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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1145

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 321/22, Beschluss v. 27.09.2022, HRRS 2022 Nr. 1145


BGH 4 StR 321/22 - Beschluss vom 27. September 2022 (LG Essen)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Zäsurwirkung: neu abzuurteilende Tat zwischen zwei Vorverurteilungen begangen, Zäsurwirkung der ersten Vorverurteilung, Erledigung der der ersten Vorverurteilung zugrundeliegenden Strafe vor der zweiten Vorverurteilung).

§ 55 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 23. Mai 2022 im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit der Maßgabe aufgehoben, dass eine nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach §§ 460, 462 StPO, auch über die Kosten des Rechtsmittels, zu treffen ist.

2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen, unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus einer Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt, von der es zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer einen Monat als vollstreckt erklärt hat. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten erzielt einen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Der Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe hat keinen Bestand.

a) Ist die neu abzuurteilende Tat zwischen zwei Vorverurteilungen begangen, die untereinander nach der Regelung des § 55 Abs. 1 StGB gesamtstrafenfähig sind, darf aus der Strafe für die neu abzuurteilende Tat und der Strafe aus der letzten Vorverurteilung keine Gesamtstrafe gebildet werden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 - 4 StR 420/19 Rn. 3; Beschluss vom 10. April 2019 - 4 StR 25/19 Rn. 11; jew. mwN). Einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 StGB steht in diesem Fall die von der ersten Vorverurteilung ausgehende Zäsurwirkung entgegen. Diese entfiele nur, wenn die der ersten Vorverurteilung zugrundeliegende Strafe bereits vor der zweiten Vorverurteilung - etwa infolge vollständiger Vollstreckung der Strafe - erledigt wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Juni 2013 - 3 StR 161/13, BGHR StPO § 460 Anwendung 1). Ist dies nicht der Fall, so kommt der zweiten Vorverurteilung, wenn die Taten aus beiden Vorverurteilungen bereits in dem früheren Erkenntnis hätten geahndet werden können, gesamtstrafenrechtlich keine eigenständige Bedeutung zu (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2013 - 4 StR 356/13 Rn. 5). Dies gilt unabhängig davon, ob eine nachträgliche Gesamtstrafe tatsächlich gebildet wurde oder im Verfahren nach § 460 StPO noch nachgeholt werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juni 2016 - 4 StR 73/16 Rn. 3 mwN).

b) Eine nach diesen Maßgaben rechtsfehlerfreie Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 Abs. 1 StGB ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen.

Das Landgericht hat Taten des Angeklagten vom 16. März 2020 und 1. Mai 2020 abgeurteilt und in die Gesamtfreiheitsstrafe die mit Strafbefehl des Amtsgerichts Essen vom 1. Juli 2020 verhängte Bewährungsstrafe einbezogen, der eine Diebstahlstat vom 26. Oktober 2015 zugrunde liegt. Die Urteilsgründe teilen jedoch den Vollstreckungsstand der in den Jahren 2018 und 2019 gegen den Angeklagten festgesetzten Geldstrafen und insbesondere der am 17. Februar 2020 nachträglich gebildeten Gesamtgeldstrafe nicht mit. Der Senat vermag daher nicht zu überprüfen, ob einer der früheren Vorverurteilungen eine Zäsurwirkung beizumessen ist. Eine solche stünde der Einbeziehung der rechtskräftigen Bewährungsstrafe in die hier verhängte Gesamtfreiheitsstrafe entgegen, sollte beim Erlass des Strafbefehls am 1. Juli 2020 eine Gesamtstrafenlage mit einer damals nicht erledigten Geldstrafe oder mit den Einzelstrafen aus der noch unerledigten Gesamtgeldstrafe bestanden haben.

2. Der Senat macht von § 354 Abs. 1b StPO Gebrauch, der die Möglichkeit eröffnet, das Tatgericht auf eine Entscheidung im Beschlusswege nach §§ 460, 462 StPO zu verweisen (vgl. BGH, Beschluss vom 27. August 2020 - 4 StR 222/20 Rn. 7; Beschluss vom 12. März 2018 - 4 StR 494/17 Rn. 6). Diesem Beschlussverfahren bleibt auch die abschließende Kostenentscheidung vorbehalten. Von der Teilaufhebung unberührt ist die Entscheidung der Strafkammer über die Kompensation wegen einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1145

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede