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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 996

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 143/21, Beschluss v. 05.08.2021, HRRS 2021 Nr. 996


BGH 4 StR 143/21 - Beschluss vom 5. August 2021 (LG Bielefeld)

Zeugnisverweigerungsrecht der Angehörigen des Beschuldigten (mangelnde Belehrung: Revisionsbegründung, Vortragen von rügevernichtenden Umständen nur bei konkreten Anhaltspunkten notwendig, fehlendes Auswirken auf das Aussageverhalten des Zeugen).

§ 52 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist zwar anerkannt, dass ein Beschwerdeführer auch rügevernichtende Umstände vortragen muss. Dies gilt aber nur dann, wenn sich aus dem von der Revision selbst vorgetragenen oder aus Protokoll und Akteninhalt ersichtlichen Verfahrensablauf konkrete Anhaltspunkte für einen Sachverhalt ergeben, welcher der erhobenen Rüge die Grundlage entziehen kann.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 10. November 2020 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit der Angeklagte in den Fällen II. 1. bis 11. der Urteilsgründe verurteilt worden ist, und

b) im Gesamtstrafenausspruch.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten des „sexuellen Missbrauchs eines Kindes in sieben Fällen in Tateinheit mit einem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen, des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in sechs Fällen in Tateinheit mit einem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen, des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in einem weiteren Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung und einem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen, des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei weiteren Fällen in Tateinheit mit einem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen und einem Beischlaf zwischen Verwandten, in einem dieser Fälle in Tateinheit mit einer vorsätzlichen Körperverletzung“, schuldig gesprochen und gegen ihn die Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verhängt.

Hiergegen richtet sich die mit mehreren Verfahrensbeanstandungen und der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

Die Revision rügt zu Recht, dass die achtjährige Tochter des Angeklagten in der Hauptverhandlung ohne vorherige Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO als Zeugin vernommen worden ist.

1. Die Rüge ist ordnungsgemäß erhoben. Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts war der Beschwerdeführer nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht verpflichtet, sich in der Revisionsbegründung zum Ausschluss einer möglichen Heilung des Belehrungsverstoßes dazu zu verhalten, ob die Zeugin im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung noch einmal vernommen worden ist. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist zwar anerkannt, dass ein Beschwerdeführer auch rügevernichtende Umstände vortragen muss. Dies gilt aber nur dann, wenn sich aus dem von der Revision selbst vorgetragenen oder aus Protokoll und Akteninhalt ersichtlichen Verfahrensablauf konkrete Anhaltspunkte für einen Sachverhalt ergeben, welcher der erhobenen Rüge die Grundlage entziehen kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15. Januar 2014 ? 1 StR 302/13, StV 2014, 518 Rn. 8; vom 8. August 2007 ? 2 StR 224/07, NStZ 2007, 717; vom 9. November 2006 ? 1 StR 388/06, NStZ-RR 2007, 53, 54; vom 1. April 2004 ? 1 StR 101/04, BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Beweisantragsrecht 7; vom 29. Oktober 1997 ? 3 StR 481/97, BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Abwesenheit 2; Urteil vom 28. November 1990 ? 3 StR 170/90, BGHSt 37, 245, 248; vgl. auch BGH, Beschluss vom 12. August 1999 ? 3 StR 277/99, NStZ 2000, 49, 50 f.). Dafür, dass im vorliegenden Fall die Verletzung des Belehrungsgebots im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung geheilt worden sein könnte, geben die Verfahrensakten keinen Anhalt.

2. Nach der Vorschrift des § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO ist eine ? wie hier ? zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigte Person vor jeder Vernehmung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht zu belehren. Das Unterbleiben der gesetzlich vorgeschriebenen Belehrung vor der Vernehmung der Zeugin in der Hauptverhandlung vom 26. August 2020 wird durch das Sitzungsprotokoll bewiesen (§ 274 StPO). Ein Fall, in dem ausgeschlossen werden kann, dass sich der Verstoß gegen die Belehrungspflicht auf das Aussageverhalten des Zeugen ausgewirkt hat, weil nach Aktenlage sicher feststeht, dass der Zeuge auch nach Belehrung ausgesagt hätte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Oktober 2019 ? 5 StR 291/19; vom 12. Januar 2011 ? 1 StR 672/10; vom 3. Mai 2006 ? 4 StR 40/06, NStZ 2006, 647, 648; Urteil vom 15. November 1994 ? 1 StR 461/94, BGHSt 40, 336, 339), liegt nicht vor, zumal sich den Verfahrensakten schon nicht entnehmen lässt, dass die Zeugin vor ihren beiden polizeilichen Vernehmungen am 17. Januar und 4. Februar 2020 jeweils ordnungsgemäß belehrt wurde.

Die Verletzung der Belehrungspflicht aus § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO hat die Unverwertbarkeit der Aussage der Zeugin in der Hauptverhandlung zur Folge. Dies führt zur Aufhebung der Verurteilung des Angeklagten in den Fällen II. 1. bis 11. der Urteilsgründe, in denen die tatrichterliche Überzeugung auf den Bekundungen der Zeugin in der Hauptverhandlung beruht.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 996

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 126; StV 2021, 807

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß