HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 625
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 474/15, Beschluss v. 28.04.2016, HRRS 2016 Nr. 625
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 16. Juni 2015 - unter Verwerfung des weiter gehenden Rechtsmittels als unbegründet - im Ausspruch über die Vollstreckungsreihenfolge aufgehoben, soweit der Vorwegvollzug von einem Jahr Freiheitsstrafe vor der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden ist. Der Ausspruch entfällt.
2. Der Antrag des Nebenklägers, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das vorbezeichnete Urteil zu gewähren, wird verworfen.
3. Seine Revision gegen dieses Urteil wird als unzulässig verworfen.
4. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Ferner hat es bestimmt, dass vor der Unterbringung ein Jahr der verhängten Freiheitsstrafe zu vollziehen ist.
Der Angeklagte rügt mit seiner Revision allgemein die Verletzung sachlichen Rechts. Auch der Nebenkläger hat fristgerecht Revision eingelegt. Die Revisionsrechtfertigung, mit der er die unterbliebene Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Mordes beanstandet, ging jedoch erst am 22. August 2015 und damit einen Tag nach Ablauf der Frist des § 345 Abs. 1 StPO beim Landgericht ein. Nach Kenntnisnahme von dem auf § 349 Abs. 1 StPO gestützten Verwerfungsantrag des Generalbundesanwalts hat der Vertreter des Nebenklägers fristgerecht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Zur Revision des Angeklagten I.
Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Sachrüge hat zum Schuld-und Strafausspruch keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Dies gilt insbesondere für die Wertung des Landgerichts, der Angeklagte habe mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt (zum bedingten Tötungsvorsatz vgl. nur BGH, Beschluss vom 27. Oktober 2011 - 3 StR 351/11, NStZ 2012, 151 mwN).
Die vom Landgericht für die Anordnung des teilweisen Vorwegvollzugs der Freiheitsstrafe vor der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB gegebene Begründung hält jedoch rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie widerstreitet der vom Gesetzgeber getroffenen Grundentscheidung (§ 67 Abs. 1 StGB) und vermag eine Abweichung von der Regel, wonach zunächst die Maßregel zu vollstrecken ist, nicht zu rechtfertigen.
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist Richtschnur für die Frage des Vorwegvollzugs der Strafe das Rehabilitationsinteresse des Verurteilten. Nach der Grundentscheidung des Gesetzgebers in § 67 Abs. 1 StGB soll möglichst umgehend mit der Behandlung des süchtigen oder kranken Rechtsbrechers begonnen werden, da dies am ehesten einen dauerhaften Erfolg verspricht. Gerade bei längerer Strafdauer muss es darum gehen, den Angeklagten frühzeitig zu heilen und seine Persönlichkeitsstörung zu behandeln, damit er im Strafvollzug an der Verwirklichung des Vollzugsziels arbeiten kann (vgl. nur Senatsurteil vom 23. August 1990 - 4 StR 306/90, BGHSt 37, 160, 161 f.; BGH, Beschluss vom 22. März 2006 - 1 StR 75/06, StraFo 2006, 299). Eine Abweichung von der Regelabfolge des Vollzugs bedarf daher eingehender Begründung. Steht zu besorgen, dass der an die Maßregel anschließende Strafvollzug den Maßregelerfolg wieder zunichtemachen könnte, so müssen dafür überzeugende Gründe vorliegen, die in den Urteilsgründen darzulegen sind (BGH, Beschluss vom 22. März 2006 aaO; ebenso BGH, Beschluss vom 26. April 2001 - 1 StR 109/01, jeweils mwN).
2. Diesen Anforderungen wird die vom Landgericht bestimmte Ausnahme nicht gerecht.
Das Landgericht führt, insoweit dem psychiatrischen Sachverständigen folgend, im angefochtenen Urteil aus, der Angeklagte habe die Tendenz, jegliche Verantwortung für seine aggressiven Impulshandlungen von sich zu weisen; er habe nie lernen müssen, die Verantwortung für sein Handeln bei sich selbst zu sehen. Durch die Anordnung eines teilweisen Vorwegvollzugs der Freiheitsstrafe könne dem Angeklagten verdeutlicht werden, dass er trotz aller Schwierigkeiten, seine Impulse zu kontrollieren, prinzipiell noch dazu in der Lage sei und er somit auch selbst Verantwortung für sein aggressives Verhalten trage. Diese Erwägung lässt nicht erkennen, warum eine Konfrontation mit den Folgen seines strafbaren Handelns eher im Strafvollzug als bei der Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus erreicht werden kann oder die Strafhaft als Vorstufe der Behandlung für deren Zweck erforderlich sein könnte. Dies versteht sich auch nicht von selbst und wäre deshalb näher zu begründen gewesen, zumal es naheliegt, dass der zugrunde liegenden Neigung des Angeklagten im Vollzug der Maßregel besser als im Strafvollzug begegnet werden kann.
3. Der Senat hält es insbesondere nach der vom Angeklagten inzwischen erlittenen, über einjährigen Untersuchungshaft für ausgeschlossen, dass sich in einer neuen Hauptverhandlung die Voraussetzungen für die Vorwegvollstreckung (eines Teils) der Strafe noch ergeben könnten. Er sieht daher von einer Zurückverweisung der Sache ab und lässt stattdessen die Anordnung des Vorwegvollzugs entfallen.
4. Dieser geringfügige Teilerfolg rechtfertigt es nicht, den Angeklagten von einem Teil der durch sein Rechtsmittel entstandenen Kosten freizustellen (vgl. SSW-StPO/Steinberger-Fraunhofer, 2. Aufl., § 473 Rn. 22).
Zur Revision des Nebenklägers I.
Der vom Nebenkläger wegen Versäumung der Frist zur Begründung seines Rechtsmittels gestellte Antrag auf Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat keinen Erfolg.
1. Im Unterschied zum Angeklagten ist dem Nebenkläger das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten, der nach Versäumung der Revisionsbegründung Wiedereinsetzung beantragt, nach dem allgemeinen Verfahrensgrundsatz des § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschluss vom 28. August 2013 - 4 StR 336/13, BGHR StPO § 44 Verschulden 10 mwN; SSW-StPO/Tsambikakis, 2. Aufl., § 44 Rn. 40). Für die Frage, ob der prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt für ein Verschulden seines Kanzleipersonals haftet, kommt es darauf an, ob dieses sorgfältig ausgewählt und überwacht wird und ob eine zur Verhinderung von Fristüberschreitungen taugliche Büroorganisation vorhanden ist (BGH, Beschluss vom 17. März 2010- 2 StR 27/10; Beschluss vom 9. Juni 2015 - VIII ZB 100/14, Tz. 9, IBR 2015, 523). Deshalb erfordert die Begründung eines Wiedereinsetzungsantrags nicht nur eine genaue Darlegung und Glaubhaftmachung aller zwischen dem Beginn und dem Ende der versäumten Frist liegenden Umstände, die für die Frage bedeutsam sind, wie und gegebenenfalls durch wessen Verschulden es zur Versäumung gekommen ist. Vorzutragen sind ferner diejenigen Tatsachen, die ein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden des Bevollmächtigten ausschließen (Senatsbeschluss vom 28. August 2013; BGH, Beschlüsse vom 17. März 2010 - 2 StR 27/10 und vom 9. Juni 2015, jeweils aaO). Dies betrifft insbesondere die organisatorischen Vorkehrungen, durch die im Rahmen der Arbeitsabläufe in der Kanzlei sichergestellt werden soll, dass ein fristgebundener Schriftsatz nicht nur rechtzeitig fertig gestellt wird, sondern auch innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht (BGH, Beschluss vom 9. Juni 2015 aaO).
2. Danach kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob die vom Nebenklägervertreter vorgelegte eidesstattliche Versicherung seiner Kanzleimitarbeiterin überhaupt eine schlüssige und damit unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Glaubhaftmachung hinreichende Darstellung derjenigen Umstände enthält, die zu der mit einer fehlerhaften Berechnung begründeten Fristversäumung geführt haben sollen.
3. Es fehlt jedenfalls an einem hinreichenden Vortrag von Tatsachen, die eine unverschuldete Fristversäumnis des Prozessbevollmächtigten selbst begründen könnten.
a) Ausweislich der von ihm vorgelegten eidesstattlichen Versicherung oblag seiner insoweit besonders unterwiesenen Kanzleikraft die eigenverantwortliche Führung der Fristen und die diesbezügliche Fristenkontrolle. Bei dieser Tätigkeit werde sie, so der Vortrag des Prozessbevollmächtigten des Nebenklägers, durch die „hiesigen schriftlichen Anweisungen sowohl zum Notieren von Fristen als auch zur Führung des Fristenkalenders“ unterstützt.
b) Damit ist ein Verschulden des Nebenklägervertreters selbst nicht ausgeschlossen. Zwar darf ein Rechtsanwalt in einfach gelagerten Fällen die Feststellung des Fristbeginns und die Berechnung einer Frist gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Büroangestellten überlassen (BGH, Beschlüsse vom 30. Mai 2000 - 1 StR 103/00, BGHR StPO § 44 Verschulden 7; vom 6. Juli 2004 - 5 StR 204/04, jeweils mwN). Aber schon das Empfangsbekenntnis über eine Urteilszustellung darf er beispielsweise nur unterzeichnen und zurückgeben, wenn durch geeignete organisatorische Vorkehrungen sichergestellt ist, dass in den Handakten die Rechtsmittelfrist festgehalten und vermerkt ist, dass die Frist im Fristenkalender notiert worden ist (BGH, Beschluss vom 2. Februar 2010 - VI ZB 58/09, NJW 2010, 1080 mwN).
Diesen Anforderungen genügende Maßnahmen hat der Prozessbevollmächtigte des Nebenklägers nicht vorgetragen. Dies gilt zum einen im Hinblick auf eine zur Verhinderung von Fristüberschreitungen taugliche, generelle Büroorganisation, zum anderen hinsichtlich einer Überwachung der Fristennotierung durch die betreffende Mitarbeiterin. Der allgemeine Hinweis auf insoweit existierende (schriftliche) Anweisungen reicht hingegen nicht aus.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 625
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2016, 214; StV 2016, 736
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede