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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 355

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 457/20, Urteil v. 04.02.2021, HRRS 2021 Nr. 355


BGH 4 StR 457/20 - Urteil vom 4. Februar 2021 (LG Dortmund)

Grundsätze der Strafzumessung (grundsätzliche keine bestimmende Berücksichtigung ausländerrechtlicher Folgen einer Verurteilung; Berücksichtigung des Verzichts auf die Rückgabe sichergestellter Gegenstände); Urteilsgründe (Darlegungsanforderungen an freisprechendes Urteil).

§ 46 StGB; § 267 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung sind grundsätzlich keine bestimmenden Strafmilderungsgründe. Eine andere strafzumessungsrechtliche Bewertung ist nur gerechtfertigt, wenn im Einzelfall zusätzliche Umstände hinzutreten, welche die Beendigung des Aufenthalts im Inland als besondere Härte erscheinen lassen.

2. In dem Verzicht auf die Rückgabe sichergestellter Gegenstände liegt eine freiwillige Leistung des Angeklagten, welcher der Tatrichter unabhängig vom Wert der Gegenstände strafmildernde Bedeutung beimessen kann.

3. Ein freisprechendes Urteil hat zunächst die individuellen Anklagevorwürfe gegen den Angeklagten nach Ort, Zeit und Begehungsweise aufzuzeigen. In einer geschlossenen Darstellung müssen sodann die als erwiesen angesehenen Tatsachen festgestellt werden. Davon ausgehend muss dargelegt werden, dass sich die Vorwürfe entweder aus tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen nicht bestätigt haben. Es ist Aufgabe der Urteilsgründe, dem Revisionsgericht auf diese Weise eine umfassende Nachprüfung der freisprechenden Entscheidung zu ermöglichen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Dortmund vom 2. März 2020, soweit es den Angeklagten W. S. betrifft, mit den jeweils zugehörenden Feststellungen aufgehoben

a) im Strafausspruch und

b) soweit er freigesprochen wurde.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt und ihn im Übrigen aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Soweit die Staatsanwaltschaft die unterbliebene Einziehungsentscheidung hinsichtlich der verurteilten Tat angefochten hatte, ist das Rechtsmittel wirksam zurückgenommen worden. Die nach der Teilrücknahme ausweislich der Ausführungen in der Begründungsschrift der Staatsanwaltschaft wirksam hinsichtlich der Verurteilung des Angeklagten auf den Strafausspruch sowie auf den Teilfreispruch beschränkte und auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat in vollem Umfang Erfolg.

1. Die Bemessung der Strafe für die ausgeurteilte Tat des bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

a) Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte Mitglied einer aus sieben Personen bestehenden Gruppierung, die gewinnbringend Kokain und Marihuana an Endkonsumenten verkaufte. Am 13. November 2018 bestellte der Angeklagte fernmündlich mindestens 50 Gramm Kokain zu 40 € pro Gramm mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 88,2 % Kokainhydrochlorid. Im Auftrag des Angeklagten holte daraufhin ein Mitglied der Gruppierung das Kokain bei den Verkäufern ab und brachte es zu einem anderen Mitglied, worauf es gewinnbringend an verschiedene Abnehmer weiterverkauft wurde.

Das Landgericht hat einen minder schweren Fall des bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angenommen und der Bemessung der Strafe den Strafrahmen des § 30a Abs. 3 BtMG (6 Monate bis 10 Jahre Freiheitsstrafe) zugrunde gelegt.

b) Der Strafausspruch des angefochtenen Urteils hat keinen Bestand, weil das Landgericht der Strafbemessung nicht ausschließbar eine zu geringe Strafrahmenuntergrenze zugrunde gelegt und sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch bei der Strafzumessung im engeren Sinne zu Gunsten des Angeklagten mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen berücksichtigt hat, ohne insoweit einzelfallbezogene Umstände darzulegen.

aa) Das Landgericht hat den Strafrahmen von sechs Monaten bis zehn Jahren Freiheitsstrafe des § 30a Abs. 3 BtMG angewendet, dabei jedoch übersehen, dass die durch den schwereren Qualifikationstatbestand des § 30a Abs. 1 BtMG im Wege der Gesetzeskonkurrenz verdrängten Tatbestände sowohl des § 29a Abs. 1 BtMG als auch des § 30 Abs. 1 BtMG eine Sperrwirkung hinsichtlich der Mindeststrafe entfalten (BGH, Urteil vom 19. Dezember 2013 - 4 StR 303/13, NStZ-RR 2014, 82; Urteil vom 13. Februar 2003 - 3 StR 349/02, BGHR BtMG § 30a Abs. 3 Strafzumessung 1); für die Höchststrafe gilt demgegenüber nach der ständigen Rechtsprechung die für den Schuldspruch maßgebliche Bestimmung (vgl. BGH, Beschluss vom 1. September 2020 - 3 StR 469/19, NJW 2021, 175; Beschluss vom 25. Mai 2010 - 1 StR 59/10, NStZ 2011, 98, 99; Beschluss vom 14. August 2013 - 2 StR 144/13). Da die Strafrahmen der verdrängten Gesetze jeweils gegenüber § 30a Abs. 3 BtMG höhere Mindeststrafen von einem Jahr (§ 29a Abs. 1 BtMG) bzw. zwei Jahren Freiheitsstrafe (§ 30 Abs. 1 BtMG) vorsehen und es sich nach den Feststellungen auch nicht aufdrängt, dass minder schwere Fälle bei den verdrängten Tatbeständen anzunehmen sind, kann der Senat nicht ausschließen, dass die Strafe rechtsfehlerhaft aus einem für den Angeklagten zu vorteilhaften Strafrahmen entnommen wurde.

bb) Das Landgericht hat zudem mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen der Verurteilung strafmildernd berücksichtigt, ohne hierfür eine auf die Umstände des Einzelfalls bezogene Begründung zu geben.

Ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich keine bestimmenden Strafmilderungsgründe. Dies war bereits zur früheren ausländerrechtlichen Rechtslage auch für die damals vorgesehene zwingende Ausweisung anerkannt und gilt nunmehr vor dem Hintergrund der seit 17. März 2016 geltenden Regelung des § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG, nach der bei einer Ausweisungsentscheidung generell eine Abwägung zwischen Ausweisungsinteresse (§ 54 AufenthG) und Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) vorzunehmen ist, umso mehr. Eine andere strafzumessungsrechtliche Bewertung ist nur gerechtfertigt, wenn im Einzelfall zusätzliche Umstände hinzutreten, welche die Beendigung des Aufenthalts im Inland als besondere Härte erscheinen lassen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 26. Oktober 2017 - 4 StR 259/17, StV 2018, 559 mwN).

Solche einzelfallbezogenen Umstände hat das Landgericht nicht dargetan.

2. Im Übrigen weist die Bemessung der Strafe - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin - keine Rechtsfehler auf.

a) Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, dass das Landgericht das Einverständnis des Angeklagten mit der außergerichtlichen Einziehung der Asservate strafmildernd berücksichtigt hat. In dem Verzicht auf die Rückgabe sichergestellter Gegenstände liegt eine freiwillige Leistung des Angeklagten, welcher der Tatrichter unabhängig vom Wert der Gegenstände strafmildernde Bedeutung beimessen kann (vgl. BGH, Urteil vom 27. Februar 2020 - 4 StR 552/19, NStZ-RR 2020, 168).

b) Auch die strafmildernde Erwägung, dass der Angeklagte erstmals in Haft gewesen und somit besonders haftempfindlich ist, begegnet keinen rechtlichen Bedenken, da das Landgericht hierbei nicht auf die erlittene Untersuchungshaft, sondern darauf abgestellt hat, dass der Angeklagte als Erstverbüßer besonders strafempfindlich ist. Dies ist zulässig (vgl. BGH, Urteil vom 14. März 2018 - 2 StR 416/16, NJW 2018, 2210).

3. Soweit das Landgericht den Angeklagten vom Vorwurf, als Bandenmitglied fünf weitere Betäubungsmittelgeschäfte getätigt zu haben, freigesprochen hat, entspricht das Urteil nicht den Anforderungen, die nach § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO an ein freisprechendes Urteil zu stellen sind.

a) Ein freisprechendes Urteil hat zunächst die individuellen Anklagevorwürfe gegen den Angeklagten nach Ort, Zeit und Begehungsweise aufzuzeigen. In einer geschlossenen Darstellung müssen sodann die als erwiesen angesehenen Tatsachen festgestellt werden. Davon ausgehend muss dargelegt werden, dass sich die Vorwürfe entweder aus tatsächlichen oder aus rechtlichen Gründen nicht bestätigt haben. Es ist Aufgabe der Urteilsgründe, dem Revisionsgericht auf diese Weise eine umfassende Nachprüfung der freisprechenden Entscheidung zu ermöglichen (vgl. BGH, Urteile vom 26. April 1990 - 4 StR 24/90, BGHSt 37, 21, 22; vom 5. August 1997 - 5 StR 210/97, NStZ-RR 1997, 374; vom 1. August 2018 - 5 StR 30/18).

b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil in keiner Weise gerecht. Es fehlt bereits an der Mitteilung, welche konkreten weiteren Handlungen dem Angeklagten zur Last liegen. Feststellungen zu den als erwiesen angesehenen Tatsachen fehlen gänzlich. Nicht nachvollziehbar ist zudem, warum sich die Vorwürfe nicht bestätigt haben. Den Urteilsgründen lässt sich insoweit lediglich entnehmen, dass der Angeklagte nach der Überzeugung des Landgerichts während des Tatzeitraums Mitglied der Gruppierung gewesen sei, ihm über die ausgeurteilte Tat hinaus weitere konkrete Taten jedoch nicht zuzuordnen seien, da sich der jeweilige Tatbeitrag weder den Protokollen der Telefonüberwachung habe entnehmen noch vor dem Hintergrund der belastenden Aussage des Zeugen D. habe feststellen lassen. Ausführungen dazu, was der Zeuge ausgesagt hat und welchen Inhalt die Protokolle der Telefonüberwachung haben, enthält das Urteil nicht.

Auf dieser Grundlage ist es nicht möglich zu beurteilen, ob die Annahme des Landgerichts, weitere angeklagte Taten seien dem Angeklagten nicht nachzuweisen, auf einer den entscheidungserheblichen Sachverhalt ausschöpfenden Beweiswürdigung beruht.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 355

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 474

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner