HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 137
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 521/12, Beschluss v. 11.12.2012, HRRS 2013 Nr. 137
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 7. Juni 2012 gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben; der Vorbehalt der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung unterbleibt.
Der Angeklagte hat die Kosten der Revision zu tragen, jedoch wird die Gebühr um ein Drittel ermäßigt. Je ein Drittel der gerichtlichen Auslagen des ersten Revisionsverfahrens und der hier entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last, ebenso die gesamten gerichtlichen Auslagen der Neuverhandlung vor dem Landgericht und des zweiten Revisionsverfahrens sowie die gesamten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten. Die den Nebenklägern im ersten Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen hat der Angeklagte zu tragen.
Der Angeklagte wurde mit Urteil vom 9. September 2010 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 21 Fällen, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in 77 Fällen, wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen in drei Fällen, wegen sexuellen Missbrauchs Jugendlicher in 33 Fällen und wegen Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Die daneben vom Landgericht verhängte Maßregel der Sicherungsverwahrung hat der Senat auf die unbeschränkte Revision des Angeklagten aufgehoben und die Sache - nach Verwerfung der Revision im Übrigen - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen (BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2011 - 5 StR 267/11, NStZ-RR 2012, 9). Das Landgericht hat nunmehr mit dem angegriffenen Urteil die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Angeklagten vorbehalten. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
1. Der Vorbehalt der Anordnung der Sicherungsverwahrung hat keinen Bestand.
Das Landgericht hat die formellen und materiellen Voraussetzungen des Vorbehalts der Sicherungsverwahrung nach § 66a StGB in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung (aF), die gemäß Art. 316e Abs. 1 Satz 2 EGStGB anwendbar ist, nach sorgfältiger Prüfung in nachvollziehbarer Weise bejaht. Es hat indes übersehen, dass es bei seiner Entscheidung die Frist des § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB aF zu beachten hatte.
Der Generalbundesanwalt hat in seiner Antragsschrift hierzu ausgeführt:
"Gegen den Verurteilten ist (rechtskräftig) eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verhängt worden. Er befindet sich seit dem 12. Oktober 2007 durchgängig in Haft (UA S. 45). Der Vorbehalt der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ist am 7. Juni 2012 angeordnet worden. Die Entscheidung, ob diese vorbehaltene Sicherungsverwahrung tatsächlich verhängt wird, musste mithin gemäß § 66a Abs. 2 Satz 1, § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB spätestens am 11. August 2012 (sechs Monate vor dem Zweidrittel-Zeitpunkt am 11. Februar 2013) getroffen werden.
Damit war bereits bei Anordnung des Vorbehalts absehbar, dass bis zu diesem in § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB a. F. genannten Zeitpunkt keine ausreichende Zeit für eine Beobachtung des Verurteilten zur Verfügung stehen würde, die zu besseren Erkenntnissen führen konnte als den in der Hauptverhandlung möglichen. In diesen Fällen darf ein Gericht den Vorbehalt der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht anbringen (vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 - 3 StR 269/06 -, in BGHSt 51, 159, 164). Denn die durch § 66a StGB a. F. eröffnete Befugnis, über die Gefahr für die Allgemeinheit erst später - auf der Grundlage im Vollzug gewonnener zusätzlicher Erkenntnisse - zu entscheiden, ist, wie gerade aus § 66a Abs. 2 Satz 1 StGB folgt, auf diejenigen Fälle begrenzt, in denen ein solcher Erkenntniszuwachs bis zu dem Zeitpunkt zu erwarten ist oder jedenfalls möglich erscheint, zu dem das Verfahren spätestens eingeleitet werden muss, damit unter Berücksichtigung der üblichen Verfahrensdauer rechtzeitig entschieden werden kann (vgl. BGH, a. a. O.).
Die Einhaltung der Frist des § 66a Abs. 2 StGB a. F. stellt auch eine grundsätzlich verbindliche materiell-rechtliche Voraussetzung für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung dar (vgl. BGH, a. a. O., 160; BGH, Urteil vom 7. August 2012 - 1 StR 98/12 - Rdnr. 14). Sie soll sicherstellen, dass über die Anordnung einerseits erst entschieden wird, wenn eine ausreichende Erkenntnisgrundlage für die Beurteilung der Gefährlichkeit des Verurteilten gegeben ist, andererseits soll aber die Ungewissheit über dessen künftige Lebensplanung nicht ohne zwingenden Grund hinausgeschoben werden (vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember 2006 - 3 StR 269/06 -, in BGHSt 51, 159, 161). Vor diesem Hintergrund und angesichts der aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2365/09 - u. a. (BVerfGE 128, 326-409) zu ziehenden Folgerungen kam die Anordnung des Vorbehalts der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung vorliegend nicht in Betracht: Der erforderliche Erkenntnisgewinn war bei einem Zeitraum von zwei Monaten zwischen Urteilserlass am 7. Juni 2012 und spätestmöglichem Entscheidungstag am 11. August 2012, auch angesichts der noch nicht einmal begonnenen Sexualtherapie, nicht zu erwarten."
Dem schließt sich der Senat an.
2. Der Vorbehalt der Anordnung der Sicherungsverwahrung hatte daher zu entfallen (§ 354 Abs. 1 StPO analog). Einer (vorbehaltlosen) Anordnung der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB, die in der Sache deutlich näher gelegen hätte als ein Unterbleiben der Maßregel, stünde in einem neuen tatgerichtlichen Verfahren § 358 Abs. 2 Satz 1 StGB entgegen.
HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 137
Bearbeiter: Christian Becker