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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 478

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 532/22, Beschluss v. 17.01.2023, HRRS 2023 Nr. 478


BGH 5 StR 532/22 - Beschluss vom 17. Januar 2023 (LG Kiel)

Darstellungsanforderungen bei der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

§ 63 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Bei der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Tatgericht mithilfe eines Sachverständigen festzustellen, welchen Ausprägungsgrad und welchen Einfluss die diagnostizierte Störung auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters hat. Seine psychische Funktionsfähigkeit muss durch das psychosoziale Verhaltensmuster bei Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Um dies zu begründen, bedarf es einer konkretisierenden und widerspruchsfreien Darlegung, wie sich die festgestellte, einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstat(en) auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Kiel vom 29. August 2022 mit den Feststellungen aufgehoben; hiervon ausgenommen sind jedoch die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen, die Bestand haben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) angeordnet. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Beschuldigten hat Erfolg.

1. Nach den Feststellungen beging der Beschuldigte im Zustand der Schuldunfähigkeit folgende Tat:

a) Der Beschuldigte überfiel gemeinsam mit einem gesondert Verfolgten dessen 53-jährigen, suchtkranken und unter Betreuung stehenden Wohnungsnachbarn, über den der gesondert Verfolgte geäußert hatte, es handele sich um einen „Kinderficker“. Dass die Äußerung beim Beschuldigten, der - wie der gesondert Verfolgte wusste - selbst Opfer eines Missbrauchs geworden war, starke Aufregung, Wut und Aggressionen auszulösen vermochte, nutzte der gesondert Verfolgte bewusst aus. Nachdem beide die Wohnungstür des Geschädigten eingetreten hatten und er zu Boden gezogen worden war, attackierte ihn der Beschuldigte mit Schlägen und Fußtritten. Im weiteren Verlauf des Geschehens legte der gesondert Verfolgte dem wehrlosen Geschädigten einen Strick aus Nylongurten um den Hals und forderte die Zahlung von 500 Euro, wobei er ihn für den Fall der Nichtzahlung mit dem Tode bedrohte. Nachdem der Geschädigte erklärt hatte, über kein Bargeld zu verfügen, nahm der gesondert Verfolgte ihm das Handy sowie die Geldbörse weg und übergab letztere an den Beschuldigten, der sie einsteckte. Ob der Beschuldigte schon zu diesem Zeitpunkt beabsichtigte, Wertsachen an sich zu bringen, hat die Strafkammer nicht festzustellen vermocht. Jedenfalls während des Aufenthalts in der Wohnung entstand der gemeinsame Tatplan des Beschuldigten und des gesondert Verfolgten, den Geschädigten mit Gewalt und Drohungen zu veranlassen, Geld von einem Konto bei der Sparkasse abzuheben, um es den Tätern zu übergeben. Zu diesem Zweck wurde der Geschädigte mit dem Strick um den Hals, an dem der Beschuldigte heftig zog und riss, zur nahegelegenen Filiale der Sparkasse geführt, wobei ihn der Beschuldigte erneut schlug. Auf das Geschehen aufmerksam gewordene Zeugen verständigten die Polizei, welche beide Täter in den Geschäftsräumen der Sparkasse festnahm. Die Körperverletzungshandlungen, welche Schürf- und Platzwunden unter anderem am Kopf des Geschädigten und eine Rippenserienfraktur sowie einen Pneumothorax verursacht hatten, waren generell dazu geeignet, dessen Tod herbeizuführen.

Eine dem Beschuldigten nur wenige Stunden nach der Tat entnommene Blutprobe ergab einen Wert von 1,16 Promille.

b) Das Landgericht hat die Tat rechtlich als versuchte schwere räuberische Erpressung sowie gefährliche Körperverletzung bewertet (§ 253 Abs. 1, § 253 4 5 Abs. 2, § 255, § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5 StGB). Infolge vollständiger Aufhebung der Einsichtsfähigkeit aufgrund einer schizomanischen Episode im Rahmen einer bestehenden schizoaffektiven Störung habe der Beschuldigte bei Tatbegehung ohne Schuld gehandelt.

2. Die Anordnung der Maßregel hält rechtlicher Prüfung nicht stand, weil sich die Beurteilung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten als durchgreifend rechtsfehlerhaft erweist.

a) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 2016 - 1 StR 594/16, NStZ-RR 2017, 76 f.; vom 12. Oktober 2016 - 4 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 74 f.; vom 10. November 2015 - 1 StR 265/15, NStZ-RR 2016, 76 mwN).

b) Es ist schon nicht nachvollziehbar dargestellt, auf welcher Grundlage sich die Strafkammer vom Vorliegen einer krankhaften seelischen Störung des Beschuldigten im Sinne des § 20 StGB bei Begehung der Anlasstat überzeugt hat.

aa) Nach den Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen, denen das Landgericht gefolgt ist, sei bei dem Beschuldigten eine schizoaffektive Störung (ICD-10: F25), bei der es sich um eine krankhafte seelische Störung handele, „anzunehmen“, so dass man im Tatzeitpunkt „damit von einer schizomanischen Episode ausgehen (ICD-10: F25.0) … müsse“. Zudem sei beim Beschuldigten von einer langjährigen schweren Abhängigkeit von multiplen Substanzen (ICD-10: F19.2) - wahrscheinlich Opioide, Kokain, Cannabis und Benzodiazepine - und tatzeitbezogen von einer Alkoholintoxikation von höchstens 1,98 %, gegebenenfalls in einer Mischung mit Kokain, „auszugehen“. Die Intoxikation „wäre“ zwar ebenfalls als eine krankhafte seelische Störung einzuordnen, sie sei aber nicht als kausal für die Anlasstat zu betrachten.

bb) Diese Ausführungen vermögen schon für sich genommen nicht die Überzeugung der Strafkammer vom Vorliegen der genannten Diagnosen als Anknüpfungspunkt für das angenommene Eingangsmerkmal im Tatzeitpunkt zu tragen. Insbesondere werden die - die Bewertung des Sachverständigen tragenden - Anknüpfungs- und Befundtatsachen im Urteil nicht mitgeteilt. Zu den in diesem Zusammenhang erwähnten „ausgeprägten Denkstörungen“, „Beschreibung der kommentierenden Stimmen“, „Beziehungssetzungen und als Wahnwahrnehmungen zu interpretierenden Symptome[n]“ gibt es keine konkreten Belege, so dass der Senat die vom Sachverständigen herangezogene „Qualität der psychotischen Inhalte“ und die sonstigen Grundlagen der angenommenen Störungen nicht nachzuvollziehen vermag.

Auch der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe lässt den aufgezeigten Darstellungsmangel nicht entfallen. Soweit das Landgericht Krankheitssymptome geschildert hat, die während der mehrfachen Aufenthalte zur suchtmedizinischen und psychiatrischen Behandlung des Beschuldigten seit dem Jahr 1993 festgestellt wurden, hat es sich neben der Wiedergabe der jeweiligen oftmals wechselnden Diagnosen weitgehend auf allgemeine Angaben und Wertungen beschränkt, die für die angenommene schizoaffektive Störung unspezifisch sind. Soweit an einer Stelle konkreter mitgeteilt wird, dass der Beschuldigte im Jahr 2011 geschildert habe, Botschaften aus dem Fernseher zu bekommen, steht dies im Zusammenhang mit einer zum damaligen Zeitpunkt diagnostizierten substanzinduzierten psychotischen Störung.

c) Zudem fehlt es an der notwendigen Erörterung des Ausprägungsgrades der festgestellten Störung und deren Auswirkungen bei der Tatbegehung.

aa) Das Tatgericht hat mithilfe eines Sachverständigen festzustellen, welchen Ausprägungsgrad und welchen Einfluss die diagnostizierte Störung auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters hat. Seine psychische Funktionsfähigkeit muss durch das psychosoziale Verhaltensmuster bei Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Um dies zu begründen, bedarf es einer konkretisierenden und widerspruchsfreien Darlegung, wie sich die festgestellte, einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstat(en) auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind (BGH, Beschluss vom 26. Mai 2020 - 2 StR 114/20; Urteil vom 30. März 2017 - 4 StR 463/16, NStZ-RR 2017, 165 f.; Beschluss vom 28. Januar 2016 - 3 StR 521/15, NStZ-RR 2016, 135).

bb) Zu einer konkreten, auf die diagnostizierte Erkrankung zurückzuführenden Beeinträchtigung des Beschuldigten zum Tatzeitpunkt schweigt das Urteil. Nur pauschal wird auf die zum Tatzeitpunkt bestehende „akute Psychose“ und eine „paranoide Verkennung der Situation“ bei „erheblicher Tangierung der Realitätswahrnehmung“ verwiesen, ohne dies beweiswürdigend zu unterlegen. Die vom Sachverständigen herangezogenen „beschriebenen Auffälligkeiten“ im Tatzeitpunkt lassen sich weder aus der im Urteil wiedergegebenen Einlassung des Beschuldigten noch den Angaben der Zeugen entnehmen. Soweit hier die Wahrnehmungen der festnehmenden Polizeibeamten gemeint sein sollten, denen „inhaltlich zusammenhanglose“ Äußerungen, eine „verschwommene Aussprache“ und ein „unsicher[er]“ „Gang“ des Beschuldigten aufgefallen seien, fehlt es an der Auseinandersetzung mit der Frage, ob die beschriebenen Auffälligkeiten nicht ebenso gut auf die nach den Feststellungen bestehende nicht unerhebliche Intoxikation zurückzuführen gewesen sein können. Dies drängte sich schon deshalb auf, weil der Sachverständige eine solche im Schweregrad einer krankhaften seelischen Störung nicht ausgeschlossen hat. Eine auf die festgestellte Erkrankung zurückzuführende Beeinträchtigung des Beschuldigten lässt sich auch nicht ohne weiteres aus dem festgestellten Tatgeschehen herleiten, welches nach Motivation und Tatbild durchaus normalpsychologisch erklärbar sein kann. Insoweit hat das Tatgericht nämlich zu untersuchen, ob in der Person des Beschuldigten oder in seinen Taten letztlich nicht nur Eigenschaften und Verhaltensweisen hervortreten, die sich im Rahmen dessen halten, was bei schuldfähigen Menschen anzutreffen und übliche Ursache für strafbares Verhalten ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2015 - 1 StR 265/15, NStZ-RR 2016, 76; vom 19. Februar 2015 - 2 StR 420/14; vom 15. Juli 1997 - 4 StR 303/97, BGHR StGB § 63 Zustand 26; Urteil vom 2. April 1997 - 2 StR 53/97, NStZ 1997, 383).

d) Auf den aufgezeigten Rechtsfehlern beruht das Urteil, da nicht auszuschließen ist, dass das neue Tatgericht auf rechtsfehlerfreier Tatsachengrundlage zu einer abweichenden Beurteilung der Schuldfähigkeit kommt.

3. Die Sache bedarf insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zur rechtswidrigen Tat (äußeres Tatgeschehen) können bestehen bleiben. Ergänzende, hierzu nicht in Widerspruch tretende Feststellungen sind möglich.

4. Das neue Tatgericht wird, sofern es sich von einer Schuldunfähigkeit oder eingeschränkten Schuldfähigkeit sicher überzeugen kann, in den Blick zu nehmen haben, dass die für eine Unterbringung nach § 63 StGB erforderliche Gefährlichkeitsprognose voraussetzt, dass eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen. Hierzu bedarf es einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat sowie der Darstellung und Würdigung aller wesentlichen prognoserelevanten Umstände in den Urteilsgründen. Als prognoseungünstig herangezogene tatsächliche Umstände aus dem Vorleben des Täters müssen dabei rechtsfehlerfrei festgestellt und belegt sein (BGH, Beschlüsse vom 30. September 2021 - 5 StR 322/21 Rn. 6; vom 19. Mai 2021 - 6 StR 199/21; vom 18. August 2020 - 5 StR 318/20, StV 2021, 219; vom 28. Januar 2020 - 4 StR 632/19, StV 2021, 255 f; vom 25. September 2019 - 4 StR 408/19, NStZ-RR 2020, 36 f).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 478

Bearbeiter: Christian Becker