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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 998

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 156/21, Beschluss v. 29.07.2021, HRRS 2021 Nr. 998


BGH 4 StR 156/21 - Beschluss vom 29. Juli 2021 (LG Erfurt)

Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (nicht geringe Menge: Levometamfetamin); Teileinstellung; Vorsatz (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte; tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte; Vorsatzfassung erst bei Unvermeidbarkeit der Tatbestandsverwirklichung).

§ 29a BtMG; § 154 Abs. 2 StPO; § 114 StGB; § 113 StGB; § 16 Abs. 1 StGB; § 15 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Voraussetzung für eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat ist nach § 16 Abs. 1 StGB, dass der Täter die Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, bei ihrer Begehung kennt. Die Verwirklichung des Tatbestands muss in subjektiver Hinsicht von einem diese Tatumstände umfassenden Vorsatz des Täters getragen werden. Dies ist der Fall, wenn der Vorsatz zu einem Zeitpunkt vorliegt, in welchem der Täter noch einen für die Tatbestandsverwirklichung kausalen Tatbeitrag leistet. Wird der Vorsatz dagegen erst gefasst, wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung nicht mehr vermeiden kann, fehlt es an einer vorsätzlichen Begehung der Tat.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 13. November 2020 wird

a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte im Fall II. 2 der Urteilsgründe verurteilt worden ist; insoweit trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten;

b) das vorgenannte Urteil

aa) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr, versuchter gefährlicher Körperverletzung, vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis, Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel in zwei tateinheitlichen Fällen und mit Sachbeschädigung schuldig ist,

bb) hinsichtlich der Einziehungsentscheidung dahin geändert, dass die Einziehung von 194,33 Gramm R-Metamfetamin entfällt, und

cc) im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit „schwerem“ gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr, versuchter gefährlicher Körperverletzung, tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in vier tateinheitlichen Fällen, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in vier tateinheitlichen Fällen, vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis, Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel in zwei tateinheitlichen Fällen und Sachbeschädigung schuldig gesprochen und ihn zu der Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Ferner hat es sichergestellte Betäubungsmittel eingezogen und eine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von vier Jahren angeordnet. Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten mit mehreren Verfahrensbeanstandungen und der Rüge der Verletzung materiellen Rechts.

Das Rechtsmittel führt zu einer Teileinstellung des Verfahrens und hat darüber hinaus einen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Soweit der Angeklagte im Fall II. 2 der Urteilsgründe wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt worden ist, stellt der Senat das Verfahren auf Antrag des Generalbundesanwalts aus prozessökonomischen Gründen mit Blick darauf gemäß § 154 Abs. 2 StPO ein, dass für Levometamfetamin, das auf dem illegalen Drogenmarkt in Deutschland bislang nur in wenigen Einzelfällen festgestellt worden ist (vgl. Weber, BtMG, 5. Aufl., § 1 Rn. 476; Patzak/Dahlenburg, NStZ 2016, 615, 616), keine obergerichtliche Festlegung des Grenzwertes zur nicht geringen Menge existiert.

2. Die Verurteilung des Angeklagten im Fall II. 3 der Urteilsgründe auch wegen tateinheitlich begangenen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in jeweils vier tateinheitlichen Fällen gemäß § 114 Abs. 1 und § 113 Abs. 1 StGB hat keinen Bestand, weil es auf der Grundlage der vom Landgericht rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen insoweit an einem vorsätzlichen Handeln des Angeklagten fehlt.

a) Nach den Feststellungen fuhr der Angeklagte mit dem von ihm gesteuerten Pkw Audi A 6, nachdem er zuvor mehrere Polizeifahrzeuge gerammt und sich auf diese Weise einem ersten Festnahmeversuch entzogen hatte, auf dem Standstreifen der Autobahn mit starker Beschleunigung geradlinig auf vier ihm zu Fuß entgegenlaufende Polizeibeamten zu, die sich nur durch jeweils reaktionsschnelles Ausweichen vor dem herannahenden Fahrzeug in Sicherheit bringen konnten. Der Angeklagte hatte die vier Polizeibeamten wahrgenommen, nicht ausschließbar aber erst zu einem Zeitpunkt, als er nicht mehr auf sie reagieren konnte.

b) Diese Feststellungen tragen in subjektiver Hinsicht keine Verurteilung des Angeklagten nach § 114 Abs. 1 und § 113 Abs. 1 StGB.

Voraussetzung für eine Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat ist nach § 16 Abs. 1 StGB, dass der Täter die Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, bei ihrer Begehung kennt. Die Verwirklichung des Tatbestands muss in subjektiver Hinsicht von einem diese Tatumstände umfassenden Vorsatz des Täters getragen werden. Dies ist der Fall, wenn der Vorsatz zu einem Zeitpunkt vorliegt, in welchem der Täter noch einen für die Tatbestandsverwirklichung kausalen Tatbeitrag leistet. Wird der Vorsatz dagegen erst gefasst, wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung nicht mehr vermeiden kann, fehlt es an einer vorsätzlichen Begehung der Tat (vgl. BGH, Urteile vom 24. April 2019 ? 2 StR 377/18, NStZ 2019, 468, 469; vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 91; Beschlüsse vom 7. September 2017 ? 2 StR 18/17, NStZ 2018, 27; vom 14. Juni 1983 ? 4 StR 298/83, NStZ 1983, 452). So liegt der Fall hier. Da der Angeklagte die vier Polizeibeamten nicht ausschließbar erst zu einem Zeitpunkt wahrnahm, als er auf sie nicht mehr reagieren konnte, handelte er beim Zufahren auf die Beamten nicht vorsätzlich, so dass insoweit eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen tateinheitlich begangenen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 114 Abs. 1 und § 113 Abs. 1 StGB ausscheidet.

c) Der Senat lässt die tateinheitlichen Verurteilungen nach § 114 Abs. 1 und § 113 Abs. 1 StGB entfallen und ändert den Schuldspruch entsprechend. Die Einzelfreiheitsstrafe von sieben Jahren wird durch die Schuldspruchänderung nicht berührt. Das Landgericht hat die Einzelstrafe dem Strafrahmen des § 29a Abs. 1 BtMG entnommen und die tateinheitlichen Verurteilungen nach § 114 Abs. 1 und § 113 Abs. 1 StGB im Rahmen der Strafzumessungserwägungen nicht erwähnt.

3. Die Teileinstellung des Verfahrens führt zum Wegfall der für die eingestellte Tat verhängten Einzelfreiheitsstrafe von vier Jahren, wodurch der Gesamtstrafe die Grundlage entzogen wird. Zugleich entfällt die bezüglich der eingestellten Tat ergangene Einziehungsentscheidung. Einer Aufhebung tatsächlicher Feststellungen bedarf es nicht. Neue ergänzende Feststellungen dürfen den bisherigen nicht widersprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 998

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 30

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß