HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 186
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 94/22, Beschluss v. 10.10.2023, HRRS 2024 Nr. 186
Die antragsgemäß nicht auf einen konkreten Termin bezogene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG wirkt bei Verlegung des Hauptverhandlungstermins fort, so dass ein Entbindungsbeschluss des Gerichts für den neuen Termin nicht erneut beantragt und erlassen werden muss.
Der Polizeipräsident in Berlin hat am 8. Dezember 2020 gegen den Betroffenen wegen eines fahrlässigen qualifizierten Rotlichtverstoßes in Tateinheit mit fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften einen Bußgeldbescheid erlassen, in dem eine Geldbuße in Höhe von 250 € und ein einmonatiges Fahrverbot verhängt wurden. Hiergegen hat der Betroffene form- und fristgerecht Einspruch eingelegt. Nach Aussetzung der Hauptverhandlung hat das zuständige Amtsgericht Tiergarten den Betroffenen und seinen Verteidiger unter dem 31. August 2021 zu einem neuen Hauptverhandlungstermin am 11. Oktober 2021 geladen. Mit Beschluss vom 28. September 2021 ist der Betroffene auf den für ihn von seinem Verteidiger gestellten Antrag hin, in dem er (nur) die Fahrereigenschaft eingeräumt hat, „antragsgemäß vom persönlichen Erscheinen entbunden“ worden.
Mit Verfügung vom 7. Oktober 2021 hat das Amtsgericht den Hauptverhandlungstermin auf den 3. November 2021 verlegt. Die Verteidiger und Betroffenem zugestellte „Terminverlegung“ nebst Ladung enthielt - jenseits des Hinweises, dass bislang kein Vortrag zum Fahrverbot erfolgt und eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren nicht möglich sei, worüber der Verteidiger seinen Mandanten informieren solle - keine inhaltlichen Ausführungen oder Anordnungen. Zum Hauptverhandlungstermin am 3. November 2021 sind weder der Verteidiger noch der Betroffene erschienen. Das Amtsgericht hat daraufhin den Einspruch im Termin am 3. November 2021 durch Urteil gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Der Betroffene sei dem Termin ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben, obwohl er von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen nicht entbunden gewesen sei.
Der Betroffene hat gegen das Verwerfungsurteil vom 3. November 2021 form- und fristgerecht Rechtsbeschwerde eingelegt, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Mit der Verfahrensrüge wendet sich der Betroffene gegen die Anwendung von § 74 Abs. 2 OWiG im vorliegenden Fall, da er wirksam von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden gewesen sei; das angefochtene Urteil verletze ihn in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör.
Das Kammergericht hält die Verfahrensrüge für zulässig. An der beabsichtigten Verwerfung der Rechtsbeschwerde als unbegründet sieht es sich durch den Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 30. März 2016 (3 Ss OWi 1502/15, NStZ-RR 2017, 25) gehindert, dem zufolge die Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen auch für den verlegten Hauptverhandlungstermin gelte. Das Kammergericht ist demgegenüber der Auffassung, dass sich die Entbindung infolge der Terminsverlegung nicht auf den neuen Termin erstrecke. Es hat die Sache daher mit Beschluss vom 28. Februar 2022 (3 Ws (B) 31/22 - 162 Ss 16/22, DAR 2023, 94) gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof zur Beantwortung folgender Rechtsfrage vorgelegt:
„Führt die Verlegung eines Hauptverhandlungstermins dazu, dass die vorangegangene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung des persönlichen Erscheinens ‚verbraucht‘ ist, so dass sie für den neuen Termin gegebenenfalls neu beantragt und angeordnet werden muss?“
Auf Anfrage des Generalbundesanwalts hat das nunmehr zuständige Bayerische Oberste Landesgericht mit Beschluss vom 25. April 2022 (201 AR 44/22) mitgeteilt, an der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Bamberg festzuhalten, wonach die antragsgemäße Entbindung des Betroffenen nach § 73 Abs. 2 OWiG bei einer bloßen Verlegung des Hauptverhandlungstermins regelmäßig fortwirkt.
Der Generalbundesanwalt ist der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts Bamberg beigetreten und beantragt, die Vorlegungsfrage zu verneinen.
Die Vorlage ist gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG zulässig.
1. Die Vorlegungsfrage betrifft die Reichweite einer gerichtlichen Entbindungserklärung nach § 73 Abs. 2 OWiG und damit eine Rechtsfrage. Diese ist auch entscheidungserheblich. Das Kammergericht will eine Verfahrensrüge des Betroffenen, mit der er § 74 Abs. 2 OWiG infolge seiner erfolgten Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen als verletzt rügt, für nicht durchgreifend erachten und seine Rechtsbeschwerde verwerfen. Dabei will es in der Sache von tragenden Gründen der Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg vom 30. März 2016 zur Auslegung des § 73 Abs. 2 OWiG abweichen. Die dem vorgelagerte Annahme des Kammergerichts, dass die Verfahrensrüge zulässig und deshalb insoweit eine Entscheidung in der Sache geboten sei, ist nicht willkürlich (vgl. hingegen zu den Vortragserfordernissen bei verweigerter Entbindung OLG Hamm, zfs 2015, 52; OLG Rostock, DAR 2008, 400, 401; jeweils mwN) und damit für den Senat im Vorlageverfahren bindend (vgl. BGH, Beschluss vom 16. März 2023 - 4 StR 84/22 Rn. 8 mwN; Beschluss vom 9. Oktober 2018 - 4 StR 652/17, NStZ-RR 2019, 60, 61).
2. Die Vorlegungsfrage ist allerdings zu weit gefasst. In ihrer Formulierung durch das Kammergericht schließt sie hier nicht vorliegende Fallkonstellationen ein, in denen die Reichweite des Entbindungsbeschlusses jeweils besonderer Betrachtung bedürfen könnte. Dies steht etwa bei Entbindungsanträgen in Rede, die sich - ohne eine Terminsverlegung zu begehren - auf die Hauptverhandlung an einem bestimmten Tag beschränken. Eigener Beurteilung bedürfen womöglich auch Gerichtsbeschlüsse, die ungeachtet eines allgemein für „die Hauptverhandlung“ gestellten Antrags den Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen an einem mit Datum benannten Terminstag entbinden (vgl. hierzu auch OLG Karlsruhe, zfs 2018, 471, 472; König, DAR 2023, 232, 233 f.). Die zu der Vorlage führende Divergenz erfasst demgegenüber allein die gesetzliche Grundkonstellation eines allgemeinen Entbindungsantrags und eines antragsgemäß ergehenden Entbindungsbeschlusses.
Der Senat fasst daher die Vorlegungsfrage wie folgt:
„Ist die antragsgemäß nicht auf einen konkreten Termin bezogene Entbindung des Betroffenen von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen gemäß § 73 Abs. 2 OWiG infolge der Verlegung des Hauptverhandlungstermins ‚verbraucht‘, so dass ein Entbindungsbeschluss des Gerichts für den neuen Termin gegebenenfalls erneut beantragt und erlassen werden muss?“
Der Senat entscheidet die Vorlegungsfrage wie aus der Beschlussformel ersichtlich. Die Fortwirkung des Entbindungsbeschlusses bei einer Verlegung des Hauptverhandlungstermins ergibt sich aus Wortlaut, Zweck und Entstehungsgeschichte der Vorschrift des § 73 Abs. 2 OWiG.
1. Der Wortlaut des Gesetzes stellt hinsichtlich der Entbindung des Betroffenen von seiner Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen auf die Hauptverhandlung, nicht auf anberaumte einzelne Termine ab.
Die in § 73 Abs. 2 OWiG geregelte Entbindung von „dieser Verpflichtung“ knüpft an § 73 Abs. 1 OWiG an, wonach der Betroffene „zum Erscheinen in der Hauptverhandlung“ verpflichtet ist. Beide Regelungen betreffen mithin die ggf. aufzuhebende Erscheinenspflicht des Betroffenen für die gesamte Hauptverhandlung im Sinne von § 229 StPO (vgl. OLG Karlsruhe, zfs 2018, 471; OLG Bamberg, NStZ-RR 2017, 25; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2015, 258; Justenhoven, Die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung, 2016, S. 188; KK-OWiG/Senge, 5. Aufl., § 73 Rn. 15; König, DAR 2023, 232, 233; Meyer, NZV 2010, 496, 497; vgl. insoweit auch OLG Hamm, NStZ 1992, 498). Denn anders als etwa § 329 Abs. 1 Satz 1, § 330 Abs. 2 Satz 2 StPO verwendet das Gesetz nicht den Begriff des „Hauptverhandlungstermins“ (s. auch §§ 141, 273 Abs. 2 Nr. 3 ZPO zum persönlichen Erscheinen der Partei in einem Termin zur mündlichen Verhandlung).
Der Gesetzeswortlaut legt damit nahe, dass die Entbindung gemäß § 73 Abs. 2 OWiG grundsätzlich terminübergreifend für die gesamte Hauptverhandlung gilt. Hiervon geht das Kammergericht bei deren Unterbrechung und Fortsetzung ebenfalls aus (vgl. Ziffer 2. des Vorlagebeschlusses). An „der Hauptverhandlung“ als Bezugspunkt für die Entbindung ändert jedoch auch eine Verlegung des (ersten) Termins nichts.
2. Die Fortwirkung des Entbindungsbeschlusses bei Verlegung des Hauptverhandlungstermins entspricht dem Normzweck des § 73 Abs. 2 OWiG.
a) Die Vorschrift begrenzt die in § 73 Abs. 1 OWiG normierte Anwesenheitspflicht des Betroffenen, die ihrerseits der Sachaufklärung dient (vgl. OLG Bamberg, NStZ-RR 2017, 25; KK-OWiG/Senge, 5. Aufl., § 73 Rn. 28 ff.). Mit dieser Begrenzung geht die gesetzliche Anerkennung eines legitimen Interesses des Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren einher, eine gerichtliche Überprüfung zu erreichen, ohne dieser selbst beiwohnen zu müssen. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird hierdurch gewahrt (vgl. BeckOK-OWiG/Hettenbach, 40. Ed., § 73 Rn. 1). Ist sein persönliches Erscheinen zur Aufklärung des Tatvorwurfs oder sonstiger für die Rechtsfolgenbemessung wesentlicher Umstände nicht erforderlich, muss daher das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag hin von der Anwesenheitspflicht entbinden (vgl. BT-Drucks. 13/5418 S. 9; Seitz/Bauer in Göhler, OWiG, 18. Aufl., § 73 Rn. 5; BeckOK-OWiG/Hettenbach, 40. Ed., § 73 Rn. 1; KK-OWiG/Senge, 5. Aufl., § 73 Rn. 15; Staub, DAR 2021, 113). In der Folge kann das Gericht den Entbindungsbeschluss von sich aus nur aufheben, wenn sich die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung über die von § 73 Abs. 2 OWiG gezogenen Grenzen hinaus doch als zur Wahrheitsfindung notwendig erweist (vgl. Krenberger/ Krumm, OWiG, 7. Aufl., § 73 Rn. 10; KK-OWiG/Senge, 5. Aufl., § 73 Rn. 35).
b) Die Entbindungsvoraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG werden durch die Verlegung des Hauptverhandlungstermins als solche nicht berührt. Mit einer bloßen Terminsverlegung - gleichgültig ob als Umladung oder in Form der Aufhebung und Neubestimmung des Termins - als rein formalem Akt geht auch grundsätzlich kein Erklärungswert einher, dass sich die zur Entbindung des Betroffenen geeignete Sachlage geändert habe. Vielmehr werden die prozessualen Voraussetzungen für die Entbindung des Betroffenen, wie etwa in Fällen einer Verhinderung des Verteidigers oder des Gerichts, regelmäßig weiterhin vorliegen (vgl. Justenhoven, Die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung, 2016, S. 188; Meyer, NZV 2010, 496, 497). Dies spricht für die Fortwirkung der gebundenen Entscheidung des Gerichts.
Dessen Entbindungsbeschluss betrifft zudem als prozessleitende Maßnahme ungeachtet der Terminsverlegung dieselbe in dem Verfahren durchzuführende Hauptverhandlung (a.A. Krenberger, NStZ-RR 2023, 292). Anders als nach einer Aussetzung findet keine neue Hauptverhandlung im Rechtssinne statt. Erst eine Aussetzung hat zudem - wie auch § 265 Abs. 4 StPO nahelegt - regelmäßig ihren Grund in einer veränderten Sachlage, womit für diesen Fall der „Verbrauch“ des Entbindungsbeschlusses (und des ihm zugrunde liegenden Entbindungsantrages) begründet werden kann (vgl. insofern KG, Beschluss vom 17. November 2017 - 3 Ws (B) 318/17, juris Rn. 3; KG, DAR 2017, 714; OLG Jena, VRS 117, 342; OLG Brandenburg, VRS 116, 276; OLG Hamm, DAR 2006, 522; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 9. Aufl., Rn. 1582; Seitz/Bauer in Göhler, OWiG, 18. Aufl., § 73 Rn. 5; s. zudem zur Zurückverweisung OLG Bamberg, NStZ-RR 2017, 25, 26). Die Verlegung des Hauptverhandlungstermins ist hingegen keine der Aussetzung vergleichbare Zäsur, welche die Entbindungsanordnung entfallen ließe.
c) Mit deren Fortwirkung bei einer Terminsverlegung ist auch den Belangen des Betroffenen Rechnung getragen, sollte er - vom Kammergericht als „empirischer Umstand“ bezeichnet (a.A. auch insofern BayObLG, Beschluss vom 25. April 2022, 201 AR 44/22) - „in aller Regel ein Interesse an der Teilnahme an der Hauptverhandlung“ haben. Denn seine Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen lässt sein Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung unberührt. Der entbundene Betroffene darf gleichwohl an dieser teilnehmen und muss zu ihr geladen werden (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2015, 258; BeckOK-OWiG/Hettenbach, 40. Ed., § 73 Rn. 3; Krumm, DAR 2008, 413, 416).
Gibt der Betroffene trotz antragsgemäßer Entbindung zu erkennen, dass er an der Hauptverhandlung teilnehmen will, und ist er hieran ohne eigenes Verschulden gehindert, darf das Gericht auch nicht in seiner Abwesenheit nach § 74 Abs. 1 OWiG verhandeln (vgl. KG, Beschluss vom 17. März 2022 - 3 Ws (B) 37/22, juris Rn. 9). Ist der Betroffene in einem solchen Fall außerstande, das Gericht rechtzeitig zu verständigen - „etwa wenn er in einem Verkehrsstau auf der Autobahn steckenbleibt“ (BT-Drucks. 13/8655 S. 13) -, kann er gegen das Abwesenheitsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG ebenso um Wiedereinsetzung nachsuchen wie derjenige, gegen den mangels Entbindung von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen ein Verwerfungsurteil ergangen ist (vgl. § 74 Abs. 4 OWiG). Den Entbindungsantrag zurücknehmen kann der Betroffene vor der Hauptverhandlung ohnehin (vgl. OLG Dresden, zfs 2019, 172).
d) Über eine Entbindung nach § 73 Abs. 2 OWiG und deren Folgen ist der Betroffene darüber hinaus gemäß § 74 Abs. 3 OWiG in der Ladung zur Hauptverhandlung zu belehren. Die insofern vorgeschriebene Transparenz, die zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und aus Gründen der Verfahrensfairness erforderlich ist, spricht ebenfalls gegen die vom Kammergericht vertretene Rechtsansicht.
Denn die weitere Ladung des Betroffenen bei einer Terminsverlegung muss die Belehrungen nach § 74 Abs. 3 OWiG erneut enthalten (vgl. OLG Jena, zfs 2003, 43; OLG Köln, NStZ-RR 2000, 179; BeckOK-OWiG/Hettenbach, 40. Ed., § 74 Rn. 22; KK-OWiG/Senge, 5. Aufl., § 74 Rn. 29). Sie sind auch bei einem von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbundenen Betroffenen gefordert und sinnvoll, um ihm die Konsequenzen seines Nichterscheinens zu verdeutlichen. Diese darf er aber mangels Änderung der Sachlage bei einer bloßen Terminsverlegung in einer Abwesenheitsverhandlung (§ 74 Abs. 1 OWiG) sehen, wie sie für den Entbindungsfall auch Gegenstand der Belehrung ist. Daher erscheint es unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensfairness zumindest fragwürdig, hier von einem - nicht hinweispflichtigen - „Verbrauch“ eines allgemeinen Entbindungsbeschlusses ausgehen zu wollen.
3. Die Entstehungsgeschichte von § 73 Abs. 2 OWiG steht der Auslegung, dass der Entbindungsbeschluss bei einer Terminsverlegung fortwirkt, nicht entgegen. Denn sie spricht jedenfalls nicht für einen „Verbrauch“ der Entbindung in diesem Fall.
a) Ihre gegenwärtige Fassung haben die §§ 73, 74 OWiG durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und anderer Gesetze vom 26. Januar 1998 (BGBl. I S. 156) erhalten. Nach der Vorgängerregelung war der Betroffene grundsätzlich nicht verpflichtet, an der Hauptverhandlung teilzunehmen, das Gericht konnte jedoch sein persönliches Erscheinen anordnen. Das grundlegende Reformmotiv des Gesetzgebers bestand darin, die Justiz durch rechtsstaatlich vertretbare Maßnahmen zur Verfahrensvereinfachung zu entlasten (vgl. BT-Drucks. 13/5418 S. 1; BR-Drucks. 392/96 S. 1). Die bis dahin für rechtliche Auseinandersetzungen anfällige Frage, ob die Anordnung des persönlichen Erscheinens des Betroffenen gerechtfertigt war oder nicht, sollte aus Gründen der Rechtsklarheit und zur Entlastung der Gerichte entfallen, indem die grundsätzliche Anwesenheitspflicht des Betroffenen in der Hauptverhandlung eingeführt wurde (BT-Drucks. 13/5418 S. 9).
b) Eine Aussage zur Reichweite des nach § 73 Abs. 2 OWiG ergehenden Entbindungsbeschlusses bei einer späteren Verlegung des Hauptverhandlungstermins ist den Gesetzesmaterialien nicht zu entnehmen. Allerdings verfängt auf dem dargestellten Hintergrund der Gesetzesänderung auch das Argument des Kammergerichts nicht, Dauer und Reichweite der Entbindung nach § 73 Abs. 2 OWiG seien als Ausnahme von der Anwesenheitspflicht eng auszulegen.
Denn die Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drucks. 13/5418 S. 9) lassen erkennen, dass der Gesetzgeber in erster Linie aus pragmatischen - nicht etwa aus dogmatischen - Erwägungen heraus eine Anwesenheitspflicht des Betroffenen mit einer Entbindungsmöglichkeit vorgesehen hat. Letztere ist durch Gründe der Verhältnismäßigkeit bedingt. Dies ergibt sich auch aus der umgesetzten Empfehlung des Rechtsausschusses, die notwendige Anwesenheit des Betroffenen auf die Aufklärung „wesentlicher Gesichtspunkte“ des Sachverhalts zu begrenzen (vgl. BT-Drucks. 13/8655 S. 13; s. ferner BeckOK-OWiG/Hettenbach, 40. Ed., § 73 Rn. 1). Die insoweit gewählte Regelungstechnik ist demnach weniger als ein geschlossenes Regel-Ausnahme-System denn als eine mögliche Ausgestaltung des erforderlichen Interessenausgleichs zwischen den Belangen der Rechtspflege und des Betroffenen zu sehen. Aufgrund dessen legt das Normgefüge nicht nahe, dass der Regelungsgehalt von § 73 Abs. 2 OWiG eng zu fassen ist (ebenso König, DAR 2023, 232, 233).
4. Aus den vorstehenden Gründen ist die (neugefasste) Vorlegungsfrage wie aus der Beschlussformel ersichtlich zu beantworten. Hierfür muss der Senat nicht entscheiden, ob im Einzelfall - etwa zur Verhinderung rechtsmissbräuchlichen Verhaltens bei einer evident veränderten Sachlage - ausnahmsweise die Wirkung des Entbindungsbeschlusses auch im Zuge einer Terminsverlegung entfallen kann.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 186
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede