HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1002
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 333/20, Urteil v. 30.07.2021, HRRS 2021 Nr. 1002
1. 1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 26. Februar 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit versuchtem Mord in drei tateinheitlichen Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung“, zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt und eine Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis verhängt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision.
Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen führte der Angeklagte, der über keine Fahrerlaubnis verfügte, am Nachmittag des 17. Juli 2019 einen Pkw der Marke Opel Astra. Als er einer Polizeikontrolle unterzogen werden sollte, entschloss er sich zur Flucht, um seine Identifikation als Täter eines Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu verhindern. Er beschleunigte - die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer in Kauf nehmend - sein Fahrzeug stark und überfuhr eine Kreuzung unter Missachtung der für den kreuzenden Verkehr bestehenden Vorfahrt. Ein vor ihm fahrendes Fahrzeug überholte er innerorts mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit so, dass es beschädigte wurde. Nachdem der Angeklagte so dem ihn zunächst verfolgenden Polizeifahrzeug hatte entkommen können, nahm ein weiteres Polizeifahrzeug seine Verfolgung auf. Der Angeklagte erkannte dies und bog - ortskundig - unvermittelt in eine Straße ab, die für den Kraftfahrzeugverkehr als Sackgasse ausgewiesen war und in einen Rad- und Fußweg mündete. Auf diesem Weg durchbrach er mit einer Geschwindigkeit von ca. 60 km/h zwei metallene Absperrpfosten, wobei sein Fahrzeug angehoben und beschädigt wurde. Der Angeklagte erkannte nach Durchbrechen der Absperrpfosten die unkalkulierbare Gefahr, dass sein Fahrzeug mit Fußgängern oder Radfahrern, die den Weg benutzten, zusammenstoßen und diese durch eine Kollision verletzt oder getötet werden könnten. Um seines Zieles willen, der Polizei zu entkommen, nahm er deren Tötung billigend in Kauf und fand sich auch damit ab, womöglich selbst zu Tode zu kommen.
Der Verlauf des Rad- und Fußweges, der zunächst eine Rechtsund sodann eine Linkskurve beschrieb, war wegen des dichten Randbewuchses für den Angeklagten nicht einsehbar. Der Weg mündete 98 Meter nach den Absperrpfosten in eine bogenförmige Brücke, welche über eine Autobahn führte. In den Kurven verringerte der Angeklagte seine Geschwindigkeit auf mindestens 30 und höchstens 37 km/h, um die Spur zu halten. Die Brücke, die sich an die Linkskurve anschloss, wurde an beiden Seiten durch Geländer begrenzt, deren Abstand voneinander 3,20 m betrug. Das Fahrzeug des Angeklagten war mit Außenspiegeln 2,03 m, ohne Außenspiegel 1,75 m breit. Wegen der Bogenform der Brücke konnte der Angeklagte bei seiner Einfahrt auf die Brücke den hinter ihrem Scheitelpunkt gelegenen Bereich nicht einsehen.
Auf der Brücke hielten sich die Zeugen S. und W. sowie der Nebenkläger auf. Letzterer ging auf der rechten Seite der Brücke in Fahrtrichtung des Angeklagten auf den Scheitelpunkt der Brücke zu. Kurz vor dem Scheitelpunkt saß der Zeuge W. ebenfalls auf der rechten Seite in einem ca. 60 cm breiten Rollstuhl und beobachtete den Verkehr auf der Autobahn. Ungefähr fünf Meter weiter, am Scheitelpunkt der Brücke, hielt sich auf der linken Seite der Zeuge S. auf, der ebenfalls den Autobahnverkehr betrachtete. Der Angeklagte nahm mindestens den Nebenkläger und eine weitere Person auf der Brücke wahr. Er setzte seine Fahrt, an seinem bereits gefassten Entschluss „durchgehend“ festhaltend, ohne zu bremsen oder die Personen durch ein Hupsignal zu warnen fort. In einer Entfernung von mindestens 10,5 und höchstens 13,5 m nach Beginn der Brücke erfasste der Angeklagte den Nebenkläger mit einer Geschwindigkeit von mindestens 33 km/h von hinten, kurz nachdem dieser einen Schritt nach links getan hatte. Der Nebenkläger schlug mit dem Kopf auf der Windschutzscheibe auf und wurde 9,5 bis 12,5 m nach vorn geschleudert, wo er gegen den Rollstuhl des Zeugen W. stieß und schwer verletzt reglos liegenblieb. Aufgrund der Kollision verzog der Angeklagte sein Fahrzeug nach links. Er setzte seine Fahrt mit „unwesentlich reduzierter“ Geschwindigkeit fort und passierte die Zeugen W. und S., ohne diese zu berühren.
2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen tateinheitlich begangenen versuchten Mordes zum Nachteil der drei auf der Brücke befindlichen Personen hat keinen Bestand. Denn die Beweiserwägungen, mit denen das Landgericht jeweils das voluntative Element eines bedingten Tötungsvorsatzes bejaht hat, halten - unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteile vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 93; vom 5. Dezember 2017 ? 1 StR 416/17, NStZ 2018, 206, 207; vom 27. Juli 2017 ? 3 StR 172/17, NStZ 2018, 37, 38 f.) - der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
a) Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und er ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 18. Juni 2020 ? 4 StR 482/19, NJW 2020, 2900 Rn. 22; vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 93; Beschluss vom 18. Februar 2021 - 4 StR 266/20).
Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Vorsatzelemente in jedem Einzelfall umfassend zu prüfen und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Die Prüfung, ob Vorsatz oder bewusste Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Umstände, wobei es vor allem bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich ist, dass sich das Tatgericht mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und dessen psychische Verfassung bei der Tatbegehung, seine Motivlage und die für das Tatgeschehen bedeutsamen Umstände ? insbesondere die konkrete Angriffsweise ? mit in Betracht zieht. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau stellt die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung zwar einen wesentlichen Indikator sowohl für das kognitive als auch für das voluntative Vorsatzelement dar. Die Gefährlichkeit ist aber kein allein maßgebliches Kriterium für die Entscheidung, ob ein Täter mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat. Maßgeblich sind auch bei gefährlichen Handlungen stets die Umstände des Einzelfalles (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 18. Juni 2020 ? 4 StR 482/19, aaO Rn. 23; vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, aaO, S. 93 f.; vom 22. März 2012 ? 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 186 f.; Beschlüsse vom 18. Februar 2021 - 4 StR 266/20 Rn. 10; vom 25. März 2020 ? 4 StR 388/19 Rn. 8).
b) Diesen Anforderungen werden die Ausführungen des Landgerichts im angefochtenen Urteil zu den Voraussetzungen eines bedingten Tötungsvorsatzes nicht in jeder Hinsicht gerecht.
aa) Die Bejahung des Wissenselements ist im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat sich zwar bereits insoweit nur auf eine Betrachtung der allgemeinen Gefahr für „plötzlich auftauchende“ Fußgänger und Radfahrer durch das ungebremste Befahren des engen, unübersichtlichen Rad- und Fußgängerwegs gestützt, ohne - was rechtlich bedenklich ist - die konkrete Tatsituation ausdrücklich in den Blick zu nehmen. Es erschließt sich aber aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe noch hinreichend, dass der Angeklagte, der nach den Feststellungen bei Ausfahrt aus der Linkskurve jedenfalls den Nebenkläger und eine weitere Person auf der Brücke sowie die örtlichen Verhältnisse wahrnahm, die wesentlichen Umstände für die Gefährdung dieser Personen bei ungebremster Weiterfahrt erkannte. Der Angeklagte stellt dies letztlich auch nicht in Abrede.
bb) Indes erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts zum voluntativen Vorsatzelement als durchgreifend lückenhaft, denn es hat sich auch insoweit nicht mit dem Vorstellungsbild des Angeklagten und seiner hierauf beruhenden Risikoeinschätzung seines Fahrverhaltens in Bezug auf die drei auf der Brücke befindlichen und - jedenfalls zum Teil - von ihm wahrgenommenen Personen auseinandergesetzt. Die Strafkammer hat daher nicht tragfähig belegt, dass der Angeklagte in der konkreten Tatsituation die Tötung dieser Personen, jedenfalls im Sinne einer Gleichgültigkeit in seinen Willen aufgenommen hatte.
(1) Die voluntative Seite des bedingten Tötungsvorsatzes hat das Landgericht aus dem Umstand geschlossen, dass der Angeklagte trotz vorangegangener und wahrgenommener gefährlicher Verkehrssituationen während seiner Fluchtfahrt diese mit noch höherem Risiko für Dritte gleichsam „im Blindflug“ auf dem Rad- und Fußgängerweg fortgesetzt habe. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Angeklagte habe seine Fahrtstrecke nicht so weit überblicken können, dass er überhaupt ein sicheres Befahren des Fußgänger- und Radwegs habe ermessen können. Er habe nicht davon ausgehen können, etwaigen Personen auf dem schmalen Weg nennenswert auszuweichen. Warnsignale habe er nicht eingesetzt. Dem ortskundigen Angeklagten sei vielmehr schon unmittelbar nach Durchbrechen der Absperrpfosten klar gewesen, dass die von ihm herbeigeführte höchstriskante Situation „auf unabsehbare Zeit“ andauern würde.
(2) Diese Erwägungen verkürzen die Betrachtung des Willenselements des bedingten Vorsatzes rechtsfehlerhaft auf Rückschlüsse aus der allgemeinen Gefährlichkeit der Fahrweise des Angeklagten auf dem Rad- und Fußweg. Nach den Urteilsgründen drängte es sich jedoch auf, darüber hinaus bei der Prüfung des voluntativen Elements das Vorstellungsbild des Angeklagten nach Wahrnehmung der Personen auf der Brücke, mithin die konkrete Tatsituation, in den Blick zu nehmen und sich hiermit kritisch auseinanderzusetzen.
(aa) Dass sich der Angeklagte nach Wahrnehmung zweier Personen auf der Brücke gedanklich mit seinem weiteren Fahrverhalten und der konkreten Gefährdungslage für diese Personen auseinandersetzte, ergab sich aus seiner Einlassung, „er habe - bei gleichbleibender Geschwindigkeit - versucht, an den Fußgängern vorbeizufahren“. Diese Einlassung hat das Landgericht als nicht widerlegbar erachtet. Der dem Angeklagten damit zugutegehaltene Vermeidewille hinsichtlich einer Kollision mit den auf der Brücke befindlichen Personen stellt in Bezug auf das Willenselement einen vorsatzkritischen Umstand dar, der erörterungsbedürftig war. Das Landgericht hat den Vermeidewillen des Angeklagten nicht entkräftet, vielmehr dadurch bestätigt gesehen, dass die Zeugen S. und W. letztlich unverletzt blieben.
Zwar hat die Strafkammer in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass das Unterbleiben einer Kollision mit den Zeugen S. und W. nur dem Zufall geschuldet gewesen sei. Diese Begründung lässt aber offen, ob der Angeklagte beim Passieren dieser Zeugen - entsprechend seiner Einlassung - willensgetragene Fahrmanöver zur Vermeidung eines Unfalls vornahm. Das Landgericht hat sich nur hinsichtlich des Nebenklägers mit der Frage befasst, ob der Angeklagte - so seine Einlassung - versucht habe, diesem bewusst auszuweichen, und hat dies zwar (tragfähig) verneint. Entsprechende Erörterungen lässt das Urteil in Bezug auf die Zeugen S. und W. aber vermissen. Angesichts der festgestellten Standorte der Zeugen in kurzen Abständen rechts bzw. links des Weges liegt nahe, dass die unterbliebenen Kollisionen mit diesen Personen - entsprechend seiner Einlassung - auf bewusste Ausweichmanöver des Angeklagten zurückzuführen waren.
(bb) Der vom Landgericht unterstellte Wille des Angeklagten, an den Fußgängern vorbeizufahren, war auch nicht etwa deshalb von vorneherein ohne tragfähige Grundlage, weil ein kollisionsfreies Passieren der Fußgänger auf der Brücke ausgeschlossen gewesen wäre. Vielmehr ist in Anbetracht der festgestellten Weges- und Fahrzeugbreiten sowie angesichts der im Unfallbereich gefahrenen Geschwindigkeit von 33 km/h jedenfalls nicht ohne weiteres auszuschließen, dass der Angeklagte - entsprechend seiner Einlassung - auf das Ausbleiben eines tödlichen Unfallgeschehens ernstlich vertraute. Dies gilt auch in Bezug auf den Nebenkläger mit Blick darauf, dass dieser erst kurz vor der Kollision einen Schritt in die Richtung des Fahrzeugs des Angeklagten machte und erst dann von diesem erfasst wurde. Dazu, ob zuvor ein Passieren des Nebenklägers möglich gewesen wäre, verhält sich das Urteil nicht.
(3) Darüber hinaus lassen die Urteilsausführungen zu der vom Angeklagten in Kauf genommenen Eigengefährdung besorgen, dass das Landgericht diesen Gesichtspunkt nicht nur vorsatzkritisch, sondern auch zur Bestätigung des bedingten Fremdtötungsvorsatzes, nämlich zum Beleg der hohen Risikobereitschaft und seiner Gleichgültigkeit auch hinsichtlich eines tödlichen Ausgangs für die gefährdeten Personen, herangezogen hat, ohne - worauf der Generalbundesanwalt zu Recht hinweist - die Inkaufnahme des eigenen Todes durch den Angeklagten aber ihrerseits nachvollziehbar belegt zu haben. Angesichts der Geschwindigkeit von nur 33 km/h versteht es sich keineswegs von selbst, sondern hätte einer näheren Begründung bedurft, dass der - anders als etwaige Fußgänger und Radfahrer durch die Fahrgastzelle des Pkw geschützte - Angeklagte um seines Fluchtziels willen auch den eigenen Tod für möglich hielt und billigte.
3. Die Verurteilung wegen versuchten Mordes in drei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen kann daher - mit der gegebenen Begründung - keinen Bestand haben. Die Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten Mordes hat die Aufhebung des Schuldspruchs wegen der tateinheitlich ausgeurteilten Straftatbestände, mithin auch wegen des an sich rechtsfehlerfrei festgestellten Fahrens ohne Fahrerlaubnis, zur Folge.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1002
Externe Fundstellen: StV 2022, 72
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß