HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1033
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 177/22, Urteil v. 21.07.2022, HRRS 2022 Nr. 1033
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Hagen vom 3. Dezember 2021 wird verworfen.
2. Es wird davon abgesehen, dem Beschwerdeführer Kosten und Auslagen des Revisionsverfahrens aufzuerlegen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten und auf die allgemeine Sachrüge gestützten Revision. Das Rechtsmittel ist unbegründet.
Nach den Feststellungen stach der zur Tatzeit 19 Jahre und zehn Monate alte Angeklagte im Rahmen eines verbalen Streits um ein Mobiltelefon mit einem Messer zunächst in die Schulter des Geschädigten und anschließend dreimal in dessen Rückenbereich, um ihn zu verletzen. Die vier Stichverletzungen mussten notfallmedizinisch versorgt werden; der Geschädigte erlitt aufgrund einer der Rückenverletzungen einen lebensbedrohlichen traumatischen Hämatothorax.
Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung stand. Der Erörterung bedarf nur Folgendes:
Die Bemessung der zu Recht auf die Schwere der Schuld gestützten Jugendstrafe genügt ? entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts ? den Erfordernissen von § 18 Abs. 2 i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG.
1. Die Strafzumessung ist grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts. Ihm obliegt es, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen zumessungsrelevanten Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. Rechtsfehlerhaft ist eine solche Rechtsfolgenentscheidung nur dann, wenn sie beachtliche Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Wertungen der Rechtsordnung in Widerspruch steht oder den Unrechtsgehalt der Tat fehlerhaft erfasst, wodurch die vom Tatgericht auf dieser Grundlage gezogenen Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und das Maß der persönlichen Schuld in Zweifel zu ziehen sind (vgl. BGH, Urteil vom 9. August 2000 - 3 StR 176/00 Rn. 4; Beschluss vom 17. Dezember 2014 - 3 StR 521/14; Urteil vom 13. Dezember 2021 - 5 StR 115/21 Rn. 12). Eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist dem Revisionsgericht verwehrt (vgl. BGH, Urteil vom 29. August 2018 - 5 StR 214/18 Rn. 7 mwN; Urteil vom 13. Dezember 2021 - 5 StR 115/21 Rn. 12).
Auch bei einer wegen der Schwere der Schuld gegen einen Heranwachsenden verhängten Jugendstrafe ist gemäß § 18 Abs. 2 JGG die Höhe der Jugendstrafe nach jugendspezifischen Kriterien zu bestimmen. Die Urteilsgründe müssen daher in jedem Fall erkennen lassen, dass dem Erziehungsgedanken die ihm zukommende Beachtung geschenkt worden ist. Keinesfalls darf die Begründung wesentlich oder gar ausschließlich nach solchen Zumessungserwägungen vorgenommen werden, die auch bei Erwachsenen in Betracht kommen. Eine lediglich formelhafte Erwähnung des Erziehungsgedankens reicht grundsätzlich nicht aus (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 28. Februar 2012 ? 3 StR 15/12 mwN; Beschluss vom 8. Januar 2015 - 3 StR 581/14; Beschluss vom 19. April 2016 - 1 StR 95/16).
Die Bemessung der Jugendstrafe erfordert von der Jugendkammer, das Gewicht des Tatunrechts gegen die Folgen der Strafe für die weitere Entwicklung des Heranwachsenden abzuwägen. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt ist die innere Tatseite; dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat kommt nur insofern Bedeutung zu, als hieraus Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und das Maß der persönlichen Schuld gezogen werden können. Entscheidend ist, inwieweit sich die charakterliche Haltung, die Persönlichkeit und die Tatmotivation des jugendlichen oder heranwachsenden Täters in der Tat in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben (vgl. BGH, Urteil vom 29. August 2018 - 5 StR 214/18 Rn. 8 mwN; Urteil vom 13. Dezember 2021 - 5 StR 115/21 Rn. 13). Daneben können - insbesondere bei Gewaltverbrechen und anderen schwerwiegenden Straftaten - auch andere Strafzwecke, namentlich der Sühnegedanke und das Erfordernis eines gerechten Schuldausgleichs, Bedeutung erlangen. Erziehungsgedanke und Schuldausgleich stehen dabei in der Regel miteinander in Einklang, da die charakterliche Haltung und das Persönlichkeitsbild, wie sie in der Tat zum Ausdruck gekommen sind, nicht nur für das Erziehungsbedürfnis, sondern auch für die Bewertung der Schuld von Bedeutung sind. Das nach jugendspezifischen Kriterien zu bestimmende Ausmaß der individuellen Schuld bildet wegen des bei der Jugendstrafe ebenfalls geltenden verfassungsrechtlichen Schuldgrundsatzes den Rahmen, innerhalb dessen die erzieherisch erforderliche Strafe gefunden werden muss (vgl. BGH, Urteil vom 29. August 2018 - 5 StR 214/18 Rn. 8; Urteil vom 13. Dezember 2021 - 5 StR 115/21 Rn. 14; Urteil vom 10. Februar 2022 - 3 StR 436/21).
2. Hieran gemessen hält das Urteil rechtlicher Nachprüfung stand.
a) Das Landgericht hat ausdrücklich mehrfach auf die erforderliche erzieherische Einwirkung abgestellt. Als Umstände, die den Erziehungsbedarf bestimmen, hat das Landgericht einerseits neben der Unbestraftheit des Angeklagten den frühen Tod seines Vaters, die Kriegsverhältnisse in seinem Heimatland A. und die damit einhergehende mangelnde Schulbildung sowie den durch die anstrengende Flucht nach Deutschland geprägten Lebensweg des Angeklagten in seine Bewertung einbezogen. Darüber hinaus hat es als den Erziehungsbedarf vermindernd berücksichtigt, dass der Angeklagte aufgrund seiner mangelnden sprachlichen Qualifikation und als Erstverbüßer besonders haftempfindlich ist, und dass er die Verursachung der Stiche nicht abgestritten hat. Andererseits hat es die Auswirkungen der Tat als den Erziehungsbedarf erhöhend eingestuft. Daneben hat das Landgericht zu Lasten des Angeklagten das konkrete Tatbild und die Verwirklichung mehrerer Tatbestandsvarianten (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB) berücksichtigt. Schließlich hat das Landgericht eine Abwägung der Umstände, die den Erziehungsbedarf bestimmen, vorgenommen und unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Angeklagten zur nachhaltigen erzieherischen Einwirkung eine Jugendstrafe von vier Jahren für erforderlich erachtet.
b) Damit hat das Landgericht den Erfordernissen von § 18 Abs. 2 JGG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise Rechnung getragen. Es ist vom zutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen und hat zahlreiche den Erziehungsbedarf bestimmende Gesichtspunkte mit Umständen abgewogen, die das Tatunrecht kennzeichnen. Dass das Landgericht den schwierigen Lebensweg des Angeklagten im Rahmen der den Erziehungsbedarf bestimmenden Umstände als „gleichsam zugunsten des Angeklagten“ und nicht als den Erziehungsbedarf erhöhend eingestellt hat, ist nicht zu beanstanden. Mit dieser Wendung hat das Landgericht lediglich zum Ausdruck gebracht, dass diesem Gesichtspunkt im allgemeinen Strafrecht strafmildernde Bedeutung zukäme. Im Übrigen hat das Landgericht auch insoweit eine vertretbare Erwägung angestellt. Es obliegt tatrichterlicher Bewertung, ob ambivalente Umstände im konkreten Einzelfall den Erziehungsbedarf erhöhen oder nicht. Die Strafzumessung ist damit eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfungsmaßstabs nicht zu beanstanden.
c) Einer Erörterung der ausländerrechtlichen Folgen der Verurteilung bedurfte es dabei nicht. Anhaltspunkte für besondere Umstände, die im Einzelfall eine etwaige Beendigung des Aufenthalts im Inland als besondere Härte erscheinen ließen (vgl. BGH, Urteil vom 26. Oktober 2017 - 4 StR 259/17 Rn. 11 mwN; OLG Frankfurt, StV 2003, 459), sind dem Urteil nicht zu entnehmen.
d) Es ist auszuschließen, dass das Landgericht die bei der Erörterung der Schwere der Schuld i.S.v. § 17 Abs. 2 i.V.m. § 105 Abs. 1 JGG berücksichtigte Alkoholisierung des Angeklagten, die keine Auswirkungen auf dessen Schuldfähigkeit hatte, bei der Bemessung der Jugendstrafe aus dem Blick verloren hat.
e) Durch den Umstand, dass das Landgericht entgegen § 105 Abs. 3 Satz 1 JGG rechtsfehlerhaft von einer Strafrahmenobergrenze von lediglich fünf Jahren Jugendstrafe bei dem heranwachsenden Angeklagten ausgegangen ist, ist der Angeklagte nicht beschwert.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 1033
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede