HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 172
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 548/08, Urteil v. 08.01.2009, HRRS 2009 Nr. 172
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 18. Juni 2008 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer Schusswaffe zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die dagegen mit der Sachrüge begründete Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
a) Der 21 Jahre alte türkische Angeklagte half seit längerem in dem von seinen Eltern betriebenen Kiosk aus. Er führte zu seinem Schutz eine mit einer scharfen Patrone geladene, nach einem Umbau als Schusswaffe voll funktionsfähige Schreckschusspistole mit sich.
Am späten Abend des 20. November 2007 kam es zum Streit zwischen dem mit 1,78 ‰ alkoholisierten Angeklagten und dessen Vater. Der Angeklagte verließ, die Wohnungstür hinter sich zuschlagend, die elterliche Wohnung. Der Vater folgte ihm in eine Grünanlage und schlug seinem Sohn mit der Hand so ins Gesicht, dass eine Zahnprothese beschädigt wurde. Als der Vater ein zweites Mal ausholte, wich der Angeklagte zurück. Er zog die Waffe. Im Ausweichen nach hinten feuerte er sie, um den Vater von weiteren Schlägen abzuhalten, in Richtung von dessen Oberkörper ab. Das Geschoss drang in den unteren vorderen linken Brustkorb ein, durchschlug die Leber von links vorne nach rechts hinten und blieb im Körper stecken. Die lebensgefährliche Verletzung ist nach operativer Versorgung auskuriert.
b) Das Landgericht hat den Gebrauch der Schusswaffe nicht als erforderliche Verteidigung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB angesehen. Dem Angeklagten, der über Kampfsporttechniken verfügte, hätte körperliche Gegengewalt als erfolgversprechendes Verteidigungsmittel zur Verfügung gestanden.
Die Schwurgerichtskammer hat einen Tötungsvorsatz des Angeklagten beweiswürdigend verneint. Der Angeklagte sei seinem Vater immer mit großem Respekt begegnet und dessen körperlichen Angriffen in der Vergangenheit stets ausgewichen. Seiner Äußerung in der Hauptverhandlung, er würde seinen Vater nie töten wollen, schenkte das Landgericht "trotz der abstrakt hohen Gefährlichkeit der Benutzung einer Schusswaffe ... Glauben" (UA S. 9). Dem gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen wiedergegebenen Ausruf des Angeklagten unmittelbar vor der Schussabgabe: "Lass mich in Ruhe!" hat das Landgericht den Willen des Angeklagten entnommen, seinen Vater abzuwehren und diesen dabei allenfalls zu verletzen.
2. Die Revision der Staatsanwaltschaft dringt durch, da die Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite revisionsrechtlicher Kontrolle nicht standhält (vgl. BGH NJW 2007, 384, 387, insoweit in BGHSt 51, 144 nicht abgedruckt). Dies gilt auch unter Berücksichtigung des nur eingeschränkten Prüfungsmaßstabs und vor dem Hintergrund, dass sich der Unrechtsgehalt einer - bewusst besonders - gefährlichen Körperverletzung von einem zugleich bedingt vorsätzlich versuchten Totschlag ebenso wenig grundlegend unterscheidet wie der einer - bewusst besonders gefährlichen - Körperverletzung mit Todesfolge von einem bedingt vorsätzlich vollendeten Totschlag (vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 59).
Die Würdigung der festgestellten Tatumstände ist lückenhaft. Es bleibt schon unklar, ob die Schwurgerichtskammer die erkannte abstrakt hohe Gefährlichkeit der Benutzung einer Schusswaffe (UA S. 9) im Sinne des von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannten Erfahrungssatzes hinreichend berücksichtigt hat, dass jede Form des Schießens mit einer scharfen Waffe in Richtung auf einen Menschen wegen der außergewöhnlich großen Lebensgefährlichkeit den Schluss auf einen Tötungsvorsatz nahe legt (BGHSt 42, 65, 69; BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 45; BGH, Beschluss vom 7. Februar 2008 - 5 StR 453/07).
Zwar können auch bei solchen äußerst gefährlichen Gewalthandlungen Umstände vorliegen, die belegen, dass der Täter die Gefahr der Tötung nicht erkannt oder jedenfalls darauf vertraut haben könnte, ein solcher Erfolg werde nicht eintreten. Insbesondere bei spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus dem Wissen um einen möglichen Erfolgseintritt nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das - selbständig neben dem Wissenselement stehende - voluntative Vorsatzelement gegeben ist (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 62; BGHR StGB § 15 Vorsatz, bedingter 4). Die Ablehnung eines bei äußerst gefährlichen Tathandlungen nahe liegenden bedingten Tötungsvorsatzes bedarf allerdings einer Gesamtwürdigung, die alle für den Vorsatz erheblichen Beweisanzeichen umfasst. Diesen Anforderungen wird das Landgericht nicht gerecht. Gewichtige, für die Annahme eines Tötungsvorsatzes sprechende Kriterien hat es nicht erkennbar gewürdigt.
Das Landgericht durfte sich für die Ablehnung eines Tötungsvorsatzes nicht auf die Würdigung des von der Tatsituation losgelösten grundsätzlichen Verhältnisses des Angeklagten zum Opfer beschränken. Auch dem Argument, die Forderung des Angeklagten gegenüber seinem angreifenden Vater, dieser solle ihn in Ruhe lassen, belege den fehlenden Tötungsvorsatz, mag schon eine Überbewertung des Wortsinns zugrunde liegen, jedenfalls aber ist es für sich nicht tragfähig. Denn das Landgericht lässt die für das voluntative Element bei der Tatausführung aussagkräftige konkrete Situation bei Schussabgabe, insbesondere die Schussrichtung, ebenso unerörtert wie die durch den Schuss hervorgerufene lebensgefährliche Verletzung als Grundlage für eine mögliche Billigung eines tödlichen Erfolges. All dies hätte im Rahmen der Beweiswürdigung zum Tötungsvorsatz im Urteil abgehandelt werden müssen (vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 30, 61).
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat insbesondere für den Fall der Bejahung des bedingten Tötungsvorsatzes darauf hin, dass eine relevante Verminderung der Schuldfähigkeit angesichts der erheblichen Alkoholisierung und der Affektbeladenheit des Angeklagten eingehend zu erörtern sein wird. Hierbei wird auch dem Charakter der Tat, die der Einstellung des Angeklagten zum Opfer grundlegend widerstreitet und spontan aus einer objektiv bestehenden Notwehrlage begangen worden ist, besondere Berücksichtigung zu schenken sein.
Der Senat hebt auch die für sich nicht rechtsfehlerhaften Feststellungen zum objektiven Tathergang auf, da mit ihrer Aufrechterhaltung dem neuen Tatgericht keine besondere Erleichterung geschaffen würde und hier nahezu sämtliche Einzelheiten des objektiven Tatgeschehens mit der Beurteilung eines etwaigen bedingten Tötungsvorsatzes auf das Engste zusammenhängen.
HRRS-Nummer: HRRS 2009 Nr. 172
Bearbeiter: Ulf Buermeyer