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HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 973

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 401/12, Beschluss v. 12.09.2012, HRRS 2012 Nr. 973


BGH 5 StR 401/12 - Beschluss vom 12. September 2012 (LG Chemnitz)

Beweiswürdigung (Anforderungen in Aussage-gegen-Aussage-Konstellation; Aussageverweigerung der einzigen Belastungszeugin in der Hauptverhandlung; Glaubwürdigkeit trotz Teillüge); Benachrichtigung des Angeklagten über einen Vernehmungstermin trotz Ausschlussgrund.

§ 261 StPO; § 168c Abs. 5 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 24. April 2012 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben; der Angeklagte wird freigesprochen.

Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten - unter Freispruch im Übrigen - wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und mit sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten führt mit der Sachrüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zu seinem Freispruch.

1. Der Angeklagte lebt mit seiner Ehefrau und deren am 17. Mai 1999 geborener Tochter, der Zeugin M. K., in einem gemeinsamen Haushalt. Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils kam es dazu, dass der Angeklagte ihr unter das T-Shirt fasste und zur Befriedigung seiner sexuellen Interessen ihre unbedeckte linke Brust massierte. Als sie versuchte wegzulaufen, hielt der Angeklagte sie am Arm fest, um sie weiter an der Brust berühren zu können.

Ferner lag ihm zur Last, M. - erfolglos - aufgefordert zu haben, ihm ihr unbedecktes Geschlechtsteil zu zeigen. Insoweit hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen, da es nicht auszuschließen vermochte, dass er freiwillig vom Versuch des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern zurückgetreten sei. Darüber hinaus hat ihm die Anklage vorgeworfen, seiner Stieftochter bei zwei weiteren Gelegenheiten unter die Schlafanzughose an das unbedeckte Geschlechtsteil gegriffen zu haben, wobei er in einem Fall einen Finger in die Scheide des Kindes eingeführt habe. Hinsichtlich dieser beiden Anklagepunkte ist das Verfahren gemäß § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt worden.

2. Von dem zur Verurteilung führenden Tatgeschehen hat sich das Landgericht auf der Grundlage der Aussage des Kindes bei der Ermittlungsrichterin überzeugt, die durch Vernehmung der Richterin in die Hauptverhandlung eingeführt worden ist. M. K. sowie ihre Mutter, Großmutter und Schwester haben in der Hauptverhandlung jeweils von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Der Angeklagte hat sich nicht zur Sache geäußert. Weitere unmittelbare Tatzeugen gibt es nicht. Ihrer Tante hatte M. lediglich berichtet, dass der Angeklagte sie aufgefordert habe, sich ihm nackt zu zeigen, damit er sehen könne, ob ihre Brüste und ihre Schambehaarung schon wüchsen (Freispruchsfall). Hinsichtlich der bei der Polizei zwei Tage vor ihrer richterlichen Vernehmung geschilderten weiteren Vorfälle gab sie gegenüber der Ermittlungsrichterin an, gelogen zu haben.

3. Da bereits die Sachrüge zur Aufhebung des Urteils und zum Freispruch des Angeklagten führt, kommt es auf die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen nicht an. Hinsichtlich der Rüge der Verletzung des § 168c Abs. 5 Satz 1 StPO, weil der Angeklagte von der richterlichen Vernehmung seiner Stieftochter nicht rechtzeitig benachrichtigt wurde, merkt der Senat Folgendes an:

Allein das Vorliegen eines Ausschlussgrundes nach § 168c Abs. 3 StPO, von dem das Landgericht ausgeht, machte die Benachrichtigung des Beschuldigten von dem Vernehmungstermin nicht entbehrlich, denn diese dient der Wahrung seiner Rechte auch über ein Ermöglichen des Erscheinens hinaus (vgl. BGH, Beschluss vom 3. März 2011 - 3 StR 34/11, StV 2011, 336; Urteil vom 11. Mai 1976 - 1 StR 166/76, BGHSt 26, 332). Aus demselben Grund ist es - entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts - auch unerheblich, dass sich der Angeklagte am Vernehmungstag bereits in Untersuchungshaft befand und nach § 168c Abs. 4 StPO nur dann einen Anspruch auf Anwesenheit bei der richterlichen Zeugenvernehmung gehabt hätte, wenn diese an der Gerichtsstelle des Ortes der Haft abgehalten worden wäre. Dass der Ausschlussgrund des § 168c Abs. 5 Satz 2 StPO vorgelegen hätte, ist nicht ersichtlich.

4. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) In einem Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht oder ein Angeklagter sich nicht einlässt und nur die Angaben einer einzigen Tatzeugin zur Verfügung stehen, mithin die Entscheidung allein davon abhängt, ob dieser einen Zeugin zu folgen ist, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass das Tatgericht alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1997 - 2 StR 591/97, StV 1998, 250; Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f.; BGH, Beschlüsse vom 22. April 1987 - 3 StR 141/87, vom 22. April 1997 - 4 StR 140/97 und vom 19. Oktober 2000 - 1 StR 439/00, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 1, 13, 23). Dies gilt erst recht im vorliegenden Fall, in dem die einzige, in der Hauptverhandlung die Aussage verweigernde Tatzeugin, bei ihrer richterlichen Vernehmung kurz zuvor bei der Polizei erhobene Vorwürfe nicht mehr aufrecht erhalten, sondern als erlogen bezeichnet hat. Hier muss das Tatgericht regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende gewichtige Gründe nennen, die es ihm ermöglichen, ungeachtet einer Teillüge der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben (BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 aaO). Diesen erhöhten Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

c) In ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung hat M. angegeben, weitere Vorwürfe erlogen zu haben, da sie sich "am Papa habe rächen wollen, weil er sie immer so anschnauze. Papa habe ihr einmal auf dem Sofa an den Bauch gefasst. Zwischen die Beine oder an die Muschi habe er dabei nicht gefasst" (UA S. 14). Dies erschüttert nach Auffassung des Landgerichts die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage hinsichtlich des Verurteilungsfalles jedoch nicht, denn die Zeugin habe "von sich aus" offengelegt, "dass ein Teil der von ihr in Zusammenhang mit ihrer polizeilichen Vernehmung genannten Fälle gelogen waren" (UA S. 16). Den Grund für ihr Lügen habe sie nachvollziehbar begründet. Dieses Aussageverhalten wertet die Strafkammer als Anhaltspunkt dafür, dass die Zeugin bei ihrer richterlichen Vernehmung "keine Tendenzen übermäßigen Belastungseifers" gezeigt habe (UA S. 17). Es seien keine Gründe erkennbar, warum sie gegenüber der Ermittlungsrichterin einen Teil der von ihr geschilderten Fälle als gelogen offenlegen sollte, während tatsächlich alle Fälle gelogen wären.

Diese Erwägungen greifen zu kurz. Die - vom Landgericht unterstellte - Lüge gerade hinsichtlich der gewichtigsten bei der Polizei erhobenen Vorwürfe stellte die Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin insgesamt in schwerwiegender Weise in Frage. Das Landgericht hat schon nicht geprüft, ob das Motiv der Rache auch für eine mögliche Falschbelastung des Angeklagten im Verurteilungsfall in Betracht kam. Wesentlich erschwerend tritt hinzu, dass das Tatgericht sich keinen unmittelbaren Eindruck von der Zeugin verschaffen und eine fundierte Glaubhaftigkeitsprüfung auf der Grundlage aussagepsychologischer Methoden nicht durchführen konnte, da hierfür im Hinblick auf die Geltendmachung des Zeugnisverweigerungsrechts durch die Zeugin zu wenig Aussagematerial zur Verfügung stand. Angesichts dessen konnte ihren übrigen Angaben vor der Ermittlungsrichterin nur dann gefolgt werden, wenn außerhalb ihrer Aussage Gründe von Gewicht für ihre Glaubhaftigkeit vorgelegen hätten. Solche sind in der Beweiswürdigung des Landgerichts nicht dargelegt.

5. Der Senat schließt angesichts der gegebenen Beweislage aus, dass ein neues Tatgericht zu einer Verurteilung des Angeklagten gelangen könnte (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Februar 2007 - 5 StR 494/06, StV 2007, 284, 286). Daher spricht der Senat den Angeklagten frei (§ 354 Abs. 1 StPO).

6. Für die Entscheidung über die Verpflichtung zur Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (§ 8 StrEG) ist das Landgericht zuständig, weil Art und Umfang der entschädigungspflichtigen Maßnahmen ohne weitere Feststellungen und ohne besondere Anhörung der Beteiligten nicht zu bestimmen sind (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Januar 1990 - 5 StR 601/89, NJW 1990, 2073 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2012 Nr. 973

Externe Fundstellen: StV 2013, 3

Bearbeiter: Christian Becker