HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 999
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 200/20, Beschluss v. 22.07.2021, HRRS 2021 Nr. 999
1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Siegen vom 7. November 2019 wird
a) das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte in den Fällen II. 2. a), II. 2. b) bb) und II. 2. b) cc) der Urteilsgründe jeweils wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung trägt die Staatskasse die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten;
b) das vorgenannte Urteil
aa) im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in sieben Fällen und sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen schuldig ist;
bb) im Adhäsionsausspruch aufgehoben und dahingehend geändert, dass von einer Entscheidung über die Adhäsionsanträge der Nebenklägerinnen abgesehen wird.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
3. Der Angeklagte hat die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Nebenklägerinnen zu tragen. Die durch das Adhäsionsverfahren entstandenen gerichtlichen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in fünf Fällen und schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in sieben Fällen unter Freispruch im Übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten führt zur Teileinstellung des Verfahrens und zur Aufhebung des Adhäsionsausspruchs; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Der Senat hat das Verfahren auf Antrag des Generalbundesanwalts und nach Anhörung des Angeklagten aus verfahrensökonomischen Gründen gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt, soweit dieser in den Fällen II. 2. a), II. 2. b) bb) und II. 2. b) cc) der Urteilsgründe jeweils wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes verurteilt worden ist.
Opfer eines sexuellen Missbrauchs eines Kindes kann nach § 176 Abs. 1 StGB nur eine Person unter 14 Jahren sein. Nach den Feststellungen beging der Angeklagte die Taten zu Lasten der am 1989 geborenen Geschädigten „nach dem Urlaub auf Rhodos und vor dem Geschwistertreffen 2003“. Der Urteilsbegründung lässt sich nicht entnehmen, wann das Geschwistertreffen im Jahr 2003 stattfand. Der Senat kann daher nicht ausschließen, dass die Geschädigte zum Zeitpunkt der Taten bereits 14 Jahre alt war.
2. Die Teileinstellung hat die Änderung des Schuldspruchs und den Wegfall von drei Einzelstrafen von einmal sechs Monaten und zweimal zehn Monaten zur Folge. Die Gesamtstrafe kann bestehen bleiben. Der Senat schließt angesichts der verbleibenden Einzelstrafen von einmal sechs Monaten, einmal zehn Monaten, zweimal zwei Jahren, dreimal zwei Jahren und sechs Monaten sowie zweimal drei Jahren aus, dass die Strafkammer ohne die weggefallenen Einzelstrafen auf eine niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte.
3. Die Adhäsionsentscheidung kann nicht bestehen bleiben, weil es gänzlich an einer Begründung für die Verurteilung des Angeklagten fehlt. Darüber hinaus weicht der Tenor der Adhäsionsentscheidung von dem Urteil ab, das die Strafkammer in der Hauptverhandlung verkündet hat. Infolgedessen ist die Adhäsionsentscheidung aufzuheben und das Urteil dahin abzuändern, dass von einer Entscheidung über die Adhäsionsanträge abgesehen wird (§ 406 StPO).
4. Im Übrigen hat die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt. Die Verfahrensrügen bleiben ebenfalls erfolglos. Das gilt auch, soweit die Revision rügt, es liege ein absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 6 StPO vor, weil das Landgericht den Beschluss über den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Vernehmung des Angeklagten nicht ausreichend begründet habe. Insoweit gilt:
a) Gemäß § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG ist bei Verkündung des Beschlusses, der die Öffentlichkeit in den Fällen der §§ 171b, 172 und 173 GVG ausschließt, anzugeben, aus welchem Grund die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden ist. Die Begründung dient neben der Selbstkontrolle des Gerichts auch der Unterrichtung der Öffentlichkeit (vgl. BGH, Urteile vom 25. September 1951 ? 1 StR 464/51, BGHSt 1, 334, 336; vom 9. Dezember 1981 ? 3 StR 368/81, BGHSt 30, 298, 303) und der Nachprüfbarkeit durch das Revisionsgericht (vgl. BGH, Urteil vom 10. Mai 1995 ? 3 StR 145/95, StV 1996, 135; KK-StPO/Diemer, 8. Aufl., § 174 GVG Rn. 4). Nicht erforderlich ist eine ausdrückliche Aufklärung der Zuhörer über Inhalt und Bedeutung der Vorgänge in der Hauptverhandlung, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt werden sollen (vgl. BGH, Urteile vom 9. Februar 1977 ? 3 StR 382/76, BGHSt 27, 117, 120; vom 9. Dezember 1981 ? 3 StR 368/81, BGHSt 30, 298, 303). Sofern für die Zuhörer im Gerichtssaal ohne weiteres erkennbar war, auf welche Prozesshandlung sich der Ausschluss beziehen sollte, und das Revisionsgericht sicher ausschließen kann, dass eine andere Entscheidung in Betracht kam, ändert dies zwar nichts daran, dass bei Fehlen oder unzureichender Begründung des Öffentlichkeitsausschlusses i.S.d. § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG ein Verstoß gegen die Begründungspflicht vorliegt. Angesichts des Zwecks der Begründungspflichten kann aber im Einzelfall ein Verstoß, der nur das Verfahren über den Ausschluss der Öffentlichkeit betrifft und nicht zu deren unzulässiger Beschränkung führt, nicht so schwer wiegen, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO zu bejahen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juni 1999 ? 1 StR 325/98, BGHSt 45, 117, 119 f.; Beschluss vom 26. Juli 2001 ? 3 StR 239/01).
b) So liegt der Fall hier. Zwar enthält der Beschluss keinen ausreichenden Hinweis auf den Ausschlussgrund. Der Verstoß gegen die Begründungspflicht führt aber hier nicht zur Aufhebung des Urteils.
Nach dem aus dem Protokoll ersichtlichen Verfahrensablauf war zweifelsfrei erkennbar, auf welche Prozesshandlung sich der Ausschluss bezog. Der Verteidiger des Angeklagten stellte den Antrag, „aufgrund der Wahrung der Privat- und Intimsphäre des Angeklagten die Öffentlichkeit bei der Vernehmung des Angeklagten auszuschließen.“ Nach halbstündiger Unterbrechung der Hauptverhandlung, Zurückweisung anderer Anträge des Angeklagten, Verlesen des Anklagesatzes mit dem Tatvorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a., Belehrung des Angeklagten und dessen Erklärung, dass er aussagen möchte, verkündete die Strafkammer den Beschluss, „auf Antrag des Verteidigers“ die Öffentlichkeit „während der Vernehmung des Angeklagten“ auszuschließen. Bei diesem Verfahrensablauf war eindeutig zu erkennen, dass bei der anstehenden Einlassung des Angeklagten auch Umstände aus dessen persönlichen Lebensbereich zur Sprache kommen, deren öffentliche Erörterung dessen schutzwürdige Interessen verletzen würden (§ 171b Abs. 1 Satz 1 GVG). Der Beschluss nimmt ausdrücklich auf den kurz zuvor gestellten Antrag der Verteidigung und die unmittelbar bevorstehende Vernehmung des Angeklagten Bezug, woraus sich dies ergibt. Der Erkennbarkeit des Grundes für den Öffentlichkeitsausschluss stehen weder der halbstündige Zeitraum zwischen der Antragstellung und der Verkündung des Beschlusses noch die zwischenzeitliche Ablehnung der anderen Anträge des Angeklagten entgegen. Vielmehr war der Ausschlussgrund offensichtlich.
Der Senat kann auch sicher ausschließen, dass in dieser Verfahrenskonstellation eine andere Entscheidung der Strafkammer in Betracht kam. Der Ausschluss der Öffentlichkeit ist zwingend, wenn er von der Person beantragt wird, deren Lebensbereich betroffen ist (§ 171b Abs. 3 Satz 1 GVG).
5. Die im Adhäsionsverfahren entstandenen gerichtlichen Auslagen hat der Senat der Staatskasse auferlegt, weil es unbillig wäre, die Adhäsionsklägerinnen damit zu belasten (§ 472a Abs. 2 Satz 3 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 999
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß