HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 884
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 78/15, Urteil v. 18.08.2015, HRRS 2015 Nr. 884
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 11. September 2014 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen von den Vorwürfen des Totschlags sowie des Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe freigesprochen und ihm Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen zugesprochen. Gegen den Freispruch richten sich die Revision der Staatsanwaltschaft - welche der Generalbundesanwalt vertritt - und diejenige der Nebenklägerin. Die Rechtsmittel haben mit der Sachrüge Erfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
Am Abend des 14. Januar 2014 gegen 20:35 Uhr wurde das Tatopfer, der türkischstämmige K., von einem nicht identifizierten türkisch sprechenden Mann in seiner Wohnung aufgesucht. Noch im Eingangsbereich (Windfang) der von einem Laubengang abgehenden Wohnung kam es zu einem lautstarken Streitgespräch. Im Laufe der Auseinandersetzung schoss der Unbekannte mit einer halbautomatischen Selbstladepistole aus kurzer Entfernung in K. s Oberschenkel. Hierdurch fiel K., der sich mit einem Griff nach der Waffe vergeblich bemühte, deren Lauf von sich abzulenken, zu Boden. Daraufhin schoss der Täter ihm noch zweimal in den Rumpf. Anschließend holte er aus der Küche ein Messer mit 17 cm Klingenlänge und fügte damit dem zur Gegenwehr nicht mehr fähigen Tatopfer insgesamt sieben Stichverletzungen am Hals zu, bevor er den Tatort unter Mitnahme der Schusswaffe verließ. K. verstarb wenig später infolge der Schuss- und Stichverletzungen.
Bei dem Tatopfer handelte es sich um den allein und zurückgezogen lebenden 55-jährigen Betreiber eines Cafés. Ihn hatte der Angeklagte, der ebenfalls türkischer Abstammung ist, Ende der 90er Jahre auf der Suche nach einer Arbeitsstelle kennengelernt. In der Folgezeit arbeiteten sowohl der Angeklagte als auch dessen Ehefrau für K. in dessen Geschäftsbetrieb. Während der Angeklagte 2010 seine Tätigkeit für K. aufgrund einer schweren Erkrankung und einer hierdurch eingetretenen Behinderung beenden musste und Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht, war seine Ehefrau weiterhin bei K. angestellt und an dem zuletzt von ihm betriebenen Café auch finanziell beteiligt. Im Laufe der Jahre hatte sich ein enges und vertrauensvolles Verhältnis zwischen ihr und dem deutlich älteren K. entwickelt, der auch eine Zeitlang ihre Mutter und Schwester bei sich hatte wohnen lassen. K. hatte auf seinem Computer zahlreiche Bilder von der Ehefrau des Angeklagten und insbesondere von ihrer am 19. Dezember 2005 ehelich geborenen Tochter gespeichert. Am Tag nach deren achten Geburtstag schrieb er am 20. Dezember 2013 an eine nicht identifizierte Adressatin eine Kurznachricht, in der er „unserem Baby“ in seinem „neuen“ Alter „gute, schöne und gesunde Tage“ wünschte. Im Januar 2009 hatte er der Tochter mit einem in der Türkei vor einem Notar errichteten Testament sein gesamtes, auch mehrere Immobilien von erheblichem Wert umfassendes Vermögen „vermacht“. Ob der Angeklagte und seine Ehefrau davon vor dem Tod K. s Kenntnis hatten, konnte nicht festgestellt werden. Ebenfalls ungeklärt blieb, ob die Ehefrau des Angeklagten eine intime Beziehung zu K. hatte und dieser der leibliche Vater ihrer Tochter war oder ob der Angeklagte eine etwaige Liebesbeziehung zwischen seiner Ehefrau und K. auch nur vermutete. Die Ehefrau des Angeklagten hatte K. noch am Morgen des Tattages in dessen Wohnung besucht. Zu Anlass und Dauer dieses Besuchs konnten keine Feststellungen getroffen werden.
Am Leichnam des Tatopfers fanden sich am Handrücken und an zwei Fingern der rechten Hand DNA-Spuren, die mit dem DNA-Profil des Angeklagten übereinstimmten. Weiter wurden an diversen Kleidungsstücken des Angeklagten und am Schalthebel seines Kraftfahrzeugs Schmauchspuren nachgewiesen. Die Anhaftungen an diesen am 30. Januar 2014 sichergestellten Gegenständen entsprachen in ihrer Zusammensetzung den Schussrückständen, die bei einer Schussabgabe mit Patronen der beiden bei der Tat verwendeten Arten von Patronenmunition des Kalibers 9 mm Luger freigesetzt werden. Eine vom Angeklagten bei einer Vernehmung im Ermittlungsverfahren aufgestellte Alibibehauptung, sich zur Tatzeit für 20 bis 30 Minuten in einem Geschäft nahe seiner Wohnung aufgehalten zu haben, fand keine Bestätigung; sein Aufenthaltsort zur Tatzeit blieb ungeklärt.
2. Das Landgericht hat sich von der Täterschaft des Angeklagten, der sich in der Hauptverhandlung nicht eingelassen hat, nicht überzeugen können. Hinsichtlich der DNA-Spuren des Angeklagten hat das Landgericht im Anschluss an das Gutachten eines Sachverständigen keine Aussage darüber zu treffen vermocht, ob sie im Wege einer Primär- oder einer Sekundärübertragung an den Leichnam gelangt seien. In diesem Zusammenhang sei zu berücksichtigen, dass sich die Ehefrau des Angeklagten am Morgen des Tattages in der Wohnung des späteren Tatopfers aufgehalten habe. Zwar sei bei DNA-Anhaftungen an Händen eher an eine Übertragung nach dem letzten Händewaschen zu denken, eine letztlich sichere Aussage über die mögliche zeitliche Dauer derartiger Anhaftungen könne aber nicht getroffen werden.
Auch die Schmauchspuren an den Kleidungsstücken und am Fahrzeug des Angeklagten seien nicht geeignet, eine Überzeugung von dessen Täterschaft zu begründen. Gegen die Annahme, dass die Schmauchspuren beim Tatgeschehen auf die Kleidungsstücke gelangt seien, spräche, dass bei keinem Kleidungsstück Anhaftungen festgestellt wurden, die den Schussrückständen der beiden bei der Tat verwendeten Munitionsarten entsprächen. Dies sei aber wegen der sich bei Schüssen in einem geschlossenen Raum regelmäßig bildenden Schmauchwolke, die zwangsläufig zu Kontaminationen der Umgebung führe, im Falle einer Täterschaft des Angeklagten zu erwarten gewesen. Bei den Schmauchspuren an dem beim Autofahren ständig beanspruchten Schalthebel des Fahrzeugs sei die Annahme, sie würden von dem mehr als zwei Wochen zurückliegenden Tatgeschehen herrühren, nicht begründet. Angesichts des Zeitraums, der zwischen der Tatbegehung und dem Nachweis von Schmauchspuren an den Kleidungsstücken und dem Fahrzeug des Angeklagten liege, und wegen der grundsätzlich möglichen Übertragung von Schmauchanhaftungen sei die Annahme, dass die Anhaftungen auf ein anderes Ereignis zurückzuführen seien, jedenfalls nicht fernliegend.
1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin haben Erfolg, da die Beweiswürdigung des Landgerichts (§ 261 StPO) sachlich-rechtlicher Prüfung nicht standhält.
a) Das Revisionsgericht muss es zwar grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts; die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm Rechtsfehler unterlaufen sind, weil die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit übertriebene Anforderungen gestellt worden sind. Insbesondere ist es weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat (st. Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Urteil vom 3. Juni 2015 - 5 StR 55/15 mwN).
b) Nach diesen Maßstäben hält die durch die Schwurgerichtskammer vorgenommene Beweiswürdigung rechtlicher Prüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand.
aa) In der Beweiswürdigung muss sich das Tatgericht mit allen festgestellten Indizien auseinandersetzen, die das Beweisergebnis zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen geeignet sind. Dabei muss sich aus den Urteilsgründen ergeben, dass es die Beweisergebnisse nicht nur für sich genommen gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung einbezogen hat. Dem wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.
Das Landgericht hat sich insbesondere mit den gewichtigen objektiven Indizien der am Leichnam des Opfers gesicherten DNA-Spuren des Angeklagten und der an dessen Kleidung und am Schalthebel seines Fahrzeugs festgestellten Schmauchspuren lediglich isoliert auseinandergesetzt und dabei jeweils die Wertung getroffen, dass hiermit eine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten nicht zu begründen sei. Diese Vorgehensweise in Verbindung mit der eher formelhaften Erwähnung einer Gesamtbetrachtung, im Rahmen derer die vorhandenen Beweisanzeichen nicht erkennbar zueinander in Beziehung gesetzt und gegeneinander abgewogen werden (UA S. 32), lässt besorgen, dass das Landgericht den Blick dafür verloren hat, dass Indizien, auch wenn sie einzeln für sich betrachtet nicht zum Nachweis der Täterschaft ausreichen, doch in ihrer Gesamtheit dem Gericht die entsprechende Überzeugung vermitteln können (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Urteile vom 26. Mai 1999 - 3 StR 110/99, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 20, und vom 7. November 2012 - 5 StR 322/12), und dass es hierdurch zugleich überspannte Anforderungen an die tatgerichtliche Überzeugungsbildung gestellt hat.
bb) Das Landgericht hat der Schmauchspur auf dem Schalthebel des Fahrzeugs des Angeklagten den Beweiswert als Indiz, das den Angeklagten unmittelbar mit der Tat in Verbindung bringt, rechtsfehlerhaft aufgrund lediglich theoretischer Erklärungsansätze abgesprochen. Es durfte mangels in diese Richtung deutender objektiver Anhaltspunkte zugunsten des - in der Hauptverhandlung schweigenden - Angeklagten als alternative Erklärung für die Entstehung dieser Spur nicht unterstellen, die Anhaftungen könnten jüngeren Datums sein (also von einem erst nach der Tat erfolgten Schusswaffengebrauch mit derselben Munitionsart stammen) oder eine dritte Person habe sie auf den Schalthebel übertragen.
cc) Zutreffend beanstandet die Revision der Nebenklägerin zudem, dass die Darlegungen unzureichend sind, mit denen das sachverständig beratene Landgericht seine Annahme begründet hat, bei einer Verursachung der Schmauchspuren auf den diversen Kleidungsstücken des Angeklagten durch das Tatgeschehen wäre zu erwarten gewesen, dass sich Anhaftungen feststellen ließen, die den Schussrückständen beider bei der Tat verwendeten Munitionsarten entsprächen. Die zugrundeliegende Erwägung, dass sich bei Schüssen in einem geschlossenen Raum regelmäßig eine sich über mehrere Minuten haltende Schmauchwolke bilde, die zwangsläufig die Umgebung mit den jeweiligen Schussrückständen kontaminiere, wird hinsichtlich der Räumlichkeit des Tatortes nicht näher belegt. Die Urteilsgründe erwähnen diesbezüglich nicht, ob die zu einem nur 2 x 2,5 m großen Windfang führende und nach innen öffnende Wohnungseingangstür noch vor oder während der Auseinandersetzung geschlossen wurde und wo im Bereich des Wohnungseingangs der Täter den ersten Schuss abgab, der dazu führte, dass das Tatopfer „rücklings mit den Füßen zur Wohnungstür zu Boden fiel“ (UA S. 8). Auch insoweit bleibt die Beweiswürdigung lückenhaft. Weiterhin lässt sie Ausführungen des Sachverständigen zur Flüchtigkeit von Schmauchanhaftungen an der Kleidung vermissen, die erst im Abstand von über zwei Wochen nach der Tat sichergestellt worden ist.
dd) Unvollständig ist die Beweiswürdigung des Landgerichts ferner, soweit es die Wahrscheinlichkeit einer Primärübertragung der DNA-Spuren des Angeklagten bei dem festgestellten Abwehrversuch des Tatopfers mit dessen Griff nach der Waffe deshalb verneint hat, weil das Tatort-Spurenbild ergeben habe, dass der Täter bei der Tatbegehung Handschuhe getragen habe. Diese Erwägung lässt die naheliegende Möglichkeit außer Betracht, dass das Tatopfer bei seiner Abwehr auch mit unbedeckten Körperteilen des Täters wie etwa dessen Unterarmen oder Gesicht in Berührung gekommen sein könnte.
2. Das Urteil beruht auch auf den Beweiswürdigungsmängeln; der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht bei einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung und der gebotenen wertenden Gesamtschau aller be- und entlastenden Indizien die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten gewonnen hätte. Die Entlastungserwägungen des Landgerichts zur eingeschränkten körperlichen Leistungsfähigkeit des stark gehbehinderten Angeklagten und der zur Erlangung des vom Täter aus der Küche geholten Tatmessers erforderlichen „gewissen Beweglichkeit“ (UA S. 28) sind nicht derart gewichtig, dass sie den Freispruch ungeachtet der aufgezeigten Mängel allein tragen könnten. Insofern hat die Revision der Staatsanwaltschaft zu Recht darauf hingewiesen, dass der Angeklagte nach den Feststellungen „trotz seiner Behinderung in der Lage (ist), selbständig einen Pkw ohne besondere Hilfsvorrichtungen zu fahren“ (UA S. 5) und damit eine zum Ein- und Aussteigen notwendige Beweglichkeit besitze. Dass die Tatausführung eine weitergehende körperliche Wendigkeit erfordert hätte, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen, zumal ein mögliches Sich-Abstützen auf dem Weg zur Küche bei der vom Landgericht zugrunde gelegten Annahme, dass der Täter Handschuhe getragen habe, keine Spuren hinterlassen musste.
Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung.
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 884
Bearbeiter: Christian Becker