HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 228
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 652/17, Beschluss v. 09.10.2018, HRRS 2019 Nr. 228
Die Sache wird an das Oberlandesgericht München zurückgegeben.
Die Vorlegungssache betrifft die Fragen, ob das Tatbestandsmerkmal des Rausches im Sinne des § 323a Abs. 1 StGB das sichere Vorliegen zumindest der Voraussetzungen des § 21 StGB erfordert und ob eine Wahlfeststellung zwischen den Straftatbeständen nach § 316 StGB und § 323a StGB möglich ist.
1. a) Dem Angeklagten liegt zur Last, „zwischen dem 10. Januar 2015, 0:00 Uhr bis 11. Januar 2015, 9:00 Uhr“ auf der A. -Straße in M. einen Pkw geführt zu haben, obwohl er infolge vorangegangenen Alkoholkonsums fahruntüchtig gewesen sei. Das Amtsgericht München hat daher gegen ihn wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr einen Strafbefehl erlassen und eine Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 40 € festgesetzt. Auf den Einspruch des Angeklagten hat ihn das Amtsgericht München mit Urteil vom 3. September 2015 aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Zwar habe der Angeklagte, so das Amtsgericht, „zwischen dem 10. Januar 2015 abends und dem 11. Januar 2015, 9:00 Uhr“ mit einem Pkw trotz vorangegangenen Alkoholkonsums die A. -Straße in M. befahren. Es habe aber nicht sicher festgestellt werden können, ob die Schuldfähigkeit des Angeklagten zum Tatzeitpunkt erheblich vermindert oder aufgehoben gewesen sei. Eine Wahlfeststellung zwischen den Straftatbeständen nach § 316 StGB und § 323a StGB komme nicht in Betracht.
b) Mit Urteil vom 29. April 2016 hat das Landgericht München I die gegen den Freispruch des Angeklagten gerichtete Berufung der Staatsanwaltschaft verworfen und zur Begründung ausgeführt, es habe schon nicht festgestellt werden können, dass der Angeklagte überhaupt ein Fahrzeug im Straßenverkehr geführt habe. Seine insoweit selbstbelastenden Angaben aus Anlass einer informatorischen Befragung durch die Polizei und bei der anschließenden Beschuldigtenvernehmung seien unverwertbar, weil gegen Belehrungsvorschriften verstoßen worden sei.
c) Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat das Oberlandesgericht München mit Urteil vom 23. November 2016 die vorbezeichnete Entscheidung des Landgerichts München I aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts München I zurückverwiesen. Es hat auf eine Verfahrensrüge der Staatsanwaltschaft die Angaben des Angeklagten im Ermittlungsverfahren für verwertbar erklärt; ein Verstoß gegen Belehrungspflichten habe nicht vorgelegen.
d) Im zweiten Rechtsgang ist das Landgericht München I in seinem Urteil vom 23. Mai 2017 erneut von der Unverwertbarkeit der Angaben des Angeklagten im Ermittlungsverfahren ausgegangen, weshalb, so das Landgericht, weiterhin nicht nachzuweisen sei, dass der Angeklagte überhaupt ein Kraftfahrzeug geführt habe. Dazu hat das Landgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
aa) Der Angeklagte wurde am 11. Januar 2015 kurz nach 9:00 Uhr von zwei Polizeibeamten in dem auf einem Kundenparkplatz abgestellten Pkw seiner Ehefrau angetroffen. Der Angeklagte schlief bei laufendem Motor. In den zwei linken Reifen des Fahrzeugs befand sich keine Luft mehr. Als der Angeklagte nach mehrmaligem Ansprechen und Anklopfen die Seitenscheibe öffnete, war deutlicher Alkoholgeruch wahrnehmbar. Obwohl die Polizeibeamten von einer Straftat nach § 316 StGB oder § 315c StGB ausgingen, wurde der Angeklagte ohne Belehrung zum Sachverhalt befragt. Der Angeklagte machte daraufhin Angaben zur Sache, ebenso in der anschließenden Beschuldigtenvernehmung, der keine qualifizierte Belehrung vorausgegangen war. Dem Angeklagten wurden um 10:05 Uhr und um 10:25 Uhr Blutproben entnommen, die Blutalkoholkonzentrationen von 2,09 Promille bzw. 2,07 Promille aufwiesen.
bb) Das Landgericht hat überdies ausgeführt, dass bei einem „Tatzeitraum gegen 0:00 Uhr“ die wahrscheinliche Blutalkoholkonzentration bei 4,19 Promille gelegen habe, so dass von einer aufgehobenen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden müsse. Bei einer Fahrt kurz vor 9:00 Uhr sei hingegen von einer Blutalkoholkonzentration von wahrscheinlich 2,07 bis 2,09 Promille auszugehen, wobei nicht feststellbar sei, ob die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zu diesem Zeitpunkt erheblich vermindert gewesen sei.
cc) Der Angeklagte sei daher, so das Landgericht, mangels festgestellter Fahrereigenschaft bereits aus tatsächlichen Gründen freizusprechen. Zudem hat es darauf verwiesen, dass „selbst für den Fall der Verwertbarkeit“ unklar bleibe, ob eine Trunkenheitsfahrt nach § 316 StGB oder eine Vollrauschtat gemäß § 323a StGB vorgelegen habe. Somit müsse der Angeklagte auch aus Rechtsgründen freigesprochen werden, da eine Wahlfeststellung zwischen den Straftatbeständen nach § 316 StGB und nach § 323a StGB nicht möglich sei.
dd) Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt und insbesondere mit einer Verfahrensrüge erneut die fehlerhaft unterbliebene Verwertung der Angaben des Angeklagten im Ermittlungsverfahren beanstandet.
2. Das Oberlandesgericht München hält die Revision der Staatsanwaltschaft für zulässig und begründet. Es sieht sich an der beabsichtigten Entscheidung aber durch das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 21. September 2004 (1 Ss 102/04, NJW 2004, 3356) gehindert. Es hat daher die Sache durch Beschluss vom 8. Dezember 2017 dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung der Rechtsfragen vorgelegt, „ob (1) das Tatbestandsmerkmal des Rausches nach § 323a StGB erfordert, dass zumindest die Voraussetzungen des § 21 StGB sicher vorliegen, und (2) eine Wahlfeststellung zwischen den Straftatbeständen des § 316 StGB und des § 323a StGB möglich ist.“ Diese Rechtsfragen sind nach Auffassung des Oberlandesgerichts entscheidungserheblich, da das Landgericht zwar „angedeutet“ habe, dass es aufgrund einer Unverwertbarkeit der Angaben des Angeklagten im Ermittlungsverfahren bereits von seiner Fahrereigenschaft nicht überzeugt sei. Diese Bedenken teile der vorlegende Senat jedoch nicht, so dass keine Zweifel an der Fahrereigenschaft des Angeklagten bestünden. Somit komme es „für den weiteren Gang des Verfahrens“ entscheidend auf die Beantwortung der Vorlagefragen an.
3. Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen, dass das Tatbestandsmerkmal des Rausches im Sinne des § 323a StGB das sichere Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB nicht erfordere und dass eine (echte) Wahlfeststellung zwischen den Straftatbeständen des § 316 StGB und des § 323a StGB nicht möglich sei.
Der Senat gibt die Sache an das Oberlandesgericht München zurück. Die Voraussetzungen für die Vorlegung sind nicht gegeben (§ 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG), da sich die vorgelegten Rechtsfragen bei dem zu beurteilenden Sachverhalt nicht stellen, es mithin an der Entscheidungserheblichkeit fehlt.
1. Ob die tatsächlichen Feststellungen des Tatrichters, von denen die rechtliche Auffassung des vorlegenden Oberlandesgerichts im Revisionsverfahren ausgeht, eine ausreichende Grundlage für die beabsichtigte Entscheidung bilden, hat der Bundesgerichtshof nicht im Einzelnen nachzuprüfen; es genügt, dass die diesbezügliche Auffassung des vorlegenden Oberlandesgerichts jedenfalls vertretbar ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Oktober 2010 - 3 StR 6/00, BGHSt 46, 178, 179; vom 23. Mai 1969 - 4 StR 585/68, BGHSt 22, 385, 386; KK-StPO/Hannich, 7. Aufl., § 121 GVG Rn. 43; LR-StPO/Franke, 26. Aufl., § 121 GVG Rn. 77; SSW-StPO/Quentin, 3. Aufl., § 121 GVG Rn. 21). Ausnahmsweise ist eine Sache aber ohne Bescheidung zurückzugeben, wenn die zur Vorlegung führende Würdigung des Sachverhalts durch das vorlegende Oberlandesgericht schlechthin unvertretbar ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Februar 1968 - 2 StR 360/67, BGHSt 22, 94, 100; vom 17. März 1988 - 1 StR 361/87, BGHSt 35, 238, 240; vom 29. März 1990 - 1 StR 22/90, BGHSt 36, 389, 393; LR-StPO/Franke, aaO, § 121 GVG Rn. 78). Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn die dem Revisionsverfahren zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen völlig unzureichend sind und der Sachverhalt ungeklärt ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. September 2002 - 5 StR 117/02, NStZ-RR 2003, 12, 13; vom 13. Juli 1978 - 4 StR 82/78, BGHSt 28, 72, 74; KK-StPO/Hannich, aaO, § 121 GVG Rn. 44; LR-StPO/Franke, aaO, § 121 GVG Rn. 78).
2. Gemessen daran ist das Oberlandesgericht München zu Unrecht davon ausgegangen, die aufgeworfenen Rechtsfragen seien (bereits) im gegenwärtigen Verfahrensstadium entscheidungserheblich.
a) Nach den für das Revisionsverfahren bindenden Feststellungen im angefochtenen Urteil des Landgerichts stellen sich die der Vorlage zugrundeliegenden Rechtsfragen nicht. Dem Urteil des Landgerichts München I sind keinerlei Feststellungen dahin zu entnehmen, dass der Angeklagte überhaupt ein Fahrzeug in alkoholisiertem Zustand geführt hat. Das Landgericht hat - entgegen den Ausführungen im Vorlagebeschluss - die fehlende Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Angeklagten nicht bloß „angedeutet“, sondern dieses Tatbestandsmerkmal ausdrücklich nicht festgestellt („Die Fahrereigenschaft konnte weder im Sinne des § 316 StGB noch im Sinne des § 323a StGB festgestellt werden.“) und dies auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung zum Vorliegen eines Verwertungsverbots hinsichtlich der Angaben des Angeklagten im Ermittlungsverfahren beweiswürdigend unterlegt. Somit liegen dem Revisionsverfahren vor dem Oberlandesgericht München Feststellungen zugrunde, aus denen sich weder unter dem Gesichtspunkt von § 316 StGB noch unter dem des § 323a StGB ein strafbarer Sachverhalt ergibt. Das bloße Sitzen im unbewegten Fahrzeug fällt auch dann nicht unter den Begriff des „Führens“ eines Kraftfahrzeugs, wenn der Motor in Betrieb ist (vgl. OLG Düsseldorf, NZV 1992, 197 f.; Fischer, StGB, 65. Aufl., § 315c Rn. 3b; MüKo-StGB/Pegel, 2. Aufl., § 316 Rn. 6 und § 315c Rn. 15).
b) Dass das Oberlandesgericht München zum Ausdruck gebracht hat, es bestünden - aus seiner Sicht - keine Zweifel an der Fahrereigenschaft des Angeklagten, vermag die fehlenden Feststellungen, die der Tatrichter unter Bindung an die Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts München als Revisionsgericht zu treffen hat, nicht zu ersetzen. Zudem kommt es für die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechtsfragen nicht lediglich darauf an, dass der Angeklagte das Fahrzeug überhaupt alkoholisiert geführt hat. Erst wenn nach tatrichterlicher Würdigung des Sachverhalts zusätzlich ein Tatzeitfenster offenbleibt, das bei der daran anknüpfenden Schuldfähigkeitsbewertung sowohl eine voll erhaltene als auch eine aufgehobene Schuldfähigkeit als möglich erscheinen lässt, sind die vorgelegten Rechtsfragen entscheidungserheblich. Gerade insofern ist der Sachverhalt in dem angefochtenen Urteil aber ungeklärt geblieben.
c) Die Entscheidungserheblichkeit ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Ausführungen in dem Urteil des Landgerichts München I vom 23. Mai 2017. Soweit sich dieses exemplarisch zur Schuldfähigkeit des Angeklagten in dem im Strafbefehl genannten Tatzeitraum verhält und auf die damit verbundene rechtliche Problematik der Vorlegungsfragen verweist, handelt es sich ersichtlich um bloße Hilfserwägungen und - unabhängig von der prozessualen Bedenklichkeit eines solchen Vorgehens - nicht um alternative Feststellungen, ausgehend von der Verwertbarkeit der Angaben des Angeklagten. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass das Landgericht schon keine Beweiswürdigung zu der Frage der möglichen Tatzeitfenster vorgenommen hat, sondern abschließend sogar Zweifel an dem im Strafbefehl genannten Tatzeitraum zum Ausdruck gebracht hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 228
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 60; StV 2019, 684
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner