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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 384

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 154/22, Urteil v. 02.02.2023, HRRS 2023 Nr. 384


BGH 4 StR 154/22 - Urteil vom 2. Februar 2023 (LG Arnsberg)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (formelle Voraussetzungen; hangbedingt gefährlicher Täter; Symptomtaten: neue Fassung, Begehung von drei Straftaten, jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr, Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren wegen einer oder mehrerer Taten); Strafzumessung (Geständnis des Angeklagten; zulässiges Verteidigungsverhalten; strafschärfende Berücksichtigung nicht angeklagter Taten).

§ 66 StGB; § 46 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 19. November 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist, sowie

b) zugunsten des Angeklagten im Strafausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Herstellen „einer kinderpornographischen Schrift“ in 16 Fällen, wegen versuchten sexuellen Missbrauchs von Kindern, wegen Verbreitung pornographischer Inhalte in zwei Fällen und wegen Verbreitung kinderpornographischer Inhalte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Ferner hat es eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer zuungunsten des Angeklagten eingelegten Revision, die auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung und den Strafausspruch beschränkt ist. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat im Anfechtungsumfang Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen veranlasste der Angeklagte vermutlich im Februar 2021 (jedenfalls im Zeitraum zwischen Frühjahr 2020 und April 2021) den 2010 geborenen Nebenkläger in insgesamt 16 Fällen über einen Internet-Chat dazu, vor der Kamera bei nacktem Intimbereich zu masturbieren oder anderweitig an seinem Penis zu manipulieren. Davon fertigte der Angeklagte jeweils eine Videoaufnahme, die er auf seinem Computer und später auf seinem Mobiltelefon speicherte (Fälle II.C.1 bis II.C.16 der Urteilsgründe).

In einem weiteren Fall wirkte der Angeklagte auf den Nebenkläger ein, ohne dass festgestellt werden konnte, dass der Nebenkläger gerade aufgrund der Veranlassung durch den Angeklagten Manipulationshandlungen an seinem Penis vornahm (Fall II.C.17 der Urteilsgründe).

An weiteren Tattagen übersandte der Angeklagte dem Nebenkläger unaufgefordert zum einen ein (gezeichnetes) Bild eines jungen Mannes, der seinen erigierten Penis zur Schau stellte, und zum anderen ein Video, das den Angeklagten bei der Vornahme der manuellen Manipulation an seinem Penis zeigte (Fälle II.C.18 und II.C.19 der Urteilsgründe).

In einem weiteren Fall übermittelte der Angeklagte im Juni 2020 einem 16-jährigen Zeugen insgesamt 64 wirklichkeitsnahe 3DBilder, die kinderpornographische Szenen zeigten (Fall II.C.20 der Urteilsgründe).

2. Das Landgericht hat für 14 der 16 Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Herstellen „einer kinderpornographischen Schrift“ jeweils Einzelstrafen von einem Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe sowie für das Verbreiten kinderpornographischer Inhalte im Fall II.C.20 der Urteilsgründe eine Einzelstrafe von einem Jahr verhängt. Für die weiteren Taten hat das Landgericht Einzelstrafen zwischen zwei Monaten und neun Monaten Freiheitsstrafe ausgesprochen.

3. Das Landgericht hat die Anordnung der Sicherungsverwahrung abgelehnt. Nach Auffassung des Landgerichts seien bereits die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB nicht erfüllt, weil es an einer Einzelstrafe von mindestens drei Jahren fehle.

II.

Das wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat den aus der Urteilsformel ersichtlichen Erfolg.

1. Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung hält revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand, weil das Landgericht bei der Verneinung der formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 StGB von unzutreffenden rechtlichen Anforderungen ausgegangen ist.

a) Entgegen der Rechtsauffassung des Landgerichts erfordert die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB nicht, dass der Angeklagte wegen einer der herangezogenen Symptomtaten zu einer Einzelstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist.

aa) Gemäß § 66 Abs. 2 StGB kann das Gericht neben der Strafe auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der im Sinne von Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 hangbedingt gefährliche Täter drei Straftaten der in Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 genannten Art begangen hat (Symptomtaten), durch diese Taten jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt worden ist, und er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dazu auch die Verurteilung zu einer Gesamtstrafe von mindestens drei Jahren ausreichend, die aus den Einzelstrafen für die Symptomtaten gebildet worden ist (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2002 - 3 StR 12/02 Rn. 4, NStZ 2002, 536; Urteil vom 31. August 1995 - 4 StR 292/95, BGHR StGB, § 66 Abs. 2 Vorverurteilungen 2; Beschluss vom 9. Februar 1982 - 5 StR 23/82, Holtz MDR 1982, 446, 447; Urteil vom 8. Februar 1972 - 1 StR 346/71 Rn. 9; ebenso: LK-StGB/Peglau, 13. Aufl., § 66 Rn. 95 ff.; Fischer, StGB, 70. Aufl., § 66 Rn. 33; SSW-StGB/Harrendorf, 5. Aufl., § 66 Rn. 38; Kinzig in Schönke/ Schröder, StGB, 30. Aufl., § 66 Rn. 54; BeckOK-StGB/Ziegler, 55. Ed., § 66 Rn. 22; a. A. Drenkhahn/Morgenstern in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 66 Rn. 148).

bb) Von dieser Rechtsprechung abzuweichen, besteht kein Anlass.

Schon aus der Gesetzesformulierung ergibt sich, dass die Freiheitsstrafe von drei Jahren aus mehreren Freiheitsstrafen von mindestens einem Jahr für Katalogtaten gebildet werden kann. Auch der Vergleich mit der Formulierung in Abs. 1 Nr. 1 („wegen einer vorsätzlichen Tat“) zeigt, dass es für Abs. 2 ausreicht, wenn auch nur eine Gesamtstrafe die zeitliche Mindestgrenze erreicht (vgl. BGH, Urteil vom 8. Februar 1972 - 1 StR 346/71 Rn. 9).

Auch nach dem Willen des Gesetzgebers sollte es nicht nötig sein, dass sich die Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren auf eine einzige Tat bezieht; vielmehr sollte es ausreichen, dass die Gesamtstrafe für die in Abs. 2 (des § 42e aF) erwähnten Taten drei Jahre Freiheitsstrafe erreicht (vgl. BT-Drucks. V/4094 S. 20 f., 75 f.). Diese Voraussetzung ist durch die Gesetzesänderungen unberührt geblieben. In § 66 Abs. 2 StGB wurde lediglich das Erfordernis einer „zeitigen“ Freiheitsstrafe gestrichen (durch Gesetz vom 21. August 2002, BGBl. I S. 3344) sowie der Straftatenkatalog aus Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 mit den entsprechenden Verweisen übernommen (durch Gesetz vom 22. Dezember 2010, BGBl. I S. 2300). An dem Erfordernis einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren wegen einer oder mehrerer Taten mit einer verwirkten Strafe von mindestens einem Jahr hat der Gesetzgeber ohne weitere Begründung durchgehend festgehalten (vgl. BT-Drucks. 14/8586 S. 5 f. und 17/3403 S. 24).

Auch der systematische Vergleich mit den Anforderungen der Absätze 1 und 3 des § 66 StGB gebietet es nicht, eine Einzelstrafe von mindestens drei Jahren zu fordern. Denn die Absätze erfassen abgestuft nach früheren Verurteilungen, Häufigkeit und dem in der Art der Tat oder der Höhe der Strafe zum Ausdruck kommenden Gewicht unterschiedliche Konstellationen. Die Ermessensvorschrift des Absatz 2 stellt neben dem Erfordernis dreier Katalogtaten, für die jeweils mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe verwirkt ist, auf das Gesamtgewicht des kriminellen Verhaltens ab, das gerade in der Gesamtstrafe seinen Niederschlag findet (vgl. BGH, Urteil vom 21. März 2002 - 3 StR 12/02 Rn. 4 f.).

cc) Davon ausgehend durfte das Landgericht die formellen Voraussetzungen nicht mit der Erwägung verneinen, es fehle an einer Einzelstrafe von mindestens drei Jahren.

b) Das Urteil beruht auch auf dem Rechtsfehler, weil sich ein rechtsfehlerfreies Absehen von der Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB aus anderen Gründen dem Urteil nicht entnehmen lässt.

Ausgehend von seiner Rechtsauffassung hat das Landgericht die weiteren Voraussetzungen einer Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht geprüft. In formeller Hinsicht hat das Landgericht keine fiktive Gesamtstrafe aus denjenigen Katalogtaten gebildet, für die der Angeklagte eine Einzelfreiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, was angesichts der bei der Gesamtstrafenbildung berücksichtigten Einzelstrafen von unter einem Jahr erforderlich gewesen wäre (vgl. dazu BGH, Urteil vom 31. August 1995 - 4 StR 292/95, NJW 1995, 3263 f.; Urteil vom 21. März 2002 - 3 StR 12/02 Rn. 5). Eine Prüfung der materiellen Anordnungsvoraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB hat das Landgericht nicht vorgenommen; hinsichtlich der Voraussetzungen einer Sicherungsverwahrung hat es lediglich knapp die Einschätzung des Sachverständigen referiert, wonach ein Hang zu pädophilen Verhaltensweisen nicht in Abrede gestellt werden könne und eine gewisse Gefährlichkeit für die Allgemeinheit „wohl“ gegeben sei. Auch eine Ermessensausübung durch die Strafkammer ist nicht erfolgt. Auf dieser Grundlage ist dem Revisionsgericht eine abschließende Prüfung, ob das Landgericht im Ergebnis zu Recht von einer Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 StGB abgesehen hat, verwehrt.

2. Der Strafausspruch weist nach § 301 StPO zu beachtende Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf und hat deshalb keinen Bestand.

a) Zum einen begegnen die Ausführungen, mit denen die Strafkammer das strafmildernde Gewicht des Geständnisses des Angeklagten relativiert hat, durchgreifenden Bedenken. Sie lassen besorgen, dass das Landgericht nicht hinreichend bedacht hat, dass zulässiges Verteidigungsverhalten weder strafschärfend noch zur Relativierung eines Geständnisses herangezogen werden darf (vgl. BGH, Beschluss vom 27. April 1989 - 1 StR 10/89 Rn. 4 ff.; Beschluss vom 21. Februar 1989 - 1 StR 697/88 Rn. 5).

So liegt der Fall hier. Die Strafkammer hat das als „weitgehend“ bewertete Geständnis des Angeklagten als deutlich („nicht vollständig“) entwertet angesehen, weil „trotz vollkommen eindeutiger Beweislage kein Eingeständnis sexuellen Interesses erfolgte und der Angeklagte eine eigene Verantwortung weitgehend von sich gewiesen hat.“ Der Angeklagte habe es nicht geschafft, sich selbst seine pädophilen Neigungen einzugestehen. Diese Erwägungen lassen besorgen, dass das Landgericht dem Angeklagten zulässiges Verteidigungsverhalten angelastet hat, mit dem er Anhaltspunkte für einen Hang zu pädophilen Verhaltensweisen als Voraussetzung der Sicherungsverwahrung in Abrede gestellt hat.

Es lässt sich nicht ausschließen, dass die Strafkammer dem Geständnis des Angeklagten mehr Gewicht beigemessen hätte, wenn sie diesen Mangel vermieden hätte.

b) Zum anderen hat das Landgericht die durch § 46 Abs. 2 StGB gezogene Grenze zulässiger strafschärfender Berücksichtigung nicht angeklagter Taten überschritten.

Zwar ist es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht unzulässig, bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass der Angeklagte noch weitere - bisher nicht abgeurteilte - Straftaten begangen hat. Voraussetzung dafür ist aber, dass diese weiteren Straftaten prozessordnungsgemäß festgestellt sind; d.h. es muss einwandfrei feststehen, welche weiteren Straftaten der Angeklagte begangen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 2015 - 2 StR 54/15 Rn. 5; Beschluss vom 9. April 1991 - 4 StR 138/91 Rn. 4).

Diesen Anforderungen genügen die Urteilsgründe nicht. Das Landgericht hat bei der Bemessung sämtlicher Einzelstrafen und der Gesamtstrafe zu Lasten des Angeklagten „auch die weiteren durch den Angeklagten eingeräumten, aber vom Urteilstenor nicht erfassten Delikte“ berücksichtigt. Nach den Feststellungen zeigte der Angeklagte „teilweise“ die in den Taten II.C.1 bis 16 der Urteilsgründe hergestellten Videos anderen Personen (seiner Mutter, einer Nachbarin, einem Chatpartner). Dies sei zumindest eingeschränkt zu berücksichtigen, da es sich letztlich um eigenständige rechtlich zu würdigende Taten handele. Mit diesen vagen Erwägungen bleibt offen, welche und wie viele Straftaten der Angeklagte über die hier abgeurteilten Taten hinaus noch begangen haben soll.

c) Der Senat vermag nicht sicher auszuschließen, dass das Landgericht ohne die Rechtsfehler geringere Strafen verhängt hätte.

d) Damit kommt es nicht entscheidungserheblich darauf an, ob bereits die Aufhebung des Urteils, soweit die Anordnung der Sicherungsverwahrung unterblieben ist, wegen einer Wechselwirkung zwischen Sicherungsverwahrung und Strafe die Aufhebung des Strafausspruchs nach sich zieht (vgl. BGH, Beschluss vom 22. März 2022 ? 1 StR 455/21 Rn. 4 f.; Beschluss vom 30. März 2021 ? 2 StR 18/21 Rn. 4; Urteil vom 23. April 2013 - 5 StR 610/12 Rn. 18; Urteil vom 4. August 2011 - 3 StR 175/11 Rn. 15, jeweils mwN).

Nach Auffassung des Senats besteht grundsätzlich keine Wechselwirkung zwischen der Strafe und der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, sie sind unabhängig voneinander zu bemessen bzw. zu verhängen und die Anordnung der Sicherungsverwahrung stellt keinen bestimmenden Strafzumessungsumstand bei der Festsetzung der Strafe dar (BGH, Beschluss vom 10. Mai 2022 - 4 StR 99/22 mwN; Beschluss vom 25. Mai 2022 - 4 StR 79/22).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 384

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede