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HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 775

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 570/15, Urteil v. 08.06.2016, HRRS 2016 Nr. 775


BGH 5 StR 570/15 - Urteil vom 8. Juni 2016 (LG Frankfurt (Oder))

Lückenhafte Beweiswürdigung beim Freispruch vom Vorwurf des (schweren) sexuellen Missbrauchs (Beweiswert von vorformulierten und ersichtlich aufeinander abgestimmten Einlassungen; Erörterungsmangel wegen fehlender Wiedergabe von Angaben eines Zeugen).

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 31. Juli 2015 aufgehoben, soweit die Angeklagten im Fall 6 der Anklage vom 2. Februar 2015, der Angeklagte G. darüber hinaus im Fall 8 der Anklage vom 2. Februar 2015, freigesprochen worden sind.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision hinsichtlich des Angeklagten E. wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten E. wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zehn Fällen unter Strafaussetzung zur Bewährung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Von dem Vorwurf verschiedener Sexualstraftaten sowie weiterer Delikte zum Nachteil der Nebenklägerin hat es ihn und den Angeklagten G. freigesprochen. Gegen die Freisprechungen wendet sich die Nebenklägerin mit ihren auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen, soweit nebenklagefähige Straftaten betroffen sind. Die Rechtsmittel haben entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen sind sie unbegründet.

1. Den Angeklagten wird in Punkt 6 der Anklage vom 2. Februar 2015 vorgeworfen, in der Wohnung des Angeklagten E. an der ihnen schutzlos ausgelieferten, stark bewusstseinsgetrübten Nebenklägerin gewaltsam eine Reihe sexueller Handlungen vorgenommen zu haben, wobei einer von ihnen Teile einer Hand oder seinen Penis in deren Scheide eingeführt habe. Der sich wehrenden Nebenklägerin habe der Angeklagte G. einen kräftigen Schlag ins Gesicht versetzt, so dass sie zu Boden gegangen sei und sich schmerzhafte Hämatome an den Knien zugezogen habe. Dem Angeklagten G. liegt nach Punkt 8 der Anklage vom 2. Februar 2015 darüber hinaus zur Last, die Nebenklägerin während einer Autofahrt gewaltsam zum Oralverkehr gezwungen oder die widerstandsunfähige Nebenklägerin in dieser Weise schwer sexuell missbraucht zu haben.

2. Das Landgericht hat zu diesen Vorwürfen im Wesentlichen Folgendes festgestellt (Fall III.7 und III.8 der Urteilsgründe):

a) Am Abend des 27. Januar 2013 teilte der Angeklagte E. der Nebenklägerin per SMS mit, dass sie Amphetamin erhalte, wenn sie sich - wie schon am frühen Morgen desselben Tages - eine Bierflasche in die Scheide einführe. Die Angeklagten sowie der Zeuge R. holten die Nebenklägerin ab und fuhren mit ihr in die Wohnung des Angeklagten E. Die Nebenklägerin verlangte das Amphetamin. Der Angeklagte E. forderte sie auf zu duschen, weil sie „stinke“. Nach Rückkunft aus der Dusche wollte die Nebenklägerin erneut das versprochene Rauschgift haben. Der Zeuge R. bestand darauf, dass sie zuvor „das mit der Flasche“ zeige. Der Angeklagte G. gab ihr Alkohol und kniff ihr in die Brüste. Sie trank und führte sich danach eine Bierflasche in die Scheide ein. Das Amphetamin erhielt sie nicht, weswegen ein Gerangel entstand, in dessen Verlauf der Angeklagte G. ihr mit der flachen Hand ins Gesicht schlug.

b) Die Angeklagten und der Zeuge R. fuhren die Nebenklägerin nach Hause. Der Angeklagte G. und die Nebenklägerin saßen auf der Rückbank des Autos. Die Nebenklägerin führte am Angeklagten G. fünf bis zehn Minuten lang den Oralverkehr durch. Dann biss sie in dessen Geschlechtsteil und ließ zunächst nicht los. Der Schmerzen verspürende Angeklagte G. dachte daran, die Nebenklägerin von sich wegzuschieben, verwarf dies aber, weil er fürchtete, das an seinem Penis befindliche Piercing könne sonst in ihrem Mund verbleiben. Um den schmerzhaften Biss abzuwehren, versetzte er ihr zwei Faustschläge ins Gesicht.

c) Die Angeklagten und der Zeuge R. setzten die Nebenklägerin in den frühen Morgenstunden des 28. Januar 2013 an der Wohnung ihres Bruders ab. Gegen 8:30 Uhr wurde sie im Bereich des Domplatzes hilflos, unterkühlt sowie mit stark eingetrübtem Bewusstsein gefunden und in ein Klinikum gebracht. Zur behandelnden Ärztin sagte sie, sie sei am Vortag ab 20:00 Uhr bei einem Bekannten gewesen, wo sie Alkohol getrunken habe. Erst seit 11:30 Uhr des 28. Januar 2013 setze ihre Erinnerung wieder ein. Auf die Ärztin wirkte sie verstört und unter dem Einfluss von Drogen stehend. Sie klagte über Unterbauchschmerzen, Schmerzen im Vaginalbereich sowie an den Knien und konnte nicht sagen, was passiert war. Bei ihrer körperlichen Untersuchung wurden eine Rötung mit leichter Schürfung am Eingang der Scheide, ein Hämatom am rechten Oberlid, eine Schwellung sowie eine Rötung an der linken Wange und Hämatome an der linken Oberlippe, an der Brust sowie an den Oberarmen, Rötungen am linken Oberschenkel und an beiden Knien festgestellt. In ihrem Slip fanden sich spermaverdächtige Anhaftungen, die DNA-Merkmale des Angeklagten E. aufwiesen.

3. Das Landgericht hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass die Angeklagten die ihnen vorgeworfenen Straftaten begangen haben. Die Aussage der Nebenklägerin sei so inkonstant und inkonsistent gewesen, dass ein Handlungsablauf im Sinne der Anklage nicht habe festgestellt werden können. Der Zeuge R., auf dessen Bekundungen die Anklage gestützt sei, habe in der Hauptverhandlung von seinem Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO Gebrauch gemacht. Die Strafkammer hat den Feststellungen von ihr als „glaubhaft“ bewertete schriftliche Erklärungen der Angeklagten zugrunde gelegt, die von den Verteidigern in der Hauptverhandlung verlesen worden sind. Die Faustschläge des Angeklagten G. im Auto hat sie auf dieser Basis in Verbindung mit einer ergänzenden Äußerung dieses Angeklagten als durch Notwehr gerechtfertigt angesehen.

4. Die Freisprechungen der Angeklagten halten in den bezeichneten Fällen revisionsgerichtlicher Prüfung nicht stand. Die durch das Landgericht vorgenommene Beweiswürdigung ist insoweit lückenhaft und begegnet daher auch eingedenk des hierbei beschränkten Prüfungsmaßstabs (vgl. etwa BGH, Urteil vom 18. August 2015 - 5 StR 78/15, NStZ-RR 2015, 349, 350 mwN) durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Sie leidet insgesamt daran, dass die Aussagen der Nebenklägerin bei ihren drei polizeilichen Vernehmungen nicht in einer Weise mitgeteilt werden, die dem Senat eine Nachprüfung auf Rechtsfehler ermöglichen würde. Im Übrigen ist Folgendes zu bemerken:

a) Zu den Vorgängen in der Wohnung des Angeklagten E. weist der Generalbundesanwalt richtig darauf hin, dass sich die Strafkammer weder mit den bei der Nebenklägerin festgestellten Verletzungen noch mit den in ihrem Slip gefundenen Spermaspuren hinreichend auseinandergesetzt hat. Die vorformulierten und ersichtlich aufeinander abgestimmten Erklärungen der Angeklagten, die das Landgericht trotz ihres allenfalls geringen Beweiswerts (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 21. Oktober 2014 - 5 StR 296/14, NJW 2015, 360, 361, insoweit in BGHSt 60, 50 nicht abgedruckt; vom 30. Oktober 2007 - 3 StR 410/07, NStZ 2008, 476, 477; LR-StPO/Becker, 26. Aufl., § 243 Rn. 77 mwN) rechtsfehlerhaft als „glaubhaft“ zugrunde legt, ohne diese auch nur ansatzweise kritisch zu hinterfragen (vgl. BGH, Urteil vom 8. April 2009 - 5 StR 65/09; LR-StPO/Sander, 26. Aufl., § 261 Rn. 73), bieten für die Befunde keine genügende Erklärung. Darüber hinaus hat der Angeklagte G. die Nebenklägerin nach den Feststellungen grundlos in die Brust gekniffen (UA S. 15), was wohl ein Hämatom zur Folge hatte (UA S. 18). Eine Würdigung zumindest unter dem Gesichtspunkt der vorsätzlichen Körperverletzung nimmt das angefochtene Urteil nicht vor.

b) Die vorstehenden Erwägungen gelten für den Vorwurf eines während der Autofahrt durch den Angeklagten G. erzwungenen bzw. mit der widerstandsunfähigen Nebenklägerin vollführten Oralverkehrs im Fall III.8 der Urteilsgründe entsprechend. Speziell zur Frage der Rechtfertigung der durch diesen Angeklagten verübten Faustschläge hat der Generalbundesanwalt ausgeführt:

„Insofern ist nicht verständlich, wieso es dem Angeklagten nicht möglich war, die Nebenklägerin von seinem Geschlechtsteil wegzuschieben. Die Faustschläge waren eher geeignet, die Verletzungsgefahr für ihn zu erhöhen. Er musste dadurch zwangsläufig mit ruckartigen, unkontrollierten Bewegungen der Nebenklägerin rechnen, die er angeblich im Hinblick auf sein Intimpiercing so fürchtete.“ Mit diesem Aspekt hätte sich das Landgericht auseinandersetzen müssen. Die Einlassung des Angeklagten hätte dabei umso mehr besonders sorgfältiger Würdigung bedurft, als sich die darin geltend gemachte Notwehrlage in dessen zunächst abgegebener schriftlicher Erklärung nicht widergespiegelt hatte. Ausweislich der Urteilsgründe erfolgte sie erst nach einem rechtlichen Hinweis auf ein in Betracht kommendes Körperverletzungsdelikt (UA S. 28). Sofern das neue Tatgericht abermals zur Annahme einer Notwehrlage gelangen sollte, wird es sich angesichts des Vorverhaltens des Angeklagten G. und des Zustandes der Nebenklägerin im Zeitpunkt der Tat mit dem Gebotensein und der Erforderlichkeit zweier wuchtiger Faustschläge zur Abwehr des „Angriffs“ sorgfältiger auseinanderzusetzen haben, als dies im angefochtenen Urteil geschehen ist.

c) Ein Erörterungsmangel ist auch darin zu sehen, dass das Landgericht auf die Anklage stützende Angaben des Zeugen R. hinweist (UA S. 38), ohne sie inhaltlich wiederzugeben und sich damit auseinanderzusetzen.

5. Der Senat schließt nicht aus, dass das Landgericht in den genannten Fällen bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu anderen Ergebnissen gelangt wäre und dass noch Feststellungen getroffen werden können, die eine Verurteilung der Angeklagten ermöglichen. Die Sache bedarf deshalb insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Hinsichtlich einer Verwertbarkeit der Aussage des Zeugen R. wird auf die Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 17. Dezember 2015 (dort S. 4) hingewiesen.

6. Demgegenüber weist das Urteil zu Fall 4 der Anklage (sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung der Nebenklägerin durch den Angeklagten E. am Morgen des 27. Januar 2013 im Auto) jedenfalls keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Vorteil dieses Angeklagten auf, weswegen die gegen seine Freisprechung in diesem Fall gerichtete Revision zu verwerfen war.

7. Der Gesamtstrafausspruch gegen den Angeklagten E. hat Bestand. Nur im Falle einer weiteren Verurteilung wird die festgesetzte Gesamtstrafe aufzulösen und unter Einbeziehung sämtlicher Einzelstrafen eine neue Gesamtstrafe festzusetzen sein.

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 775

Bearbeiter: Christian Becker