HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 371
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 76/14, Urteil v. 04.02.2015, HRRS 2015 Nr. 371
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 16. August 2013 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts - Schwurgericht - zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
In den frühen Morgenstunden des 24. Oktober 2012 hielt sich der Angeklagte in der" Bar" im Bahnhofsviertel auf und erlebte, wie dort tätige Animierdamen versuchten, den später Geschädigten Cl. loszuwerden. Nachdem ihnen dies zunächst gelungen war, indem sie Cl. in eine andere Bar lockten, aus der sie heimlich entkommen konnten, konnte dieser sie nach einigem Suchen wieder in der" Bar" ausfindig machen, vor deren Eingangstür sich mittlerweile der sichtlich betrunkene und in seiner Steuerungsfähigkeit nicht ausschließbar erheblich verminderte Angeklagte postiert hatte. Er schwang sich gegenüber dem Geschädigten als vermeintlicher Beschützer der Damen auf und forderte den Geschädigten auf zu verschwinden. Es kam zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten Cl., die schließlich durch die von den Animierdamen herbeigeholten Zeugen G. und M. beendet wurde.
Während G. dem Geschädigten mit einer Pfefferdose in die Augen sprühte, gelang es dem Angeklagten sich aus einem Haltegriff des Zeugen M. zu befreien, auf den Geschädigten zuzustürzen und auf ihn mit einem aus der Gesäßtasche herausgeholten Messer insgesamt fünf Mal einzustechen. Dabei erkannte er, dass er den Geschädigten durch die Stiche in den Brust- und Bauchbereich töten konnte und nahm dies zumindest billigend in Kauf. Der Geschädigte erlitt Schnittverletzungen am linken Ohr, an der linken Brustkorbseite in der Nähe des Herzens, im Bereich des linken Unterbauchs sowie rechtsseitig eine Stichverletzung am Oberbauch. Die erlittenen Verletzungen waren abstrakt, nicht jedoch konkret lebensgefährlich.
Die umherstehenden Personen gingen erneut dazwischen und setzten Pfefferspray nunmehr gegen beide ein. Der Angeklagte verfolgte den sich in normaler Geschwindigkeit entfernenden Geschädigten Cl. noch einige Schritte, dann ließ er freiwillig von ihm ab, obwohl er die Möglichkeit gehabt hätte, seinen Angriff gegen ihn fortzusetzen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt; eine Notwehrlage - wie von dem Angeklagten behauptet - hat es verneint. Eine Strafbarkeit wegen versuchten Totschlages hat es verneint, weil der Angeklagte hiervon strafbefreiend gemäß § 24 StGB zurückgetreten sei. Die Strafkammer ist davon ausgegangen, der Angeklagte habe nicht ausschließbar im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit gehandelt. Bei der Strafzumessung ist sie vom Strafrahmen des § 224 Abs. 1 StGB ausgegangen; ein ausdrücklicher Hinweis, ob der Strafrahmen entsprechend §§ 21, 49 Abs. 1 StGB gemildert worden ist, findet sich in den Urteilsgründen nicht.
Mit der Verfahrensrüge beanstandet der Angeklagte zu Recht, dass die Strafkammer hinsichtlich der Hilfsschöffin Z. nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen ist (§ 338 Nr. 1 StPO) und der Angeklagte deshalb seinem gesetzlichen Richter entzogen worden ist.
1. Der Rüge liegt im Wesentlichen der folgende Verfahrensgang zugrunde:
Der Vorsitzende bestimmte mit Verfügung vom 24. Mai 2013 wegen Verhinderung des Verteidigers die Verlegung des regulären Sitzungstages vom 11. Juli 2013 auf den 12. Juli 2013 und bestimmte Termine zur Hauptverhandlung auf den 12. Juli, 16. Juli und 18. Juli 2013. Auf die einen Tag vor Beginn der Hauptverhandlung erfolgte Mitteilung der Besetzung des Gerichts beantragte der Verteidiger in der Hauptverhandlung die Aussetzung des Verfahrens zur Prüfung der Gerichtsbesetzung, die das Landgericht mit der Begründung ablehnte, die Kammer sei ordnungsgemäß besetzt.
Für den genannten Sitzungstag waren als Hauptschöffen die Schöffen F. und K. vorgesehen. K. teilte telefonisch mit, dass er sich vom 7. Juli bis 4. August 2013 in Urlaub befände, und wurde mit Verfügung des Vorsitzenden vom 7. Juni 2013 von der Dienstleistung entbunden. Für ihn rückte die Hilfsschöffin M. ein, die nach Mitteilung über einen Urlaub in der Zeit vom 4. bis 26. Juli 2013 mit Verfügung des Vorsitzenden vom 18. Juni 2013 ebenfalls von ihrer Dienstleistung entbunden wurde.
Nächster vorgesehener Hilfsschöffe zu diesem Zeitpunkt war H., der am 28. Juni 2013 telefonisch mitteilte, dass er bereits am 23. August 2011 nach Hanau umgezogen sei. Er habe nicht gewusst, dass er nicht mehr als Schöffe in Frankfurt am Main tätig sein dürfe. Eine noch am selben Tag veranlasste elektronische Abfrage der Meldedaten bestätigte den Umzug des Hilfsschöffen, der daraufhin durch Verfügung des Vorsitzenden "nach §§ 77 Abs. 3, 54 Abs. 1 GVG antragsgemäß" von der Dienstleistung entbunden wurde, an der er durch unabwendbare Umstände gehindert sei.
Für ihn rückte die Hilfsschöffin R. nach, die nach einem Hinweis auf einen Urlaub vom 3. bis 19. Juli 2013 durch weitere Verfügung des Vorsitzenden vom 2. Juli 2013 gleichfalls von der Dienstleistung befreit wurde.
Als Ersatz geladen wurde sodann der Hilfsschöffe Hi. Dieser teilte am 3. Juli 2013 telefonisch mit, seine Firma sei durch die Urlaube verschiedener Mitangestellter so ausgedünnt, dass er nicht entbehrlich sei und seine Vertretung nicht möglich sei. Dies veranlasste den Vorsitzenden, auch den Hilfsschöffen Hi. von seiner Dienstleistungspflicht zu entbinden. An seine Stelle trat die Hilfsschöffin Z., die an der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten teilnahm.
2. Die Verfahrensbeanstandung hat Erfolg. Das erkennende Gericht war in der Person der Hilfsschöffin Z. im Sinne von § 338 Nr. 1 StPO nicht ordnungsgemäß besetzt. Denn die Entbindungen des Hilfsschöffen Hi. war durch das Gesetz nicht gedeckt und erweist sich bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken zum Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) als nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar (vgl. BVerfG, NJW 2005, 2689, 2690).
a) Die Entbindung des Hilfsschöffen Hi., die der Vorsitzende gemäß § 54 Abs. 1 GVG auf die Unzumutbarkeit der zu erbringenden Dienstleistung gestützt hat, ist nicht frei von Rechtsfehlern.
Ob einem Schöffen die Dienstleistung im Sinne von § 54 Abs.1 Satz 2 GVG zugemutet werden kann, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Dabei ist - zur Wahrung des Rechts auf den gesetzlichen Richter - ein strenger Maßstab anzulegen. Berufliche Gründe rechtfertigen daher nur ausnahmsweise die Verhinderung eines Schöffen. Zu berücksichtigen sind lediglich Berufsgeschäfte, die der Schöffe nicht oder nicht ohne erheblichen Schaden für sich oder den Betrieb aufschieben oder bei denen er sich nicht durch einen anderen vertreten lassen kann, weil die Geschäfte ihrer Art nach einen Vertreter nicht zulassen oder ein geeigneter Vertreter nicht zur Verfügung steht. Über die Anerkennung einer derartigen Verhinderung hat der zur Entscheidung berufene Richter unter Abwägung aller Umstände bei Berücksichtigung der Belange des Schöffen, des Verfahrensstands und der voraussichtlichen Dauer des Verfahrens, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (vgl. BGHSt 28, 61, 66). Er ist zu weitergehenden Erkundigungen hinsichtlich des angegebenen Hinderungsgrundes nicht verpflichtet, wenn er die Angaben für glaubhaft hält (BGH NStZ 1982, 176 m.w.N.). Die Entscheidung ist aktenkundig zu machen (§ 54 Abs. 3 Satz 2 GVG). Dabei sind diejenigen Umstände zu dokumentieren, die die Annahme des Hinderungsgrunds tragen. Nur so ist dem Rechtsmittelgericht die Überprüfung möglich, ob eine getroffene Entscheidung eine Richterentziehung im Sinne von Art. 101 Abs. 1 GG darstellt.
Dass die Voraussetzungen für die Annahme eines Hinderungsgrundes hier vorliegen, ist nicht dargetan. Der Entbindungsentscheidung des Vorsitzenden, die selbst keine nähere Begründung enthält, liegt ein Vermerk des Vorsitzenden zugrunde, der Schöffe habe ihm mitgeteilt, seine Firma sei durch Urlaube verschiedener Mitangestellter so ausgedünnt, dass er nicht entbehrlich und seine Vertretung nicht möglich sei. Diese Umstände rechtfertigen unter Berücksichtigung strenger Maßstäbe, die das Recht auf den gesetzlichen Richter einfordert, für sich eine Entbindung nicht. Die Angaben sind in ihrer Allgemeinheit wenig konkret; sie lassen nicht erkennen, um welche Firma es sich handelt, wie groß sie ist, welche Aufgaben der Schöffe regelmäßig wahrnimmt, wer ihn vertreten kann und welche Urlaubsabwesenheiten welcher "Mitangestellter" es gibt, die eine an sich denkbare Vertretung des Hilfsschöffen ausschließen. Allein anhand dieser pauschalen Angaben konnte der Vorsitzende - ohne dass es insoweit darauf ankäme, ob er diese für glaubhaft gehalten hat - nicht in die Lage versetzt sein, in der gebotenen Weise sorgfältig zu prüfen, ob die beruflichen Geschäfte des Schöffen seine Anwesenheit in der Firma an den Hauptverhandlungstagen erforderten, eine Vertretung in den von ihm wahrgenommenen Tätigkeiten tatsächlich nicht möglich war und ansonsten nicht hinnehmbar erheblicher Schaden für ihn bzw. seine Firma entstanden wäre. Soweit sich die Angaben des Hilfsschöffen auf die im Vermerk wiedergegebenen Umstände beschränkt haben sollten, hätte es deshalb im konkreten Fall das Recht auf den gesetzlichen Richter erfordert, insoweit bei diesem nachzufragen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 57. Aufl., § 54 GVG, Rn. 6; BGH, Beschluss vom 1. März 2012 - 2 StR 522/11) und eine Entscheidung unter Berücksichtigung weiterer ermittelter Umstände zu treffen. Sollte der Hilfsschöffe Hi. weitere Einzelheiten zu seiner beruflich bedingten Verhinderung mitgeteilt haben, die die Annahme eines Verhinderungsgrundes hätten stützen können, hat es der Vorsitzende versäumt, diese zur Überprüfung seiner Entscheidung zu dokumentieren.
b) Die Entbindung des Hilfsschöffen Hi. verliert in nicht mehr verständlicher Weise das Recht auf den gesetzlichen Richter aus dem Blick und ist deshalb unhaltbar. Der Vorsitzende begnügt sich womöglich mit Informationen, die ihm nicht die Prüfung ermöglichen, ob ausnahmsweise ein Fall gegeben ist, in dem berufliche Gründe die Unzumutbarkeit der geforderten Dienstleistung begründen können. Jedenfalls beschränkt sich die Dokumentation der die Annahme des Verhinderungsgrundes tragenden Umstände auf allgemeine und wenig konkrete Angaben, weshalb ohne Weiteres ersichtlich ist, dass dem Revisionsgericht die Überprüfung der getroffenen Entscheidung nicht möglich ist. Ein solches Vorgehen wird der Bedeutung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nicht gerecht, der nicht nur strenge materiellrechtliche Maßstäbe bei der Anwendung des § 54 Abs. 1 GVG fordert, sondern auch Anforderungen an die Überzeugungsbildung des zur Entscheidung nach § 54 GVG berufenen Richters stellt.
c) Bei dieser Sachlage lässt der Senat dahinstehen, ob der Entbindung des Hilfsschöffen H. die nicht auf § 54 Abs. 1 GVG gestützt werden konnte und an deren Stelle die dem Vorsitzenden nicht obliegende Streichung von der Schöffenliste hätte erfolgen müssen (§§ 77 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2, 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 33 Nr. 3 GVG), ebenfalls das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter verletzt hat.
3. Der Verfahrensfehler führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, ohne dass es noch auf die erhobenen sachlich-rechtlichen Einwendungen ankommt.
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 371
Externe Fundstellen: NStZ 2015, 350 ; StV 2015, 752
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel