HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 912
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 12/22, Beschluss v. 05.07.2022, HRRS 2022 Nr. 912
Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Itzehoe vom 26. April 2021 wird festgestellt, dass das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat gegen den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen, davon in vier Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und Herstellung kinderpornographischer Schriften in drei Fällen sowie wegen Herstellung kinderpornographischer Schriften in zwei Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verhängt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Von weiteren Tatvorwürfen hat es ihn freigesprochen. Auf die Revision des Angeklagten ist festzustellen, dass das Verfahren rechtsstaatswidrig verzögert worden ist; im Übrigen erweist sich das Rechtsmittel als unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
I.
Zu Recht und in zulässiger Weise rügt die Revision eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung ab dem Zeitpunkt der Urteilsabsetzung.
Dem Revisionsvorbringen und den zugehörigen Aktenteilen ist im Umfang von insgesamt zweieinhalb Monaten eine Verfahrensverzögerung - Zeit zwischen Urteilsabsetzung am 28. Juni 2021 und Zustellung an den Verteidiger am 8. September 2021 - zu entnehmen. Diese hatte ihre Ursache in einer allein dem Gericht zuzurechnenden Verzögerung der Protokollfertigstellung und war damit rechtsstaatswidrig (vgl. auch BGH, Beschluss vom 8. Juni 2021 - 5 StR 481/20 [Fertigstellung mehr als ein Jahr nach Urteilsabsetzung]), was der Senat in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO feststellt. Angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalls sieht der Senat diese Kompensation als ausreichend an (vgl. auch BGH, Beschluss vom 10. Dezember 2019 - 5 StR 578/19 Rn. 8 mwN).
Etwaige weitere Verfahrensverzögerungen hat der Beschwerdeführer nicht im Sinne von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO in zulässiger Weise gerügt (vgl. Antragsschrift des Generalbundesanwalts).
II. Im Übrigen erweist sich die Revision als unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat Folgendes:
1. Soweit der Beschwerdeführer mit einer Verfahrensrüge beanstandet, das Landgericht habe § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO verletzt, weil es den Hilfsbeweisantrag auf Einholung eines psychiatrischen Glaubwürdigkeitsgutachtens und eines aussagepsychologischen Gutachtens zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin mit Hinweis auf die eigene Sachkunde abgelehnt hat, ist die Rüge jedenfalls unbegründet.
a) Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen ist grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts, wobei regelmäßig davon auszugehen ist, dass Berufsrichter über die erforderliche Sachkunde bei der Anwendung der maßgeblichen aussagepsychologischen Kriterien verfügen. Dies gilt bei Zeugen in kindlichem oder jugendlichem Alter erst recht, wenn die Berufsrichter - wie vorliegend - Mitglieder der Jugendschutzkammer sind und über spezielle Sachkunde in der Bewertung der Glaubwürdigkeit solcher Zeugen und der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen verfügen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 12. Juli 2017 - 1 StR 408/16 Rn. 15 f.; vom 27. Januar 2005 - 3 StR 431/04 Rn. 5, jeweils mwN). Die Hinzuziehung eines Sachverständigen ist lediglich dann geboten, wenn der Sachverhalt Besonderheiten aufweist, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob die eigene Sachkunde des Tatgerichts unter den konkret gegebenen Umständen ausreicht (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. März 2013 - 5 StR 39/13 Rn. 9; vom 25. April 2006 - 1 StR 579/05; vom 12. November 1993 - 2 StR 594/93).
b) Solche Besonderheiten zeigt der Antrag in Bezug auf die dem Urteil zugrundeliegenden Angaben der Nebenklägerin nicht auf; sie sind auch sonst nicht ersichtlich. Das Landgericht hat sich auf die tatzeitnahen ersten polizeilichen Vernehmungen der Nebenklägerin im Jahr 2018 gestützt und für diesen Zeitraum weder Auffälligkeiten im Aussageverhalten noch ihre psychische Beeinträchtigung festgestellt. Es hat für seine Überzeugungsbildung zudem die Angaben der Mutter der Nebenklägerin, Lichtbilder und WhatsApp-Nachrichten des Angeklagten herangezogen. Dass das Landgericht den von der Revision behaupteten, erst später aufgetretenen psychischen Beeinträchtigungen der Nebenklägerin keine die eigene Sachkunde in Zweifel ziehende Bedeutung beigemessen hat, ist rechtsfehlerfrei.
2. Erfolglos bleibt auch die Rüge des Beschwerdeführers, das Landgericht habe gegen § 245 StPO verstoßen, indem es die Vernehmung des Sachverständigen Mü. als sachverständigen Zeugen zum Beweis abgelehnt hat, dass die Nebenklägerin (in der Hauptverhandlung) psychische Auffälligkeiten gezeigt habe, die einen pathologischen Grad erreichten und die Aussagetüchtigkeit beeinflussen könnten.
a) Die Rüge der Verletzung des § 245 Abs. 1 StPO ist auf der Grundlage des Sachvortrags jedenfalls unbegründet. Der vom Landgericht als Sachverständiger zur Begutachtung des Angeklagten geladene und in dieser Eigenschaft bei den Vernehmungen in der Hauptverhandlung anwesende Mü. war kein präsenter Zeuge im Sinne des § 245 Abs. 1 StPO.
Die Beweiserhebungspflicht nach dieser Vorschrift wird durch den Inhalt der Ladung bestimmt. Die Auskunftsperson (Sachverständiger oder Zeuge) muss nur in der Eigenschaft vernommen werden, in der sie vorgeladen worden ist (BGH, Urteil vom 16. Dezember 2004 - 1 StR 420/03 Rn. 32 [insoweit in BGHSt 49, 381 nicht abgedruckt]; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 245 Rn. 14; MüKoStPO/Trüg/Habetha, 1. Aufl., § 245 Rn. 13). Zwar wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass dieser sich aus dem Wortlaut des Gesetzes ergebende Grundsatz nicht ausnahmslos gelten solle; gerade dann, wenn eine Auskunftsperson als Sachverständiger geladen sei, werde sie häufig zugleich auch Angaben machen können (und müssen), die sich auf eigene Wahrnehmungen während einer zur Vorbereitung des Gutachtens durchgeführten Untersuchung beziehen (Hamm/Pauly, Beweisantragsrecht, 3. Aufl., § 245 Rn. 591; KKStPO/Krehl, 8. Aufl., § 245 Rn. 8). Der Senat kann offenlassen, ob er mit diesen Erwägungen eine Pflicht des Gerichts zur Vernehmung des (nur als solchen geladenen) Sachverständigen auch als Zeuge im Rahmen des § 245 Abs. 1 StPO herleiten würde. Denn vorliegend betraf der Gutachtenauftrag nicht die Nebenklägerin, sondern den Angeklagten. Für andere Wahrnehmungen außerhalb seines Gutachtenauftrags, die der Sachverständige nur bei Gelegenheit der Hauptverhandlung in Bezug auf anwesende Personen oder sonstige Umstände gemacht hat, richten sich die Voraussetzungen der Beweiserhebung nicht nach § 245 Abs. 1 StPO, sondern nach § 244 Abs. 3 und 4 StPO oder § 244 Abs. 2 StPO (LR/Becker aaO). Mit der Stoßrichtung einer Verletzung dieser Normen ist die Rüge jedoch nicht erhoben worden. Ungeachtet dessen ist das Gericht zutreffend nach § 244 Abs. 4 StPO verfahren.
b) Die Voraussetzungen des § 245 Abs. 2 StPO hat der Beschwerdeführer nicht dargelegt, weshalb sich die Rüge mit diesem Angriffsziel als unzulässig erweist (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Insoweit gilt:
Ein Angeklagter oder sein Verteidiger können die Vorladung von Beweispersonen im Sinne dieser Vorschrift nur mithilfe eines Gerichtsvollziehers nach § 38 StPO bewirken (BGH, Urteil vom 15. Januar 1952 - 2 StR 567/51; Beschlüsse vom 14. Juli 1981 - 1 StR 385/81; vom 24. März 2014 - 5 StR 2/14; vom 8. Dezember 2011 - 4 StR 430/11). Nur in diesem Sinne ordnungsgemäß geladene Beweispersonen unterfallen als präsente Beweismittel dem § 245 Abs. 2 StPO (LR/Becker aaO Rn. 43 f.).
Zur Einhaltung der Formvorschriften verhält sich die Revision nicht. Der erforderliche Vortrag war auch nicht deshalb entbehrlich, weil ein - nach § 245 Abs. 2 Satz 1 StPO ohnehin erforderlicher - Beweisantrag gestellt worden war (BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2011 - 4 StR 430/11).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 und 4 StPO. Der lediglich geringfügige Erfolg des Rechtsmittels lässt es nicht unbillig erscheinen, den Angeklagten mit dessen gesamten Kosten zu belasten.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 912
Bearbeiter: Christian Becker