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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 862

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 312/20, Beschluss v. 10.06.2021, HRRS 2021 Nr. 862


BGH 4 StR 312/20 - Beschluss vom 10. Juni 2021 (LG Cottbus)

Versuchter Totschlag; bedingter Vorsatz (bedingter Tötungsvorsatz; Abgrenzung von bewusster Fahrlässigkeit); gefährliche Körperverletzung (mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs: gezieltes Anfahren mit einem Kfz).

§ 212 StGB; §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB; § 15 StGB; § 22 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Nach ständiger Rechtsprechung ist der Tatbestand einer gefährlichen Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeuges nicht ohne weiteres erfüllt, wenn eine Person durch ein gezieltes Anfahren mit einem Kraftfahrzeug zu Fall gebracht wird. Die Annahme des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt in derartigen Fällen vielmehr voraus, dass bereits durch den Anstoß eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens und damit eine körperliche Misshandlung gemäß § 223 Abs. 1 StGB ausgelöst worden ist. Erst infolge des anschließenden Sturzes erlittene Verletzungen, die nicht auf den unmittelbaren Kontakt zwischen Kraftfahrzeug und Körper zurückzuführen sind, können für sich allein die Beurteilung als gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht tragen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Cottbus vom 27. Januar 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit „gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr“ zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat bereits mit der Sachrüge Erfolg, so dass es einer Entscheidung über die erhobenen Verfahrensrügen nicht mehr bedarf.

1. Nach den Feststellungen befuhr der Angeklagte mit seinem Pkw eine Bundesstraße. Der Nebenkläger befuhr diese mit seinem Motorrad in derselben Fahrtrichtung wie der Angeklagte. An einer Ampelkreuzung kamen beide zum Halten. Nach Fortsetzung der Fahrt überholten der Angeklagte und der Nebenkläger einander mehrfach und bremsten sich gegenseitig aus. Als der Nebenkläger sich auf eine Linksabbiegespur einordnete, die zu einer Autobahnauffahrt führte, versuchte der Angeklagte, sein Fahrzeug von rechts noch vor das Motorrad des Nebenklägers zu setzen, was ihm misslang. Der Nebenkläger musste infolge des Fahrmanövers des Angeklagten stark abbremsen. Beim nächsten verkehrsbedingten Halt stieg er von seinem Motorrad ab, ging zu dem Angeklagten und stellte ihn zur Rede. Als beide anschließend die Autobahnauffahrt befuhren, versuchte der Angeklagte den Nebenkläger im Kurvenbereich zu überholen und abzudrängen. Auf der Autobahn ordnete sich der Nebenkläger in die mittlere von drei Fahrspuren ein und befuhr diese mit einer Geschwindigkeit von 115 bis 120 km/h. Der Angeklagte, der die Autobahn nach dem Nebenkläger erreichte, wechselte dort in die äußerst linke Spur, die er sodann mit einer Geschwindigkeit von 120 bis 125 km/h befuhr. Aus Verärgerung über das Geschehen auf der Bundesstraße entschloss er sich zu einem Spurwechsel in die Fahrspur des Nebenklägers, welcher sich zu diesem Zeitpunkt noch schräg rechts vor ihm befand. Dem Angeklagten war bewusst, dass es zu einer Kollision mit dem Motorrad kommen und diese für den Nebenkläger tödlich enden könnte, was er billigend in Kauf nahm. Davon, dass der Angeklagte einen Zusammenstoß bewusst und zielgerichtet herbeiführen wollte, hat das Landgericht sich nicht zu überzeugen vermocht.

Tatsächlich stieß das Fahrzeug des Angeklagten im Bereich der hinteren rechten Tür mit dem linken Lenkerende des Motorrades des Nebenklägers zusammen, wodurch dieses in eine Pendelbewegung versetzt wurde, die der Nebenkläger nicht abzufangen vermochte. Er stürzte und erlitt Prellungen. Der Angeklagte nahm dies im Rückspiegel wahr und hielt nach ca. 300 Metern auf dem Standstreifen an.

2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen tateinheitlich begangenen versuchten Totschlags hat keinen Bestand. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hinsichtlich des bedingten Tötungsvorsatzes hält - unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteile vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 93; vom 5. Dezember 2017 ? 1 StR 416/17, NStZ 2018, 206, 207; vom 27. Juli 2017 ? 3 StR 172/17, NStZ 2018, 37, 38 f.) - der auf die Sachrüge gebotenen rechtlichen Überprüfung nicht stand.

a) Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Zieles Willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt dagegen vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und er ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 18. Juni 2020 ? 4 StR 482/19, NJW 2020, 2900 Rn. 22; vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 93; Beschluss vom 18. Februar 2021 - 4 StR 266/20 Rn. 9).

Ob der Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Vorsatzelemente in jedem Einzelfall umfassend zu prüfen und gegebenenfalls durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Die Prüfung, ob Vorsatz oder bewusste Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Umstände, wobei es vor allem bei der Würdigung des voluntativen Vorsatzelements regelmäßig erforderlich ist, dass sich das Tatgericht mit der Persönlichkeit des Täters auseinandersetzt und dessen psychische Verfassung bei der Tatbegehung, seine Motivlage und die für das Tatgeschehen bedeutsamen Umstände ? insbesondere die konkrete Angriffsweise ? mit in Betracht zieht. Im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtschau stellt die auf der Grundlage der dem Täter bekannten Umstände zu bestimmende objektive Gefährlichkeit der Tathandlung einen wesentlichen Indikator sowohl für das kognitive als auch für das voluntative Vorsatzelement dar (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 18. Juni 2020 ? 4 StR 482/19, aaO Rn. 23; vom 1. März 2018 ? 4 StR 399/17, aaO, S. 93 f.; vom 22. März 2012 ? 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 186 f.; Beschlüsse vom 18. Februar 2021 - 4 StR 266/20 Rn. 10; vom 25. März 2020 ? 4 StR 388/19 Rn. 8).

b) Diesen Anforderungen werden die Ausführungen des Landgerichts im angefochtenen Urteil nicht gerecht. Die Beweiswürdigung ist lückenhaft, denn sie lässt einen tragfähigen Beleg bereits des kognitiven Elements des bedingten Tötungsvorsatzes vermissen.

Soweit das Landgericht seinen Erwägungen zugrunde gelegt hat, dass äußerst gefährliche Gewalthandlungen den Schluss nahelegen können, der Täter habe mit der Möglichkeit des Todes des Opfers gerechnet und - weil er sein Handeln gleichwohl fortgesetzt hat - einen solchen Erfolg billigend in Kauf genommen, ist dies zwar im rechtlichen Ausgangspunkt nicht zu beanstanden (vgl. Senat, Urteile vom 22. März 2012 - 4 StR 558/11, BGHSt 57, 183, 186; vom 31. Januar 2019 - 4 StR 432/18 Rn. 10). Dass der Spurwechsel des Angeklagten, der zu der Kollision führte, aus Sicht des Angeklagten eine derart gefahrträchtige Handlung darstellte, hat das Landgericht indes nicht nachvollziehbar begründet. Im Hinblick darauf, dass das Landgericht einen auf die Kollision bezogenen direkten Vorsatz des Angeklagten explizit ausgeschlossen hat, wäre es hierfür unerlässlich gewesen darzulegen, welchen Verlauf und Erfolg seines Fahrmanövers der Angeklagte sich stattdessen vorstellte und anstrebte. Hierzu und damit zu der Grundlage der Gefährlichkeitsbeurteilung aus Sicht des Angeklagten hat das Landgericht indes keine Feststellungen getroffen. Den Urteilsgründen kann nicht entnommen werden, ob der Angeklagte etwa den Nebenkläger beim Überholen schneiden, seitlich abdrängen oder durch dichtes Auffahren bedrängen wollte und welche Risikovorstellung er hiermit verband. Die beweiswürdigenden Erwägungen des Landgerichts zu der Gefährlichkeit der Tathandlung erschöpfen sich in der Prüfung der Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Verletzung infolge einer etwaigen Kollision. Diese vermögen die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes jedoch nicht zu tragen, wenn - wie hier - nicht im Sinne des kognitiven Elements des bedingten Tötungsvorsatzes belegt ist, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit der Angeklagte einen Zusammenstoß überhaupt für möglich hielt.

c) Sollte das im zweiten Rechtsgang zur Entscheidung berufene Tatgericht erneut das kognitive Element des bedingten Tötungsvorsatzes bejahen, wird es zudem die Anforderungen an das voluntative Vorsatzelement, insbesondere etwaige vorsatzkritisch zu berücksichtigende Umstände (vgl. nur Senat, Urteil vom 18. Juni 2020 - 4 StR 482/19, NJW 2020, 2900 Rn. 30 ff. mwN), in stärkerem Maße als bisher geschehen in den Blick zu nehmen haben.

3. Die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags kann danach keinen Bestand haben. Da sich die Aufhebung wegen des tateinheitlichen Zusammentreffens auf den Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr wegen eines verkehrsfeindlichen Inneneingriffs erstreckt, bedarf die Sache schon deshalb insgesamt neuer tatrichterlicher Verhandlung und Entscheidung. Beide Tatbestände setzen zudem ebenfalls einen rechtsfehlerfrei festgestellten Vorsatz in Bezug auf die Kollision des Angeklagten mit dem Nebenkläger voraus, woran es, wie ausgeführt, fehlt.

4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat im Übrigen vorsorglich darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung der Tatbestand einer gefährlichen Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeuges nicht ohne weiteres erfüllt ist, wenn eine Person durch ein gezieltes Anfahren mit einem Kraftfahrzeug zu Fall gebracht wird. Die Annahme des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB setzt in derartigen Fällen vielmehr voraus, dass bereits durch den Anstoß eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens und damit eine körperliche Misshandlung gemäß § 223 Abs. 1 StGB ausgelöst worden ist. Erst infolge des anschließenden Sturzes erlittene Verletzungen, die nicht auf den unmittelbaren Kontakt zwischen Kraftfahrzeug und Körper zurückzuführen sind, können für sich allein die Beurteilung als gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht tragen (vgl. nur Senat, Beschluss vom 30. Juli 2013 - 4 StR 275/13, NStZ 2014, 36, 37 mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 862

Externe Fundstellen: NStZ 2022, 101; StV 2022, 74

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß