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kiel vom 12. Oktober 2021 mit den jeweils zugehörigen Feststellungen aufgehoben 1. im Fall II.1 der Urteilsgründe, 2. im Gesamtstrafen- und im Maßregelausspruch sowie hinsichtlich der aufrechterhaltenen Einziehungsentscheidung.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung und wegen Diebstahls unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) angeordnet. Von einem weiteren Tatvorwurf hat es ihn freigesprochen und die Einziehung von Wertersatz aus einem früheren Urteil nach § 55 Abs. 2 StGB aufrechterhalten.
Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat weitgehend Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Nach den Urteilsfeststellungen befand sich der Angeklagte am 6. Juli 2017 in Strafhaft. Dort wurde er zu Unrecht - durch das angefochtene Urteil ist er von diesem Vorwurf rechtskräftig freigesprochen worden - bezichtigt, einem Mitgefangenen leichte Brandverletzungen zugefügt zu haben. Als der Angeklagte von der Beschuldigung erfuhr, reagierte er verbal aggressiv und beleidigend und wurde für diesen Tag von seiner Arbeitsstelle abgelöst und in seinem Haftraum eingeschlossen. Aufgrund eines vom Angeklagten ausgelösten Notrufs öffnete ein Justizbediensteter, der spätere Geschädigte, den Haftraum, aus dem der Angeklagte heraustrat. Als der Bedienstete verbal, zuletzt mit dem Ruf „Einschluss“, versuchte, den Angeklagten zu einer Rückkehr in den Raum zu bewegen, schlug dieser dem Geschädigten mit der Faust ins Gesicht und traf ihn am Jochbein. Eine Essensschale aus Hartplastik, die der Angeklagte auf den Geschädigten warf, verfehlte diesen. Der Angeklagte schlug den am Boden liegenden Bediensteten noch wenige Male, ehe er von Mitinhaftierten abgehalten wurde. Der Geschädigte erlitt Prellungen am Jochbein und am Kiefer sowie Schmerzen im Gesicht und an den Rippen. Er war für sechs Wochen krankgeschrieben und sah sich etwa ein Jahr lang psychisch nicht in der Lage, mit Inhaftierten zu arbeiten. „Bei Ausführung der Tat war der Angeklagte in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt. Er litt an einer paranoiden Schizophrenie, die ihn darin beeinträchtigte, den Aggressionsimpuls zu regulieren und nach seiner Unrechtseinsicht zu handeln.“ Gestützt auf diese Tat (Fall II.1 der Urteilsgründe), für die das Landgericht eine Einzelstrafe von elf Monaten verhängt hat, hat es die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
Darüber hinaus hat die Strafkammer für einen Ladendiebstahl des Angeklagten im Januar 2019, bei dem seine Schuldfähigkeit unbeeinträchtigt war (Fall II.2 der Urteilsgründe), eine Einzelstrafe von drei Monaten verhängt.
Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die deshalb erforderliche teilweise Aufhebung des Urteils bedingt die weiteren aus der Beschlussformel ersichtlichen Eingriffe in den Schuld- und Strafausspruch sowie die Einziehungsentscheidung. Im Einzelnen:
1. Das Landgericht hat schon seine Bewertung, der Angeklagte habe die Anlasstat im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit begangen, nicht tragfähig begründet. Die beweiswürdigenden Ausführungen hierzu sind lückenhaft.
a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat schuldunfähig oder erheblich vermindert schuldfähig war, und die Tatbegehung hierauf beruht. Dabei muss es sich um einen länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Defekt handeln, der zumindest eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB sicher begründet. Das Tatgericht hat die der Unterbringungsanordnung zugrunde liegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (BGH, Beschluss vom 15. März 2022 - 4 StR 60/22 mwN). Schließt sich das Gericht bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit den Ausführungen eines Sachverständigen an, müssen dessen wesentlichen Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (BGH, Beschlüsse vom 23. Juni 2021 - 4 StR 81/21; vom 13. Januar 2021 - 4 StR 300/20; vom 28. Oktober 2008 - 5 StR 397/08, NStZ-RR 2009, 45; LKStGB/Cirener, 13. Aufl., § 63 Rn. 75 jeweils mwN).
b) Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht. Es bleibt offen, aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen der psychiatrische Sachverständige und ihm folgend die Strafkammer zur Annahme einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Anlasstat gelangt sind.
Nach den Urteilsgründen hat der Angeklagte eine Exploration durch den Sachverständigen nach wenigen Minuten abgebrochen und in der Hauptverhandlung zur Person und zur Sache geschwiegen. Im Urteil erwähnte Eindrücke, die der Sachverständige in der Hauptverhandlung vom Angeklagten gewonnen und seiner Einschätzung zugrunde gelegt hat, werden inhaltlich nicht beschrieben. Auch im Übrigen werden die wesentlichen Anknüpfungstatsachen des Sachverständigen nicht in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise dargestellt. So bleibt offen, welchen Inhalt frühere Gutachten und weitere Unterlagen hatten, auf die der Sachverständige sich bei seiner Einschätzung gestützt hat. Ebenso bleibt unerörtert, ob und gegebenenfalls wie Zeugen den Zustand des Angeklagten bei der Anlasstat geschildert haben.
Daher kann der Senat die Einschätzung des Sachverständigen und des Landgerichts nicht überprüfen, wonach der Angeklagte die Anlasstat im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit begangen habe. Die Erkrankung an einer paranoiden Schizophrenie reicht hierfür für sich genommen nicht aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. Juni 2021 - 4 StR 81/21; vom 25. August 2020 - 2 StR 263/20 mwN). Die vom Sachverständigen mitgeteilten und im Urteil wiedergegebenen wesentlichen Symptome der Erkrankung des Angeklagten - Störungen von Antrieb, Affekt und formalem Denken; schwere inhaltliche Denkstörungen, die mit sozialem Rückzug, Initiativlosigkeit, Interessenverlust, autistisch anmutender Selbstbezogenheit und unberechenbarer Impulsivität auch in aggressiver Form einhergehen; „höchstwahrscheinliche“ paranoide Denkinhalte und Trugwahrnehmungen - bleiben nicht nur überwiegend ohne Beleg, sondern sind auch erkennbar nicht auf den Zeitpunkt der Tatbegehung bezogen; dass sich die Symptome sämtlich bei der Anlasstat ausgewirkt haben könnten, liegt bereits angesichts ihres teilweise gegensätzlichen Charakters nicht nahe. Von einem Wahnerleben bei der Anlasstat ist die Strafkammer nicht ausgegangen.
Soweit sie dem Sachverständigen darin gefolgt ist, dass bei dieser Tat die krankheitsbedingte Reizoffenheit des Angeklagten, der er keinen Filter habe entgegensetzen können, maximalen Stress ausgelöst und zu einem ungesteuerten Entladen der Aggression und Wut geführt habe, bleiben die tatsächlichen Grundlagen auch für diese Annahme unerörtert. Ihre Richtigkeit liegt schon deshalb nicht auf der Hand, weil es sich, soweit ersichtlich, bei den in den Urteilsgründen dargestellten zahlreichen weiteren Verurteilungen des Angeklagten vor und nach der Anlasstat weder um krankheitsbedingte noch - mit einer geringfügigen Ausnahme - um Gewaltstraftaten handelte. Das hätte angesichts der nach sachverständiger Einschätzung bereits jahrelang bestehenden Erkrankung und des Lebens des Angeklagten in gerade nicht reizarmer Obdachlosigkeit der Erörterung bedurft. Zudem legen weder das Tatbild noch die normalpsychologisch zu erklärende Tatmotivation (vgl. zu diesem Aspekt BGH, Beschluss vom 25. August 2020 - 2 StR 263/20 Rn. 16) einen Krankheitsbezug von vornherein nahe. Das hat das Landgericht zwar im Ansatz nicht verkannt (Tat war „nicht völlig realitätsabgekoppelt“ und hatte „einen realen Hintergrund“), aber nicht dargelegt, auf welcher Grundlage es gleichwohl einen sicheren Zusammenhang zwischen Erkrankung und Tat feststellen konnte.
Eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Zeitpunkt der Anlasstat folgt auch nicht ohne Weiteres aus einer vom Anklagevorwurf nicht umfassten Tat des Angeklagten vom 9. Juni 2021, die das Landgericht festgestellt und als krankheitsbedingt bewertet hat, weil zwischen beiden Geschehen beinahe vier Jahre lagen.
2. Auch die vom Landgericht angestellte Gefährlichkeitsprognose begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass von dem Täter infolge seines fortdauernden Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat zu entwickeln und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Täter infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Mai 2019 - 4 StR 135/19 mwN).
b) Diesen Anforderungen werden die Ausführungen des Landgerichts nicht gerecht. Allerdings begegnet es keinen Bedenken, dass die Strafkammer auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen angenommen hat, die Anlasstat sei erheblich iSd § 63 Satz 1 StGB und der Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus stehe unter den hier gegebenen Umständen die Begehung der Anlasstat in einer betreuten Einrichtung nicht entgegen.
Im Rahmen seiner Gesamtwürdigung zur Gefährlichkeitsprognose hat das Landgericht zudem zwar bedacht, dass die Anlasstat bereits mehrere Jahre zurückliegt. Nicht erkennbar berücksichtigt hat es aber, dass der Angeklagte - soweit aus den Urteilsgründen ersichtlich - erstmals im Alter von 25 Jahren mit einer krankheitsbedingten Straftat aufgefallen ist, obwohl er nach der sachverständigen Einschätzung bereits „seit dem mittleren Jugendalter“ erkrankt war. Auch nach der Anlasstat wurde er zwar wegen einer Vielzahl von Straftaten verurteilt, diese hatten aber nach den Urteilsgründen weder einen Krankheits- noch einen Gewaltbezug. Soweit das Landgericht im Anschluss an den Sachverständigen davon ausgegangen ist, dass der Angeklagte ohne protektives Umfeld und in der wenig reizarmen Obdachlosigkeit besonders gefährdet sei, hat es sich nicht dazu verhalten, dass diese Lebensbedingungen bisher noch zu keiner krankheitsbedingten Delinquenz geführt haben.
Maßgeblich hat das Landgericht seine Gefährlichkeitsprognose auf eine „negative Entwicklung“ und einen „sich verschlechternden Zustand“ des Angeklagten gegründet, die es auf den festgestellten, nicht anklagegegenständlichen Vorfall vom 9. Juni 2021 und die Weigerung des Angeklagten, an zwei Hauptverhandlungsterminen teilzunehmen, gestützt hat. Auch dies hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Weigerung des Angeklagten, an zwei Hauptverhandlungsterminen teilzunehmen, belegt ohne nähere Ausführungen eine Verschlechterung seines Zustands nicht. Das gilt insbesondere auch deshalb, weil sich der Angeklagte im ersten Fall doch noch von einer Teilnahme überzeugen ließ und im zweiten Fall nach sachverständiger Einschätzung aus nicht mitgeteilten Gründen verhandlungsunfähig war.
Soweit das Landgericht über den Anklagevorwurf hinaus festgestellt hat, der Angeklagte habe am 9. Juni 2021 in der Strafhaft zwei Justizbedienstete mit der Bemerkung, etwas stimme nicht mit seinem Brot, in seinen Haftraum gebeten und sich dann auf sie gestürzt, wodurch sich die Beamten eine Prellung zugezogen und einen Finger verdreht hätten, hat die Strafkammer angenommen, dass bei diesem Geschehen für den Angeklagten „eine Halluzination handlungsleitend“ war. Für diesen Schluss fehlt es indes an der Darstellung einer tragfähigen Beweisgrundlage. Denn ausweislich der Urteilsgründe hatte der Sachverständige zu diesem Vorfall lediglich bekundet, der Angeklagte habe „vermutlich“ aus einer Vergiftungsangst heraus gehandelt. Wie die Strafkammer auf dieser Tatsachengrundlage zu ihrer Überzeugung gelangt ist, ist weder im Urteil ausgeführt noch sonst ersichtlich.
Da das Landgericht mit dem angenommenen Wahnerleben einen Krankheitsbezug des weiteren festgestellten Geschehens und damit eine Verschlechterung des Zustands des Angeklagten begründet sowie die Gefährlichkeitsprognose ausdrücklich auch auf Fehlwahrnehmungen gestützt hat, erweist sich die Prognose insgesamt als rechtsfehlerhaft.
3. Da bereits die Annahme der eingeschränkten Schuldfähigkeit nicht rechtsfehlerfrei begründet ist, bedürfen der Fall II.1 und die darauf gestützte Maßregelanordnung neuer Verhandlung und Entscheidung. Zwar liegt nach den bisherigen Feststellungen eine aufgehobene Schuldfähigkeit des Angeklagten bei dieser Tat nicht nahe; da sie sich aber nicht ausschließen lässt, hat der Senat insoweit auch den Schuldspruch aufgehoben. Das entzieht der zugehörigen Einzelstrafe, dem Gesamtstrafenausspruch und der aufrechterhaltenen Einziehungsentscheidung die Grundlage. Dagegen ist die Verurteilung im Fall II.2 der Urteilsgründe rechtsfehlerfrei und hat mit der zugehörigen Einzelstrafe Bestand.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 709
Bearbeiter: Christian Becker