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Bearbeiter: Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 145/95, Urteil v. 10.05.1995, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 3 StR 145/95 - Urteil vom 10. Mai 1995 (LG Oldenburg)

BGHSt 41, 145; Anforderungen an die Begründung eines die Öffentlichkeit ausschließenden Beschlusses.

§ 172 Nr. 1a GVG; § 174 Abs. 1 S. 3 GVG

Leitsatz

Gibt ein die Öffentlichkeit ausschließender Beschluss § 172 Nr. 1a GVG als Ausschließungsgrund an, so genügt die Angabe dieser Gesetzesbestimmung den Anforderungen des § 174 Abs. 1 S. 3 GVG. (BGHSt)

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 14. Oktober 1994 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht davon abgesehen hat, eine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis anzuordnen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren Raubes, wegen Diebstahls in vier Fällen, wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln und wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil richten sich die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft. Das auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Rechtsmittel des Angeklagten bleibt erfolglos. Die Staatsanwaltschaft hat ihr Rechtsmittel insoweit beschränkt, als das Landgericht keine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis angeordnet hat; ihre Revision greift durch.

I. Die Revision des Angeklagten

1. Die Revision macht einen Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens (§ 338 Nr. 6 StPO) geltend. Ein solcher liegt nicht vor. Folgender Verfahrensgang liegt zugrunde: Nach einer in öffentlicher Hauptverhandlung abgegebenen informatorischen Erklärung der Zeugin B., in der sie den Grad der Gefährdung ihrer Person eingehend dargelegt hat, und einer Erörterung der Verfahrensbeteiligten über diesen Sachverhalt und die Frage des Ausschlusses der Öffentlichkeit hat das Landgericht beschlossen: "Die Öffentlichkeit wird für die Dauer der Vernehmung der Zeugin B. gemäß § 172 Abs. (gemeint: Nr.) 1 a GVG ausgeschlossen". Die Vernehmung wurde mehrmals unterbrochen, nach Abschluß der Vernehmung wurde die Zeugin entlassen.

a) Die Begründung des Ausschließungsbeschlusses wird den Anforderungen des § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG gerecht. Nach dieser Vorschrift ist bei der Verkündung des die Öffentlichkeit ausschließenden Beschlusses unter anderem im Fall des § 172 GVG anzugeben, aus welchem Grund die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden ist. Die Begründung des Beschlusses dient vor allem der Nachprüfungsmöglichkeit (vgl. u.a. die bei Mayr in KK, 3. Aufl. § 174 GVG Rdn. 4 angegebenen Nachweise); sie muß den maßgebenden Grund eindeutig erkennen lassen. Eine genauere Aufklärung der Zuhörer über den Grund des Ausschlusses ist nicht erforderlich (vgl. BGHSt 27, 117, 120; 30, 298, 303); es genügt auch die Angabe des Ausschlußgrundes mit den Worten des Gesetzes, wenn dieser damit eindeutig gekennzeichnet ist (vgl. Mayr a.a.O. § 172 GVG Rdn. 11).

In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wird der bloße Hinweis auf eine Gesetzesbestimmung dann nicht als ausreichend angesehen, wenn diese mehrere Alternativen enthält, und sich aus dem Beschluß selbst nicht zweifelsfrei ergibt, auf welche Alternative Bezug genommen werden soll (BGHSt 27, 187; 30, 298, 301; BGHR GVG § 174 I 3 Begründung 1, 2). Dem Begründungsgebot des § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG wird dagegen dann Genüge getan, wenn der Beschluß auf eine Gesetzesbestimmung verweist, die nur einen einzigen Ausschließungsgrund enthält (vgl. BGHSt 27, 117, 119 zu § 172 Nr. 4 GVG - Vernehmung einer Person unter 16 Jahren) oder die in Bezug genommene Alternative zweifelsfrei erkennen läßt (BGHSt 30, 298, 299 zu § 172 Nr. 1 GVG - Gefährdung der Staatssicherheit; BGH NStZ 1986, 179 mit Anmerkung Gössel zu § 172 Nr. 1 - Gefährdung der Sittlichkeit; BGHSt 3, 344, 345; BGHSt 30, 193, 194 zu § 172 Nr. 1 GVG - Gefährdung der öffentlichen Ordnung; BGHSt 30, 212, 213 zu § 172 Nr. 2 GVG - schutzwürdige Interessen).

b) Bei § 172 Nr. 1 a GVG handelt es sich um eine Gesetzesbestimmung, die nur einen einzigen Ausschließungsgrund enthält. Gemäß dieser Vorschrift kann die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn "eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist". Nach ihrer Entstehungsgeschichte, ihrem Inhalt, der Gesetzessystematik und ihrem Sinn und Zweck enthält diese Gesetzesbestimmung den einheitlichen Ausschließungsgrund der Personengefährdung. Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts und des Revisionsführers liegt eine - echte - Alternative im Sinne der oben dargelegten Rechtsprechung zwischen der Gefährdung eines Zeugen oder der Gefährdung einer anderen Person nicht vor.

§ 172 Nr. 1 a ist durch das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) vom 15. Juli 1992 (BGBl I S. 1302) in das Gerichtsverfassungsgesetz eingefügt worden. Zunächst war beabsichtigt, in § 172 Nr. 1 GVG nach den Worten "der öffentlichen Ordnung" die Worte "insbesondere des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person" anzufügen (BR-Drucks. 12/989 vom 25. Juli 1991 S. 16). Nach ihrer Begründung sollte diese Ergänzung im wesentlichen klarstellende Bedeutung haben, weil die Gefahr für Leib oder Leben eines Zeugen von der Rechtsprechung in der Regel als Gefährdung der öffentlichen Ordnung angesehen werde (BR-Drucks. 12/989 S. 48). Auf Grund der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (BT-Drucks. 12/2720 vom 4. Juni 1992 S. 32, 41) wurde dann dieser Ausschlußgrund als Nr. 1 a in § 172 GVG eingefügt.

Daraus folgt für § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG, daß in dem die Öffentlichkeit ausschließenden Beschluß als Ausschließungsgrund die Angabe des § 172 Nr. 1 a GVG ausreichend ist. Denn der Hinweis auf die Gefährdung der öffentlichen Ordnung - einschließlich der Personengefährdung - genügte bislang den an die Mitteilung des Ausschlußgrundes zu stellenden Anforderungen (vgl. BGHSt 3, 344; 30, 193). Da vom Gesetzgeber aus dem Begriff der öffentlichen Ordnung ein Teilbereich herausgenommen und als selbständiger Ausschließungsgrund ausgestaltet wurde, können an Bezugnahmen auf diesen Teilbereich keine höheren Anforderungen gestellt werden als an Bezugnahmen auf den Oberbegriff.

Diese aus der Entstehung der Norm abgeleitete verfahrensrechtliche Folgerung entspricht auch dem Sinn und Zweck der Neuregelung:

Der Schutz gefährdeter Zeugen wurde im Zusammenhang mit der Bekämpfung der organisierten Kriminalität als eine wichtige Aufgabe angesehen. Die Entstehungsgeschichte macht deutlich, daß der Gesetzgeber in Verfolgung dieser Zielsetzung die Sicherheit gefährdeter Auskunftspersonen durch neue Regelungen zum Schutz von Zeugen besser als bisher gewährleisten wollte. Dem sollte im Rahmen der Vernehmung von Zeugen in der Hauptverhandlung wegen der Bedeutung des Zeugenschutzes durch die inhaltliche Ausgliederung der Gefährdung von Zeugen und anderen Personen aus dem weit gefaßten Gefährdungstatbestand der öffentlichen Ordnung in besonderer Weise Rechnung getragen werden. Ein umfassender Schutz läßt sich aber nur dadurch erzielen, daß naheliegenden oder zusammenhängenden - wobei die Grenzen fließend sind - Gefährdungen eines Zeugen oder einer anderen Person, sei es eines Verfahrensbeteiligten oder eines Dritten, verfahrensrechtlich gemeinsam begegnet wird und solche Gefährdungen nicht formal nach einzelnen Personen aufgespaltet werden, damit nicht als Folge einer solchen Aufgliederung der Schutzzweck dieser Vorschrift leerläuft. Unabhängig von gegen die organisierte Kriminalität gerichteten Verfahren gibt es auch in der sonstigen gerichtlichen Praxis Fälle, in denen durch die Aussage einer gefährdeten Auskunftsperson in öffentlicher Verhandlung die Sicherheit einer weiteren Person in Mitleidenschaft gezogen werden oder die Gefährdung nicht auf den zu vernehmenden Zeugen beschränkt, sondern sich auf Familienangehörige oder andere nahestehende Personen erstrecken kann.

Das Erfordernis eines einheitlichen Tatbestandes der Personengefährdung ergibt sich auch daraus, daß aus Schutzgründen in dem Ausschließungsbeschluß keine Hinweise aufzunehmen sind, die die Gefahr besorgen lassen, daß gerade Umstände offenbart werden müßten, die der öffentlichen Erörterung entzogen sein sollen (vgl. BGHSt 30, 212, 213). Durch eine Verpflichtung des Gerichts, im Rahmen des § 172 Nr. 1 a GVG deutlich zu machen, ob es den Zeugen oder eine andere Person für gefährdet hält, könnte sich - unabhängig von der Möglichkeit, nach § 173 Abs. 2 GVG zu verfahren - eine solche Gefahr verwirklichen.

Schließlich hat der Gesetzgeber die Neuregelung in Kenntnis und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung zur Gefährdung der öffentlichen Ordnung beschlossen. Auch das bedeutet, daß die Neufassung der Vorschrift nicht eine zusätzliche Komplizierung der Rechtsprechung nach sich ziehen sollte.

2. Unbegründet ist auch die in diesem Zusammenhang erhobene Verfahrensrüge, zwei weitere die Öffentlichkeit während der Vernehmung der Zeugin B. ausschließende Beschlüsse verletzten ebenfalls § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG. Wird die Öffentlichkeit - wie hier - für die Dauer einer Zeugenvernehmung ausgeschlossen, gilt der Beschluß über die Ausschließung bis zur Beendigung der Vernehmung. Er deckt deshalb auch den Ausschluß der Öffentlichkeit nach mehrmaliger Unterbrechung der Vernehmung (BGH NStZ 1992, 447). Da die Vernehmung der Zeugin B. noch nicht abgeschlossen und die Zeugin auch nicht entlassen worden war, war auch kein neuer Ausschließungsbeschluß erforderlich.

3. Die Aufklärungsrügen sind nicht in zulässiger Weise erhoben. Entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO teilt die Revision nicht die den Mangel enthaltenden Tatsachen vollständig mit; insbesondere fehlt es an einer bestimmten Beweisbehauptung und der Angabe des erwarteten Beweisergebnisses (vgl. Pikart in KK-StPO, 3. Aufl. § 344 Rdn. 51 m.w.N.).

4. Auch die Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt. Anlaß zu Bemerkungen gibt lediglich folgendes:

Die Revision beanstandet, daß das Landgericht in den Fällen A a der Urteilsgründe (Diebstahl zum Nachteil M.) und A e der Urteilsgründe (unerlaubter Erwerb von Betäubungsmitteln) jeweils von einer Mindeststrafe von einem Monat Freiheitsstrafe ausgegangen ist, obwohl sowohl in § 242 Abs. 1 StGB als auch in § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG als Mindeststrafen Geldstrafen vorgesehen sind. Die Rüge ist unbegründet. Aus dem Urteil ergibt sich für beide Fälle, daß sich das Landgericht sehr wohl der Möglichkeit einer Geldstrafe bewußt war, diese aber "zur Erreichung des Strafzwecks" (UA S. 70) und mit "Blick auf die kriminellen Aktivitäten" (UA S. 73) als nicht in Betracht kommend ausgeschlossen hat.

II. Die Revision der Staatsanwaltschaft

Die Revision der Staatsanwaltschaft greift durch. Ausweislich der Urteilsgründe (UA S. 79, 80) hat es das Landgericht aufgrund eines Versehens unterlassen, gemäß § 69 a Abs. 1 Satz 3 StGB eine selbständige Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis anzuordnen. Die neu entscheidende Strafkammer wird Gelegenheit haben, die Sperre anzuordnen und ihre Dauer festzulegen.

Externe Fundstellen: BGHSt 41, 145; NJW 1995, 3195; NStZ 1996, 50; StV 1996, 135

Bearbeiter: Karsten Gaede