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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 713

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 8/20, Urteil v. 16.04.2020, HRRS 2020 Nr. 713


BGH 4 StR 8/20 - Urteil vom 16. April 2020 (LG Landau)

Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (tatrichterliches Ermessen; Berücksichtigung langjährigen Strafvollzugs; revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit).

§ 66 Abs. 3 Satz 2 StGB aF

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Ausübung des Ermessens ist der Tatrichter „strikt an die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes“ gebunden. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll er die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit kann der Tatrichter dem Ausnahmecharakter des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB aF Rechnung tragen, der sich daraus ergibt, dass Abs. 3 Satz 2 ? im Gegensatz zu Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 ? eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Täters nicht voraussetzt.

2. Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind. Es besteht freilich keine Vermutung dafür, dass langjährige Strafverbüßung zu einer Verhaltensänderung führen wird. Die Entscheidung des Tatrichters ist (wie jede Prognose) vom Revisionsgericht nur im begrenzten Umfang nachprüfbar.

Entscheidungstenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Landau vom 16. Juli 2019 wird verworfen.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung in zwei Fällen, in einem Fall - insoweit im zweiten Rechtsgang - in Tateinheit mit Geiselnahme und gefährlicher Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren und neun Monaten verurteilt, von der zwei Monate wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als vollstreckt gelten. Es hat ferner Einziehungs- und Adhäsionsentscheidungen getroffen. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft wendet sich allein gegen die unterlassene Anordnung der Sicherungsverwahrung.

I.

Die Beschränkung des Rechtsmittels auf die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung ist unwirksam (vgl. dazu Gericke in KK-StPO, 8. Aufl., § 344 Rn. 12 mwN), weil die Strafkammer im Zusammenhang mit der Gefährlichkeitsprognose und im Rahmen der Ermessensausübung einen Bezug zur Haftdauer hergestellt hat. Damit unterliegt auch der Strafausspruch der Überprüfung durch das Revisionsgericht.

II.

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

1. Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung hält rechtlicher Nachprüfung stand.

Als Grundlage für deren Anordnung kam allein § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB aF in Betracht. Nach dieser Bestimmung liegt die Unterbringung im pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters. Die von der Beschwerdeführerin beanstandete Ermessensentscheidung des Landgerichts, das die materiellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB aF bejaht hat, weist keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf.

Bei der Ausübung des Ermessens ist der Tatrichter „strikt an die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes“ gebunden (BGH, Urteil vom 5. Februar 1985 - 1 StR 833/84, NStZ 1985, 261). Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll er die Möglichkeit haben, sich ungeachtet der festgestellten Gefährlichkeit des Täters zum Zeitpunkt der Urteilsfällung auf die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beschränken, sofern erwartet werden kann, dass sich dieser die Strafe hinreichend zur Warnung dienen lässt. Damit kann der Tatrichter dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung tragen, der sich daraus ergibt, dass Abs. 3 Satz 2 ? im Gegensatz zu Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 ? eine frühere Verurteilung und eine frühere Strafverbüßung des Täters nicht voraussetzt (vgl. BGH, Urteil vom 4. August 2011 - 3 StR 175/11, NStZ 2011, 692, 693). Die Wirkungen eines langjährigen Strafvollzugs sowie die mit dem Fortschreiten des Lebensalters erfahrungsgemäß eintretenden Haltungsänderungen sind wichtige Kriterien, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen sind (BGH, Urteil vom 20. November 2007 - 1 StR 442/07, StV 2008, 139; Beschluss vom 4. August 2009 - 1 StR 300/09, StV 2010, 17). Es besteht freilich keine Vermutung dafür, dass langjährige Strafverbüßung zu einer Verhaltensänderung führen wird. Die Entscheidung des Tatrichters ist (wie jede Prognose) vom Revisionsgericht nur im begrenzten Umfang nachprüfbar (BGH, Urteil vom 20. November 2007 aaO; Urteile vom 3. Februar 2011 - 3 StR 466/10, NStZ-RR 2011, 172 und vom 15. Oktober 2014 - 2 StR 240/14, NStZ 2015, 510, 511).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles rechtsfehlerfrei. Die Strafkammer hat ihre Ermessensentscheidung maßgeblich auf die gute soziale Herkunft des Angeklagten, seine Intelligenz und sein erfolgreiches Bemühen nach seiner letzten Haftentlassung im Jahre 2007, ein geordnetes Leben ohne Straftaten zu führen, das zu mehrjähriger Straffreiheit führte, gestützt und hat damit genügende Anhaltspunkte für eine aufgrund der langjährigen Freiheitsstrafe und des fortschreitenden Lebensalters bereits jetzt zu erwartende Haltungsänderung gesehen. Aus diesen Umständen hat das Landgericht beanstandungsfrei die Erwartung abgeleitet, dass der Angeklagte nach seiner Entlassung keine vergleichbaren Taten mehr begehen wird. Auf die nicht belegte und deshalb rechtlich bedenkliche Annahme, der Angeklagte könne auf mittlere bis längere Sicht mit einer Erbschaft rechnen, die seine finanziellen Bedürfnisse befriedige, ist die Prognose der Strafkammer ersichtlich nicht entscheidend gestützt, zumal den hier abgeurteilten Taten nach den Feststellungen kein Gewinnerzielungsmotiv zugrunde lag. Angesichts dessen ist die vom Landgericht getroffene Entscheidung aus rechtlichen Gründen nicht zu beanstanden. Es hat das ihm zugebilligte Ermessen erkannt, einen für seine Ausübung zutreffenden Maßstab angelegt und die für die Prüfung wesentlichen Kriterien in den Urteilsgründen dargestellt.

2. Der Strafausspruch weist weder zu Gunsten des Angeklagten noch - was gemäß § 301 StPO zu beachten ist - zu Lasten des Angeklagten einen Rechtsfehler auf.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 713

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner