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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 805

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 385/22, Beschluss v. 14.02.2023, HRRS 2023 Nr. 805


BGH 4 StR 385/22 - Beschluss vom 14. Februar 2023 (LG Limburg)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (abzuurteilende Tat zwischen zwei Vorverurteilungen: Zäsurwirkung der ersten Vorverurteilung, Erledigung der zugrundeliegenden Strafe bereits vor der zweiten Vorverurteilung, eigenständige Bedeutung); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Erfolgsaussicht: Prognose, Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung, Gesamtschau, prognoseungünstigen Faktoren, polyvalente Suchterkrankung).

§ 55 StGB; § 64 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Ist die neu abzuurteilende Tat zwischen zwei Vorverurteilungen begangen worden, die untereinander nach der Regelung des § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB gesamtstrafenfähig sind, darf aus der Strafe für die neu abzuurteilende Tat und der Strafe aus der letzten Vorverurteilung keine Gesamtstrafe gebildet werden. Einer nachträgli1chen Gesamtstrafenbildung steht in diesem Fall die von der ersten Vorverurteilung ausgehende Zäsurwirkung entgegen. Diese entfällt nur, wenn die der ersten Vorverurteilung zugrundeliegende Strafe bereits vor der zweiten Vorverurteilung - etwa infolge vollständiger Vollstreckung - erledigt ist. Andernfalls kommt der zweiten Vorverurteilung, wenn die Taten aus beiden Vorverurteilungen bereits in dem früheren Erkenntnis hätten geahndet werden können, gesamtstrafenrechtlich keine eigenständige Bedeutung zu.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Limburg a. d. Lahn vom 1. Juli 2022 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

a) soweit es den Angeklagten H. betrifft,

aa) im Ausspruch über die Gesamtstrafe,

bb) im Ausspruch über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und den Vorwegvollzug eines Teils der Gesamtfreiheitsstrafe;

b) soweit es die Angeklagte W. betrifft, im Ausspruch über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und den Vorwegvollzug eines Teils der Freiheitsstrafe.

Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten des erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit räuberischem Angriff auf Kraftfahrer und schwerer räuberischer Erpressung schuldig gesprochen. Den Angeklagten H. hat es deswegen unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und vier Monaten und die Angeklagte W. zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und acht Monaten verurteilt. Zudem hat es die Unterbringung beider Angeklagten in einer Entziehungsanstalt und den Vorwegvollzug eines Teils der Strafen angeordnet. Ferner hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die jeweils mit der allgemeinen Sachrüge geführten Revisionen der Angeklagten haben den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg und sind im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Der Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe gegen den Angeklagten H. hat keinen Bestand, weil die Urteilsgründe nicht ergeben, dass die Voraussetzungen für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB vorliegen.

a) Ist die neu abzuurteilende Tat zwischen zwei Vorverurteilungen begangen worden, die untereinander nach der Regelung des § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB gesamtstrafenfähig sind, darf aus der Strafe für die neu abzuurteilende Tat und der Strafe aus der letzten Vorverurteilung keine Gesamtstrafe gebildet werden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 27. September 2022 - 4 StR 321/22, NStZ-RR 2022, 371; Beschluss vom 26. Februar 2020 - 4 StR 420/19 Rn. 3; Beschluss vom 10. April 2019 - 4 StR 25/19 Rn. 11; jew. mwN). Einer nachträgli1chen Gesamtstrafenbildung steht in diesem Fall die von der ersten Vorverurteilung ausgehende Zäsurwirkung entgegen. Diese entfällt nur, wenn die der ersten Vorverurteilung zugrundeliegende Strafe bereits vor der zweiten Vorverurteilung - etwa infolge vollständiger Vollstreckung - erledigt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juni 2013 - 3 StR 161/13, BGHR StPO § 460 Anwendung 1). Andernfalls kommt der zweiten Vorverurteilung, wenn die Taten aus beiden Vorverurteilungen bereits in dem früheren Erkenntnis hätten geahndet werden können, gesamtstrafenrechtlich keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2013 - 4 StR 356/13 Rn. 5).

b) Eine nach diesen Maßgaben rechtsfehlerfreie nachträgliche Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 StGB ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen.

Das Landgericht hat aus der für die verfahrensgegenständliche Tat vom 28. November 2021 verhängten Strafe und zwei Einzelfreiheitsstrafen aus einem Urteil des Amtsgerichts Diez vom 12. Januar 2022 nach Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe eine nachträgliche Gesamtfreiheitsstrafe gebildet. Die dieser Verurteilung zugrundeliegenden Taten wurden am 27. April 2021 begangen. Den Urteilsgründen ist weiter zu entnehmen, dass der Angeklagte durch das Amtsgericht Limburg a. d. Lahn am 6. Januar, 1. April und 19. Oktober 2021 zu weiteren Strafen verurteilt worden ist. Die Tatzeiten, die Rechtskraftdaten und der Vollstreckungsstand werden insoweit - bis auf die der Verurteilung vom 19. Oktober 2021 zugrundeliegenden Tatzeiten (siehe dazu sogleich) - nicht mitgeteilt.

Da die einbezogenen Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Diez vom 12. Januar 2022 für Taten verhängt worden sind, die vor dem Urteil des Amtsgerichts Limburg a. d. Lahn vom 19. Oktober 2021 begangen wurden, erweist sich das verfahrensgegenständliche Urteil insoweit nur dann als zutreffend, wenn dem Urteil des Amtsgerichts Limburg a. d. Lahn vom 19. Oktober 2021 seinerseits keine Zäsurwirkung zukommt, weil alle dort abgeurteilten Taten (Tatzeiten: 17./18., 25. Dezember 2020, 26. und 27. Januar 2021) vor einer noch nicht erledigten Vorverurteilung begangen wurden und deshalb dort eine Gesamtstrafe zu bilden war oder noch ist. Dies lässt sich aufgrund der dazu fehlenden Mitteilungen nicht beurteilen. Die Taten vom 26. und 27. Januar 2021 wurden vor dem Urteil des Amtsgerichts Limburg a. d. Lahn vom 1. April 2021 und nach dem Urteil desselben Gerichts vom 6. Januar 2021 begangen. Da die Urteilsgründe offenlassen, ob der Strafe aus dem Urteil vom 1. April 2021 eine Tat zugrunde lag, die vor dem Urteil vom 6. Januar 2021 begangen wurde, und auch offenbleibt, ob das Urteil vom 6. Januar 2021 am 1. April 2021 schon erledigt war, kann nicht entschieden werden, ob insoweit nach § 460 StPO noch eine Gesamtstrafe gebildet werden muss, weil jedenfalls das Urteil vom 1. April 2021 noch nicht erledigt ist (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 30. Juli 2020 - 4 StR 518/19 Rn. 3; Beschluss vom 17. Juli 2007 - 4 StR 266/07, NStZ 2007, 369, 370). Dies hätte zur Folge, dass dem Urteil vom 1. April 2021 keine Zäsurwirkung zukommt und damit das Urteil vom 19. Oktober 2021 jedenfalls hinsichtlich der Einzelstrafen für die Taten nach dem 6. Januar 2021 nicht gesamtstrafenrechtlich erledigt wäre. Dieses Urteil würde dann insoweit in Bezug auf die in das verfahrensgegenständliche Urteil einbezogenen Strafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Diez vom 12. Januar 2022 eine Zäsurwirkung entfalten und diese von einer Gesamtstrafenbildung im hiesigen Verfahren ausschließen.

c) Eine Beschwer des Angeklagten durch die Gesamtstrafenbildung, die zu einer Erhöhung der Einsatzstrafe von sieben Jahren und zwei Monaten um zwei Monate geführt hat (§ 55 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 StGB), kann nicht ausgeschlossen werden.

2. Auch die Anordnung der Unterbringung beider Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 Satz 1 StGB hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die sachverständig beratene Strafkammer hat die Annahme einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht der Behandlung im Sinne von § 64 Satz 2 StGB in beiden Fällen rechtsfehlerhaft begründet.

a) Bezogen auf den Angeklagten H. hat sie bereits den rechtlichen Maßstab verfehlt, indem sie sich unter Bezugnahme auf das Sachverständigengutachten mit der Erwartung begnügt hat, „dass sich der Angeklagte bei erfolgreichem Durchlaufen der Therapie legal prognostisch zukünftig deutlich besser bewähren werde und nach einer Therapie das Prognoserisiko günstigstenfalls im unteren bis mittleren Bereich für Delikte im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln oder ähnlichem anzusiedeln sei“. Dies verkennt, dass für die Bejahung einer hinreichenden Erfolgsaussicht im Sinne von § 64 Satz 2 StGB eine Prognose erforderlich ist, aus der sich ergibt, dass die Gefährlichkeit des Verurteilten aufgehoben oder zumindest deutlich herabgesetzt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Oktober 2022 - 2 StR 101/22, NStZ-RR 2023, 40; Beschluss vom 6. August 2002 - 4 StR 230/02, NStZ 2003, 86; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 64 Rn. 19 mwN).

Mit den darüber hinausgehenden Erwägungen, der Angeklagte stehe einer Therapie prinzipiell positiv gegenüber, sei krankheitseinsichtig, habe die Notwendigkeit der Behandlung seiner Betäubungsmittelabhängigkeit erkannt und verfüge über die notwendigen intellektuellen Möglichkeiten, an einer Entzugsbehandlung mitzuwirken, hat das Landgericht zudem lediglich die Möglichkeit einer therapeutischen Veränderung des Angeklagten aufgezeigt. Diese reicht für die Annahme einer hinreichenden Erfolgswahrscheinlichkeit aber nicht aus (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 31. August 2022 - 5 StR 130/22, NStZ-RR 2022, 372; Beschluss vom 9. November 2021 - 5 StR 208/21 Rn. 7; Beschluss vom 10. Juni 2021 - 2 StR 104/21 Rn. 18; Ziegler in BeckOK-StGB, 55. Ed., § 64 Rn. 12; van Gemmeren in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 64 Rn. 61 ff.; jew. mwN).

b) Bei der Angeklagten W. hat die Strafkammer zwar im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass für die Bejahung einer ausreichenden Erfolgsaussicht erforderlich ist, dass „nach der anzustellenden Prognose bei erfolgreichem Therapieverlauf die Gefährlichkeit aufgehoben oder deutlich herabgesetzt wird und sich in Persönlichkeit und Lebensumständen des Täters konkrete Anhaltspunkte finden, die einen solchen Verlauf erwarten lassen.“ Diese Anhaltspunkte hat sie jedoch allein mit der „vom Sachverständigen als aufrichtig bezeichneten, explizit erklärten Therapiebereitschaft, der Einsicht in die bestehende Suchtkrankheit sowie in der geäußerten Erkenntnis, dass die Angeklagte es ohne Hilfe nicht schaffen werde“ als gegeben angesehen. Dabei handelt es sich wiederum lediglich um Voraussetzungen dafür, eine Behandlung überhaupt durchzuführen, die noch nichts über die Wahrscheinlichkeit eines möglicherweise zu erzielenden Therapieerfolges aussagen.

Überdies hat das Landgericht im Rahmen der gebotenen Gesamtschau wesentliche prognoseungünstige Faktoren nicht in den Blick genommen. Dies gilt insbesondere für die langjährige polyvalente Suchterkrankung der Angeklagten (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 22. November 2022 - 4 StR 347/22, NStZ-RR 2032, 41; Beschluss vom 4. November 2014 - 5 StR 464/14 Rn. 4; van Gemmeren, aaO, Rn. 65 mwN), ihren im Tatzeitraum praktizierten Beikonsum von Rauschgiften während einer Substitutionsbehandlung mit Methadon und ihre ungünstigen Lebensumstände (Arbeitslosigkeit, erneute Straffälligkeit, Einfluss durch einen drogen- und alkoholabhängigen Lebensgefährten).

c) Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Die Maßregelentscheidungen bedürfen daher insgesamt neuer Prüfung und Entscheidung, wobei sich die neu zur Entscheidung berufene Strafkammer erneut sachverständiger Hilfe zu bedienen haben wird (§ 246a Abs. 1 Satz 2 StPO). Der Senat hebt auch die zugehörigen Feststellungen auf, um dem neuen Tatgericht umfassende und in sich stimmige Feststellungen zu ermöglichen (§ 353 Abs. 2 StPO).

3. Mit der Aufhebung des Maßregelausspruchs entfällt auch die Anordnung des Vorwegvollzugs nach § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB (vgl. BGH, Beschluss vom 9. November 2022 - 4 StR 272/22, ZfSch 2023, 108, 109, Rn. 22; Beschluss vom 13. April 1999 - 1 StR 51/99, BeckRS 1999, 30054513; Maier in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 67 Rn. 161 mwN).

4. Im Übrigen hat die auf die Sachrügen gebotene materiellrechtliche Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 805

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede