HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 1026
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 192/18, Beschluss v. 25.09.2018, HRRS 2018 Nr. 1026
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 9. Januar 2018 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Hiergegen wendet sich die Revision des Angeklagten mit einer Verfahrensbeschwerde und der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Erwägungen des Landgerichts zur Bemessung der Einzelstrafen sowie der Gesamtstrafe halten unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabes (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. April 1987 GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349; Urteil vom 17. September 1980 2 StR 355/80, BGHSt 29, 319, 320) in zweifacher Hinsicht einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
a) Die Strafkammer hat jeweils strafschärfend berücksichtigt, dass der Angeklagte bei den Taten „unter zweifacher Bewährung wegen anderer Delikte“ stand. Diese Wertung wird von den Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht getragen. Danach war zum Zeitpunkt der abgeurteilten, im Dezember 2016 und Mai 2017 begangenen Missbrauchstaten lediglich die Vollstreckung der durch Urteil des Amtsgerichts Haldensleben vom 21. September 2016 wegen gefährlicher Körperverletzung verhängten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten zur Bewährung ausgesetzt. Die frühere Bewährungsstrafe von sieben Monaten und zwei Wochen aus dem Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Burg vom 6. April 2011 war bereits mit Wirkung vom 1. Juni 2013 erlassen worden.
b) Darüber hinaus begegnet die Berücksichtigung der sich aus den Taten für das Tatopfer ergebenden psychischen Belastungen zum Nachteil des Angeklagten durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Bei Delikten gemäß § 176 StGB können zwar entgegen der Ansicht der Revision solche Tatfolgen beim Opfer als verschuldete Auswirkungen der Tat im Sinne von § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB strafschärfend gewertet werden, die über die tatbestandlich vorausgesetzte abstrakte Gefährdung des Kindeswohls hinausgehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 1. Februar 1991 2 StR 648/90, BGHR StGB § 176 Abs. 1 Strafzumessung 3; vom 17. Januar 1995 4 StR 737/94, StV 1995, 470; vom 25. April 2001 1 StR 143/01, StV 2002, 75). Dies setzt aber voraus, dass die Folgewirkungen der Tat vom Tatrichter im Einzelfall konkret festgestellt werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. April 2001 1 StR 143/01 aaO; vom 20. August 2003 2 StR 285/03, NStZ-RR 2004, 41; vgl. Fischer, StGB, 65. Aufl., § 176 Rn. 36 mwN). Eine zum Nachteil des Angeklagten auf bloße Vermutungen gestützte Strafzumessung ist unzulässig (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. August 2003 2 StR 285/03 aaO; vom 7. Juli 1998 4 StR 300/98, StV 1998, 656). Dieser Anforderung ist die Strafkammer, die ausdrücklich keine Feststellungen zum Umfang der psychischen Belastungen des Tatopfers getroffen hat, nicht gerecht geworden.
c) Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich die fehlerhaften Strafzumessungserwägungen zum Nachteil des Angeklagten auf die Bemessung der verhängten Einzelfreiheitsstrafen und der Gesamtstrafe ausgewirkt haben.
2. Die Aufhebung des Strafausspruchs entzieht der Maßregelanordnung die Grundlage.
3. Für die neuerliche Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Trotz missverständlicher Formulierungen entnimmt der Senat den bisherigen Urteilsausführungen, dass keine Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass beim Angeklagten die engen Voraussetzungen vorliegen, unter denen eine mögliche Pädophilie im Einzelfall als schwere andere seelische Abartigkeit gewertet werden kann (vgl. BGH, Urteil vom 15. März 2016 1 StR 526/15, BGHR StGB § 63 Zustand 45; vom 25. März 2015 2 StR 409/14, NStZ 2015, 688; Beschluss vom 6. Juli 2010 4 StR 283/10, NStZ-RR 2010, 304).
b) Das Merkmal des Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 10. Juni 2010 4 StR 474/09, NStZ-RR 2011, 143, 145). Der Hang als „eingeschliffenes Verhaltensmuster“, bei dem es sich um einen Rechtsbegriff handelt, der als solcher dem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich ist (BGH, Beschluss vom 12. Januar 2010 3 StR 436/09, NStZ 2010, 586), bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand. Seine Feststellung obliegt nach sachverständiger Beratung unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgeblichen Umstände dem Richter in eigener Verantwortung (vgl. BGH, Beschlüsse vom 30. März 2010 3 StR 69/10, StV 2010, 484; vom 25. Mai 2011 4 StR 87/11, NStZ-RR 2011, 272).
Hangtätereigenschaft und Gefährlichkeit für die Allgemeinheit sind, wie die begriffliche Differenzierung in § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB zeigt, keine identischen Merkmale. Der Hang ist nur ein wesentliches Kriterium der Prognose. Während der Hang einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand bezeichnet, schätzt die Gefährlichkeitsprognose die Wahrscheinlichkeit dafür ein, ob sich der Täter in Zukunft trotz seines Hangs erheblichen Straftaten enthalten kann oder nicht (vgl. BGH, Urteil vom 8. Juli 2005 2 StR 120/05, BGHSt 50, 188, 196; Beschluss vom 30. März 2010 3 StR 69/10 aaO).
Der neue Tatrichter wird bei der Prüfung von Hang und Gefährlichkeit auch in den Blick zu nehmen haben, dass der Angeklagte nach seiner Entlassung aus der Strafhaft am 13. Juni 2006 bis zu den im Dezember 2016 und Mai 2017 begangenen Anlasstaten nicht mit Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern in Erscheinung getreten ist.
HRRS-Nummer: HRRS 2018 Nr. 1026
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2018, 369 ; StV 2020, 4
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner