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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 469

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 496/22, Beschluss v. 03.01.2023, HRRS 2023 Nr. 469


BGH 5 StR 496/22 - Beschluss vom 3. Januar 2023 (LG Berlin)

Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (im Rausch begangene Tat; Wurzel der konkreten Tat im Hang; symptomatischer Zusammenhang).

§ 64 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Für die Anordnung der Maßregel des § 64 StGB ist erforderlich, dass die rechtswidrige Tat im Rausch begangen worden ist oder auf den Hang zurückgeht, wobei die erste Alternative sich als Unterfall der zweiten darstellt. Die konkrete Tat muss in dem Hang ihre Wurzel finden, also Symptomwert für den Hang des Täters zum Missbrauch von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln haben, indem sich in ihr seine hangbedingte Gefährlichkeit äußert. Im Rausch begangen ist die Tat, wenn sich der Täter währenddessen in dem für das jeweilige Rauschmittel typischen Intoxikationszustand befindet und der Rausch Einfluss auf die Begehung der Tat gehabt hat. Der Feststellung einer besonderen Motivation für die Tatbegehung - wie bei nicht im Rausch begangenen Taten, die auf den Hang zurückgehen - bedarf es darüber hinaus nicht.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Angeklagten I. und M. wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. Mai 2022 aufgehoben, soweit von der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist; hinsichtlich des Angeklagten M. werden die zugehörigen Feststellungen aufgehoben.

Die weitergehenden Revisionen werden verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die Revision des Angeklagten T. gegen das vorbenannte Urteil wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten T. wegen Mordes in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von elf Jahren verurteilt, seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und den Vorwegvollzug eines Teils der Freiheitsstrafe angeordnet. Die Angeklagten M. und I. hat es wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung jeweils zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.

I.

Die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten T. ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

II.

Die auf sachlich-rechtliche und verfahrensrechtliche Beanstandungen gestützten Revisionen der Angeklagten M. und I. bleiben zum Schuld- und Strafausspruch aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO). Jedoch erweist sich das Absehen von der Anordnung der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt jeweils als rechtsfehlerhaft, so dass das Urteil insoweit keinen Bestand hat.

1. Die Strafkammer ist bei der Prüfung der Voraussetzungen betreffend den Angeklagten I. von einem unzutreffenden Maßstab bei der Prüfung eines symptomatischen Zusammenhangs ausgegangen. Darauf beruht das Urteil insoweit auch.

a) Sachverständig beraten hat sie bei dem Angeklagten aufgrund seiner Polytoxikomanie einen Hang im Sinne des § 64 StGB angenommen. Zugleich hat sie festgestellt, dass er sich „bei der Tatbegehung aufgrund seiner akuten Mischintoxikation mit Alkohol und Drogen in einem Zustand der erheblichen Verminderung seiner Hemmungs- und Steuerungsfähigkeit“ befand. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat sie gleichwohl abgelehnt, weil ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Hang und der Anlasstat nicht habe festgestellt werden können. Denn der Angeklagte habe seine Tatbeteiligung gegenüber dem Sachverständigen in Abrede gestellt und sich in der Hauptverhandlung nicht eingelassen, sodass Feststellungen zu seiner Motivation für die Tatbeteiligung nicht hätten getroffen werden können. Zudem sei die Annahme, dass der nur einmal geringfügig vorbestrafte Angeklagte aufgrund des Hanges künftig erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde, nicht begründet.

b) Damit hat die Strafkammer die Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel des § 64 StGB verkannt. Denn danach ist erforderlich, dass die rechtswidrige Tat im Rausch begangen worden ist oder auf den Hang zurückgeht, wobei die erste Alternative sich als Unterfall der zweiten darstellt (BGH, Beschlüsse vom 28. August 2013 - 4 StR 277/13, NStZ-RR 2014, 75; vom 15. Juli 2020 - 4 StR 89/20). Die konkrete Tat muss in dem Hang ihre Wurzel finden, also Symptomwert für den Hang des Täters zum Missbrauch von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln haben, indem sich in ihr seine hangbedingte Gefährlichkeit äußert. Im Rausch begangen ist die Tat, wenn sich der Täter währenddessen in dem für das jeweilige Rauschmittel typischen Intoxikationszustand befindet und der Rausch Einfluss auf die Begehung der Tat gehabt hat (BGH, Beschluss vom 15. Juli 2020 - 4 StR 89/20 mwN). Der Feststellung einer besonderen Motivation für die Tatbegehung - wie bei nicht im Rausch begangenen Taten, die auf den Hang zurückgehen - bedarf es entgegen der Auffassung des Landgerichts darüber hinaus nicht. Die Alternative einer im Rausch begangenen und damit auf den Hang zurückgehenden Tat hat das Landgericht aufgrund seines rechtsfehlerhaften Maßstabs ersichtlich nicht im Blick gehabt und sich deswegen nicht damit auseinandergesetzt.

c) Auf diesem Fehler beruht das Urteil auch, weil nach den Feststellungen eine Symptomtat im Sinne von § 64 StGB in Betracht kommt.

aa) Dies ergibt sich allerdings nicht bereits im Hinblick auf die vom Landgericht bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 64 StGB angenommene erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit. Zwar wäre bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB infolge der Mischintoxikation eine sich auf die Tat auswirkende Enthemmung und damit bei einem von verschiedenen Substanzen Abhängigen die Symptomatizität der Tat für den Hang belegt. Aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich aber, dass es sich entgegen dem Wortlaut um einen an dieser Stelle verfehlten Schluss aufgrund des Zweifelsgrundsatzes zugunsten des Angeklagten handelt. Dem Sachverständigen ohne weitere eigene Erörterungen folgend hat das Landgericht ausgeführt, dass der Angeklagte unter Zugrundelegung des festgestellten Alkoholkonsums mit „maximal 2,52 Promille“ alkoholisiert gewesen sei. Erst durch den nicht auszuschließenden Konsum weiterer Drogen sei die Schwelle des § 21 StGB erreicht. Da es des sicheren Feststehens der Voraussetzungen der belastenden Maßregel des § 64 StGB bedarf, kann auf diese Wertung in Anwendung des Zweifelsgrundsatzes die Begründung des symptomatischen Zusammenhangs nicht gestützt werden.

bb) Jedoch hat sich das Landgericht eine sichere Überzeugung bilden können, dass der Angeklagte auf der Fahrt zum Tatort zusammen mit den beiden Mitangeklagten jedenfalls eine Flasche Wodka gemischt mit Energy-Drink trank. Da für die Wertung, dass eine Tat im Rausch begangen ist, eine enthemmende Wirkung der Rauschmittel genügt, ohne dass die Schwelle des § 21 StGB erreicht sein muss (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. März 2008 - 3 StR 51/08; vom 28. Mai 2014 - 3 StR 67/14; vom 17. Mai 2018 - 3 StR 166/18), kommt eine die Tat begünstigende Enthemmung in Betracht und hätte erörtert werden müssen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Juli 2020 - 1 StR 196/20; vom 19. Mai 2009 - 3 StR 191/09, NStZ 2010, 83 f.).

cc) Mit Blick auf die erhebliche Straftat, welche der Angeklagte unter den festgestellten Umständen beging, kann eine hangbedingte Gefährlichkeit nicht allein mit Hinweis auf die nur geringfügige Vorstrafe verneint werden. Der Senat kann auch das Vorliegen einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht nicht ausschließen.

2. Das Urteil kann ebenfalls keinen Bestand haben, soweit von einer Unterbringung des Angeklagten M. in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB abgesehen worden ist. Die Strafkammer hat eine Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 64 StGB bei dem Angeklagten M. vorliegen, unterlassen. Dies erweist sich auf die sachlich-rechtliche Prüfung als Rechtsfehler, da sich eine Erörterung der Unterbringung nach den Urteilsfeststellungen aufdrängte.

a) Danach betrieb der 28-jährige Angeklagte seit Jahren einen Alkohol-, Cannabis-, Kokain- und Amphetaminmissbrauch. Erstmals konsumierte er im Alter von 13 oder 14 Jahren Weinbrand und seit dem 16. Lebensjahr gewöhnlich an den Wochenenden zunächst größere Mengen Bier und später auch hochprozentigen Alkohol. Im Alter von 16 Jahren begann er zudem, regelmäßig und in steigenden Mengen Cannabis zu rauchen, nach einigen Jahren täglich etwa 2 Gramm, zeitweise bis zu 4 Gramm. Zudem konsumierte er seit dem 22. Lebensjahr in unregelmäßigen Abständen Kokain, seit dem 24. Lebensjahr auch zunehmend häufiger ersatzweise billigeres Speed sowie gelegentlich Ecstasy. Bei übermäßigem Drogenkonsum kam es unter anderem schon zu akustischen Halluzinationen und paranoidem Erleben.

Diese Feststellungen legen das Bestehen eines Hanges nahe, wofür eine Abhängigkeitserkrankung von Alkohol und Drogen, die der Sachverständige ausgeschlossen hat, keine Voraussetzung ist. Vielmehr genügt eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss.

Zwar hat das Landgericht bei der Wiedergabe der Angaben des Sachverständigen, denen es auch insoweit ohne weitere eigene Erörterungen gefolgt ist, Zweifel an den Angaben des Angeklagten zum Konsumverhalten von Kokain, Speed und MDMA/Esctasy geäußert. Dies steht aber in einem nicht aufgelösten Spannungsverhältnis zu den Feststellungen, die auf den Angaben des Angeklagten gründen.

b) Auch ein symptomatischer Zusammenhang im Sinne des § 64 StGB ist nicht auszuschließen, da der Angeklagte bei der Tatausführung unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen stand. Nach den Urteilsfeststellungen hatte er vor der Tat zusammen mit dem Mitangeklagten T. Speed konsumiert, und auf der Fahrt zum Tatort teilten sich die Angeklagten zu dritt eine 0,7 Liter fassende Flasche Wodka.

Unter Hinweis auf die Angaben von Polizeibeamten, die etwa zweieinhalb Stunden nach der Tat keine Anzeichen für eine alkoholische Beeinflussung oder eine Drogen- oder Medikamenteneinwirkung beim Angeklagten wahrgenommen haben, und einen zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Atemalkoholtest mit dem Wert von 0,00 Promille ist das Landgericht den hiermit nicht zu vereinbarenden Angaben des Angeklagten zum Konsum weiterer Substanzen nicht gefolgt. Den Ausführungen des Sachverständigen folgend hat es auf dieser Grundlage rechtsfehlerfrei eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit ausgeschlossen.

Jedoch wäre auch für diesen Angeklagten zu prüfen gewesen, ob er die Tat im Rausch begangen hat. Wie bereits aufgezeigt, ist hierfür eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit nicht Voraussetzung.

c) Der Senat kann auch für den Angeklagten M. das Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 64 StGB nicht ausschließen.

3. Das Urteil unterliegt hinsichtlich der unterbliebenen Maßregelanordnung für die Angeklagten I. und M. der Aufhebung. Dem steht nicht entgegen, dass nur die Angeklagten Revision eingelegt haben (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO). Die Beschwerdeführer haben die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen.

Der Senat hebt allein betreffend den Angeklagten M. auch die zugehörigen Feststellungen auf, um dem neuen Tatgericht in sich widerspruchsfreie Feststellungen zum Ausmaß der Konsumgewohnheiten zu ermöglichen. Da die Feststellungen zum Konsum in der Tatnacht von dem Rechtsfehler nicht betroffen sind, konnten diese und der darauf beruhende Strafausspruch bestehen bleiben.

Die Voraussetzungen der Unterbringung der Angeklagten in einer Entziehungsanstalt wird es unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a StPO) zu prüfen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 469

Bearbeiter: Christian Becker