HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 792
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 91/22, Urteil v. 10.11.2022, HRRS 2023 Nr. 792
1. Auf die Revision der Generalstaatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. November 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
a) im Fall II.3 der Urteilsgründe
b) in den Aussprüchen über die Gesamtstrafe und über das Fahrverbot.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges, wegen „vorsätzlicher“ Körperverletzung sowie wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort zu einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je fünf Euro verurteilt und ein Fahrverbot von drei Monaten verhängt. Hiergegen wendet sich die Generalstaatsanwaltschaft mit ihrer auf die Fälle II.2 und II.3 der Urteilsgründe beschränkten Revision. Das zuungunsten des Angeklagten eingelegte Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt teilweise vertreten wird, hat den aus der Urteilsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet.
Das Landgericht hat zu den Fällen II.2 und II.3 der Urteilsgründe folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Zwischen dem Angeklagten und seiner Freundin kam es am Tattag in ihrer Wohnung zu einem Gespräch, das die Zeugin u. a. auf die Herkunft des Angeklagten und die „Taliban“ brachte. Der Angeklagte, dem die Fragen der Zeugin seltsam vorkamen, bemerkte deren Smartphone, das zwischen der Kante und der Matratze des Bettes eingeklemmt war und mit dem die Zeugin das Gespräch aufzeichnete. Nachdem der Angeklagte das Smartphone an sich genommen hatte, versuchte er, die Sprachaufnahme zu stoppen und zu löschen. Die Zeugin wollte dies verhindern und dem Angeklagten das Smartphone entreißen. Es entwickelte sich eine Rangelei, in deren Verlauf der Angeklagte aus Verärgerung über die heimliche Aufnahme der Zeugin mit der flachen Hand in das Gesicht schlug und ihr dadurch Schmerzen verursachte.
Als der Angeklagte versuchte, die Wohnung zu verlassen, um die Aufnahme auf dem Smartphone zu löschen, kündigte ihm die Zeugin an, mit einem älteren Handy wegen des Schlages die Polizei zu rufen. Um dies zu verhindern, riss ihr der Angeklagte dieses Handy aus der Hand, wobei die „übertölpelte“ Zeugin keinen Widerstand leistete (Fall II.2 der Urteilsgründe).
Die Strafkammer hat den Schlag als Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB gewürdigt und das Verhalten des Angeklagten hinsichtlich der beiden Mobiltelefone als straflos bewertet, weil er insoweit keine Gewalt angewendet und nicht in Zueignungsabsicht gehandelt habe.
2. Als der Angeklagte im Anschluss an die Rangelei mit seinem Pkw wegfahren wollte, um das Smartphone in Sicherheit zu bringen, stellte sich die Zeugin in den Bereich des Frontscheinwerfers auf der Fahrerseite, stützte sich mit den Händen auf der Kühlerhaube ab und forderte die Herausgabe ihrer beiden Mobiltelefone. Der Angeklagte tippte zwei- oder dreimal kurz das Gaspedal an, trat aber jeweils sofort wieder auf die Bremse, weil die Zeugin weiterhin im Weg stand. Als diese eine kurze Bewegung weg vom Fahrzeug machte, fuhr der Angeklagte geradeaus nach vorne an, um das Smartphone mit der Sprachaufzeichnung in Sicherheit zu bringen. Dabei vertraute er darauf, dass die Zeugin nicht verletzt würde. Entgegen der Erwartung des Angeklagten kam diese ins Straucheln und erlitt durch den Sturz auf die Straße eine Beckenprellung.
Der Angeklagte, der den Sturz der Zeugin bemerkte und es für möglich hielt, dass sie sich dabei eine Verletzung zugezogen hatte, fuhr ohne Unterbrechung zügig weiter (Fall II.3 der Urteilsgründe).
Das Landgericht hat dieses Geschehen als fahrlässige Körperverletzung (§ 229 StGB) in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort (§ 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB) gewürdigt.
Die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Generalstaatsanwaltschaft ist wirksam auf die Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II.2 und II.3 der Urteilsgründe beschränkt. Sie führt zur Aufhebung der Verurteilung im Fall II.3 der Urteilsgründe. Dies zieht die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs und der Anordnung des Fahrverbots nach sich. Im Übrigen bleibt die Revision erfolglos.
1. Die Verurteilung des Angeklagten lediglich wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort im Fall II.3 der Urteilsgründe kann schon deshalb nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht die Annahme einer versuchten Nötigung gemäß § 240 Abs. 3, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB mit rechtsfehlerhaften Erwägungen verneint hat.
a) Die Strafkammer hat keine Anhaltspunkte dafür gesehen, dass der Angeklagte durch das mehrfache kurze Antippen des Gaspedals der Zeugin konkludent drohen wollte, sie anzufahren, falls sie den Weg nicht freigebe. Vielmehr habe er sofort gebremst, als er bemerkte, dass die Zeugin stehen blieb. Auch habe die Zeugin das Verhalten des Angeklagten nicht als Drohung verstanden, sondern sei fest davon ausgegangen, dass dieser nicht losfahren werde, solange sie direkt vor der Kühlerhaube stehe.
b) Diese Erwägungen tragen die Verneinung eines auf die Begehung einer Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 StGB gerichteten Tatentschlusses nicht.
aa) Der Tatbestand eines versuchten Delikts verlangt in subjektiver Hinsicht (Tatentschluss) das Vorliegen einer vorsatzgleichen Vorstellung, die sich auf alle Umstände des äußeren Tatbestands bezieht (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Januar 2020 - 4 StR 324/19, NStZ 2020, 402 Rn. 17; Urteil vom 10. September 2015 - 4 StR 151/15, NJW 2015, 3732 Rn. 13). Die Annahme einer versuchten Nötigung gemäß § 240 Abs. 3 StGB in der Variante der Drohung mit einem empfindlichen Übel setzt daher in subjektiver Hinsicht voraus, dass der Täter zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat (bedingter Vorsatz; vgl. dazu BGH, Urteil vom 2. Oktober 1953 - 3 StR 153/53, BGHSt 5, 245, 246), dass sein Verhalten von dem Tatopfer als ein Inaussichtstellen eines erheblichen Nachteils (hier eines Anfahrens mit dem Pkw) verstanden wird. Dazu bedarf es einer umfassenden Würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände.
bb) Diesen Anforderungen werden die Ausführungen des Landgerichts nicht gerecht. Die Erwägungen des Landgerichts zum Bremsen nach dem Ausbleiben einer Reaktion der Zeugin legen gerade nahe, dass der Angeklagte beim Antippen des Gaspedals damit rechnete, die Zeugin werde sein Verhalten als die Androhung eines Anfahrens verstehen und deshalb den Weg freigeben. Dass der Angeklagte tatsächlich vom Gas ging, zeigt für sich genommen lediglich, dass er die angekündigte Handlung bei Erfolglosigkeit seiner Drohung nicht in die Tat umsetzen wollte. Der Umstand, dass die Zeugin das Verhalten des Angeklagten nicht als eine Drohung verstand, steht dem nicht entgegen, da es insoweit auf das Vorstellungsbild des Angeklagten ankommt.
c) Um dem neuen Tatrichter widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen, hebt der Senat die Verurteilung im Fall II.3 der Urteilsgründe insgesamt auf. Dies zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe und der Anordnung des Fahrverbots nach sich.
2. Im Übrigen bleibt die Revision ohne Erfolg. Die Verurteilung im Fall II.2 der Urteilsgründe lediglich wegen Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB hält revisionsrechtlicher Überprüfung stand.
a) Die Strafkammer ist im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass sich der Angeklagte - ungeachtet der unklaren Feststellungen - bei der Abwehr des Versuchs der Zeugin, das erste Mobiltelefon vor dessen Abschaltung und der Löschung der Aufnahme zurück zu erlangen, nicht wegen Nötigung strafbar gemacht hat. Denn eine solche Nötigung wäre durch Notwehr gerechtfertigt (§ 32 Abs. 2 StGB). Zum Zeitpunkt der Rangelei dauerte der Angriff der Zeugin auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Angeklagten durch eine unbefugte Tonaufnahme des nichtöffentlich gesprochenen Wortes an (§ 201 Abs. 1 Nr. 1 StGB). Dieser Angriff war auch rechtswidrig. Anhaltspunkte dafür, dass die Aufzeichnung durch die Zeugin gerechtfertigt sein könnte (etwa zur Erlangung von Beweismitteln für ein Strafverfahren, vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 1973 - 2 BvR 454/71, BVerfGE 34, 238 Rn. 43), lassen sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Der Angeklagte handelte auch mit Verteidigungswillen, da er durch sein Verhalten einen Abbruch der Sprachaufzeichnung ermöglichen wollte.
b) Soweit die Generalstaatsanwaltschaft einen Erörterungsmangel darin erblickt, dass es angesichts des engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs weiterer Ausführungen dazu bedurft hätte, ob auch der Schlag des Angeklagten der Besitzerhaltung des Smartphones diente, zeigt sie keinen Rechtsfehler auf. Vorliegend hat das Landgericht aufgrund der Einlassung des Angeklagten, die es auch im Übrigen als plausibel bewertet hat, die Überzeugung gewonnen, dass er den Schlag lediglich aus Verärgerung über die erfolgte heimliche Aufnahme führte und nicht, um sich den Besitz des Smartphones zu sichern. Das Landgericht hat zudem die Angaben der Zeugin in den Blick genommen, wonach der Schlag Teil des Streits wegen der Aufnahme gewesen sei. Damit hat das Landgericht die Motivation des Angeklagten für den Schlag unter Berücksichtigung der Nähe zur Auseinandersetzung um das Smartphone tragfähig belegt. Weiterer Erörterungen bedurfte es nicht.
c) Auch die Bewertung des Landgerichts, in der Wegnahme des älteren Handys habe keine Gewalt gelegen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB eine körperlich vermittelte Zwangswirkung zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands voraus. Dazu kann auch ein geringer körperlicher Aufwand genügen, wenn seine Auswirkungen sich physisch wirkend als körperlicher Zwang darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juli 1995 ? 1 StR 126/95, NJW 1995, 2643 Rn. 14).
Daran gemessen ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass der Angeklagte insoweit keine Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB anwandte. Es hat festgestellt, dass die „übertölpelte“ Zeugin bei der Wegnahme des Handys keinen Widerstand leistete und der Angeklagte keine körperliche Kraft aufwenden musste. Diese Feststellungen zur (fehlenden) körperlichen Zwangswirkung hat das Landgericht auch hinreichend belegt. Es hat sich dazu auf die Einlassung des Angeklagten sowie die Angaben der Zeugin gestützt, wonach sie gerade „am Tippen“ gewesen sei und das Gerät daher nicht fest im Griff gehabt habe.
3. Die Überprüfung des Urteils im Umfang der Anfechtung hat keinen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten ergeben (§ 301 StPO).
4. Der Senat weist für die neue Hauptverhandlung auf das Folgende hin:
a) Sofern das neue Tatgericht im Fall II.3 der Urteilsgründe zur Annahme einer versuchten Nötigung gelangt, wird es auch einen Rücktritt zu prüfen haben (§ 24 Abs. 1 StGB).
b) Entschließt sich ein Täter nach einem von ihm verursachten Unfall zur Flucht, stellt dies im Verhältnis zu den vor oder mit einem Verkehrsunfall begangenen Taten grundsätzlich eine rechtlich selbständige Handlung dar (vgl. BGH, Urteil vom 17. Februar 1967 - 4 StR 461/66, BGHSt 21, 203 Rn. 9).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 792
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede