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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 647

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 517/18, Beschluss v. 20.03.2019, HRRS 2019 Nr. 647


BGH 4 StR 517/18 - Beschluss vom 20. März 2019 (LG Essen)

Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr (Herbeiführung einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder eine fremde Sache von bedeutendem Wert: Erfordernis eines sogenannten „Beinahe-Unfalls“).

§ 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der - was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist - die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten T. wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 12. Juli 2018 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und gegen ihn Maßregeln nach §§ 69, 69a StGB verhängt. Mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision wendet er sich gegen seine Verurteilung. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen entschloss sich der Angeklagte am 2. Oktober 2016 bei einer Fahrt durch die K. straße in E. dazu, mit dem von ihm geführten Pkw auf eine Menschengruppe zuzufahren, die sich zum Teil auf der Straße und zum Teil auf dem neben der Straße verlaufenden Fußgängerweg befand. Dieser war durch Betonpoller zur Straße hin abgegrenzt. Dabei erkannte er, dass der Zeuge M. mit dem Rücken zu ihm vor den Pollern auf der Straße stand, und beabsichtigte, diesen mit seinem Fahrzeug nicht unerheblich zu verletzen. M. wurde entweder durch Rufe von anwesenden Personen oder durch das Motorengeräusch des auf ihn zufahrenden Fahrzeugs aufmerksam und sprang, unmittelbar bevor es zu einer Kollision kam, hinter die Poller, wobei er eine neben ihm befindliche Mülltonne gleichzeitig schützend vor sich warf. Das von dem Angeklagten gelenkte Fahrzeug verfehlte ihn infolge seines Sprungs und streifte den ersten Poller mit einer Kollisionsgeschwindigkeit von mindestens 20 km/h und höchstens 33 km/h. Außerdem erfasste es frontal die Abfalltonne, deren Deckel dadurch abbrach und bei der ein Rad verkratzt wurde. Wäre M. nicht hinter die Poller gesprungen, wäre er von dem Fahrzeug des Angeklagten erfasst und wie von diesem beabsichtigt nicht unerheblich verletzt worden.

Das Landgericht hat die Tat als gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 i.V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, §§ 22, 23 StGB bewertet und dabei den Taterfolg im Sinne des § 315b Abs. 1 StGB in der Gefährdung der körperlichen Integrität des Zeugen M. gesehen.

II.

Diese Feststellungen belegen die für die Annahme einer vollendeten Tat nach § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB vorausgesetzte Herbeiführung einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder eine fremde Sache von bedeutendem Wert nicht.

1. Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr erfordert, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der - was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist - die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es im Sinne eines „Beinahe-Unfalls“ nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 5. November 2013 ? 4 StR 454/13, NZV 2014, 184, 185; Beschluss vom 22. November 2011 - 4 StR 522/11, NStZ-RR 2012, 123, 124; Beschluss vom 3. November 2009 - 4 StR 373/09, Rn. 5 f.; sowie Beschluss vom 27. April 2017 - 4 StR 61/17, Rn. 6; und Urteil vom 30. März 1995 - 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131 ff., jeweils zu § 315c StGB).

2. Nach den dazu entwickelten Maßstäben genügen die Feststellungen des Landgerichts nicht den Anforderungen zur Darlegung einer konkreten Gefahr für die körperliche Integrität des Zeugen M. Zwar hat die Strafkammer Feststellungen zu der gefahrenen Geschwindigkeit getroffen; den Urteilsgründen lässt sich aber nicht entnehmen, wie weit sich das Fahrzeug des Angeklagten dem Zeugen angenähert hatte, als dieser hinter den Poller sprang. Dass sich M. und das Fahrzeug des Angeklagten in räumlicher Nähe zueinander befanden und der Zeuge ohne sein Wegspringen erfasst worden wäre, genügt - insbesondere mit Blick auf die niedrige gefahrene Geschwindigkeit - insoweit nicht. Die vergleichsweise komplexe Abwehrreaktion des Zeugen, der noch eine Mülltonne schützend vor sich werfen konnte, spricht eher gegen das Vorliegen eines Beinahe-Unfalls. Verhielte es sich so, fehlte es insoweit an einer bereits eingetretenen konkreten Gefahr im Sinne des § 315b Abs. 1 StGB, und es käme deshalb nur eine Strafbarkeit wegen versuchten gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr nach Absatz 2 der Vorschrift in Betracht.

3. Eine konkrete Gefahr für fremde Sachen von bedeutendem Wert hat das Landgericht nicht angenommen. Feststellungen zum Wert der beschädigten Abfalltonne und des Pollers sowie der Höhe des (drohenden) Schadens fehlen (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 31. Januar 2017 - 4 StR 597/16, NStZ-RR 2017, 123, 124 Rn. 11 mwN).

III.

Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Aufhebung erfasst die tateinheitliche Verurteilung wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB, sowie den Straf- und Maßregelausspruch.

Der neue Tatrichter wird zu beachten haben, dass Feststellungen zur subjektiven Tatseite mit einer entsprechenden Beweiswürdigung unterlegt sein sollten. Dies gilt auch für die Feststellungen zum Rücktritt und den dabei maßgeblichen Rücktrittshorizont. Im Fall einer erneuten Verurteilung nach § 315b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 i.V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB bestimmt sich der Regelstrafrahmen nach § 315b Abs. 3 StGB und nicht nach § 315 Abs. 3 StGB. Außerdem sieht die Vorschrift einen zu erörternden minder schweren Fall vor.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 647

Externe Fundstellen: NStZ 2020, 225

Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner