HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 366
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 294/15, Beschluss v. 16.12.2015, HRRS 2016 Nr. 366
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Siegen vom 9. März 2015 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen in den Fällen II. 4. bis 28. und 31. bis 40. der Urteilsgründe bestehen.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im Übrigen wegen Leistungserschleichung in 25 Fällen, wegen Hausfriedensbruchs in acht Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Sachbeschädigung, sowie wegen Beleidigung und Diebstahl zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich die auf eine Verfahrensbeanstandung und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
Das Landgericht hat die folgenden Feststellungen und Wertungen getroffen:
Der Angeklagte ist Nigerianer. 2002 kam er nach Deutschland. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, jedoch wurde er wegen einer psychotischen Erkrankung nicht abgeschoben. Der Angeklagte leidet spätestens seit 2007 an einer chronischen paranoiden Psychose. Er hört ständig Stimmen, die er auch als Brennen im Körper empfindet, und hat Gedankeneingebungen, dass er mit Vögeln sprechen kann. Der Angeklagte konsumiert auch seit vielen Jahren Alkohol und Marihuana. Er ist nicht krankheitseinsichtig. Er glaubt, sein „Problem“ komme von einer Art Voodoo-Zauber und könne bei einem Aufenthalt in Nigeria behoben werden. Er traut sich aber nicht, nach Nigeria zu reisen, weil er befürchtet, nicht wieder in die Bundesrepublik einreisen zu dürfen. Seit 2011 war der Angeklagte mehrfach stationär untergebracht. Die ihm im Rahmen von Unterbringungen verabreichten Depotmedikamente reichten nicht zur Behandlung der Krankheit. Die Einnahme zusätzlicher Medikamente lehnte der Angeklagte ab. Es besteht eine gesetzliche Betreuung für sämtliche Aufgabenbereiche.
Im Tatzeitraum von November 2013 bis September 2014 nahm der Angeklagte keine Medikamente. Er zerschlug sein Mobiliar, verlor seine Wohnung und wurde in einem Asylbewerberwohnheim untergebracht. Mit den ihm zur Verfügung stehenden Geldmitteln kam er nicht aus. Vermeintliche Zahlungsansprüche versuchte er mittels aggressiven Auftretens durchzusetzen. Ein früherer Arbeitgeber, V., war insolvent geworden und dem Angeklagten möglicherweise etwa 1000 € Lohn schuldig geblieben. Der Angeklagte bedrängte V. massiv, so dass er dem Angeklagten mehrfach kleinere Beträge auszahlte. Der neue Firmeninhaber, M. A., schuldete dem Angeklagten im Februar 2014 den Lohn für den Vormonat.
Das Landgericht hat folgende Taten festgestellt:
Der Angeklagte erschien am 18. Februar 2014 und verlangte vom Firmeninhaber lautstark sein Geld. M. A. konnte wegen Pfändungen nicht zahlen und vertröstete den Angeklagten auf den 20. Februar 2014. Der Angeklagte warf die Möbel im Büro um, drängte M. A. in eine Ecke und schlug ihm mit der Stirn gegen die Nase (Fall II. 1. der Urteilsgründe). M. A. wehrte sich mit einem Faustschlag. Auch am 20. Februar 2014 erhielt der Angeklagte kein Geld. Er erschien deshalb am 21. Februar 2014 erneut und bedrängte den Vorarbeiter R. A., er solle ihm sein Geld zahlen. Es kam zu einem Handgemenge, bei dem der Angeklagte mit dem Kopf gegen die Nase des R. A. schlug, die zu bluten begann und anschwoll (Fall II. 2. der Urteilsgründe). V. versuchte, die beiden zu trennen. Der Angeklagte forderte nun Geld von V. (Fall II. 3. der Urteilsgründe). Er drängte ihn zurück, bis V. stürzte und sich eine Schürfwunde zuzog. Zu einer Zahlung kam es nicht, vielmehr erschien die Polizei. Die drei Geschädigten legen heute keinen Wert mehr auf die Strafverfolgung. Das Landgericht konnte in diesen drei Fällen eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten nicht ausschließen.
Ausgeurteilt sind ferner 25 Fahrten mit Zügen der A. R. GmbH, bei denen der Angeklagte den Fahrpreis nicht entrichtet hatte, und sieben Fahrten, bei denen der Angeklagte die Züge mit Fahrkarte, aber entgegen einem bestehenden Hausverbot benutzt hatte (Fälle II. 4. bis 28. und 32. bis 38. der Urteilsgründe), ferner ein Ladendiebstahl im Markt (Fall II. 31. der Urteilsgründe), die Beleidigung von zwei Mitarbeiterinnen des Marktes (Fall II. 39. der Urteilsgründe), und ein Hausfriedensbruch in Tateinheit mit Sachbeschädigung im Markt (Fall II. 40. der Urteilsgründe). Hinsichtlich zweier Sachbeschädigungen im Asylbewerberwohnheim wurde der Angeklagte wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen (Fälle II. 29. und II. 30. der Urteilsgründe).
Nicht Gegenstand des Verfahrens ist ein Vorfall vom 8. Januar 2015. Der Angeklagte traf in der Bahnhofsunterführung die 20-jährige D. B., die er schon mehrmals vergeblich angesprochen hatte. Er drängte sie gegen die Wand und versuchte, sie auf den Mund zu küssen. Mit einer Hand hielt er sie fest, mit der anderen fasste er ihr fest an die Brüste und in den Intimbereich. Die Frau trat um sich und versuchte, den Angeklagten zu beißen, konnte sich aber nicht befreien. Der Angeklagte ließ sie schließlich gehen.
Das Landgericht ist aufgrund der bestehenden Psychose bei allen Taten von einer sicher bestehenden erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten ausgegangen. Bei den ersten drei Taten sei seine Erregung durch die Zahlungsverweigerung so gesteigert gewesen, dass die Steuerungsfähigkeit möglicherweise aufgehoben gewesen sei. Die Sachbeschädigungen in den Fällen II. 29. und 30. der Urteilsgründe seien psychotisch veranlasst gewesen, um „die Stimmen zur Ruhe zu bringen“, hier habe sicher Schuldunfähigkeit vorgelegen. Die Annahme, dass vom Angeklagten infolge seines Zustands mit einer Wahrscheinlichkeit höheren Grades in Zukunft weitere Körperverletzungs- und Nötigungsdelikte zu erwarten seien, stützt die Strafkammer - dem psychiatrischen Sachverständigen folgend - auf die Taten II. 1.bis 3. der Urteilsgründe und darauf, dass der Angeklagte durch sein Vorgehen gegen die junge Frau in der Bahnhofsunterführung nunmehr eine weitaus höhere Gefährlichkeit gezeigt habe.
1. Der Maßregelausspruch begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen. Die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juli 2013 - 4 StR 275/13, NStZ 2014, 36, 37 mwN). Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrunde liegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. April 2014 - 3 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 243, 244; vom 30. Juli 2014 - 4 StR 183/14, Rn. 5).
a) Das Urteil belegt die Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten bei den jeweiligen Taten nicht hinreichend. Das Gutachten des Sachverständigen, das das Landgericht der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten und der Gefahrenprognose zugrunde gelegt hat, ist nicht nachvollziehbar dargestellt. Nach den Feststellungen leidet der Angeklagte an einer chronischen paranoiden Schizophrenie (ICD 10: F. 20.0), die Halluzinationen werden nach den Ausführungen des Sachverständigen, der den Angeklagten nicht persönlich exploriert hat, von einer Stoffwechselstörung im Gehirn verursacht. Diese Angabe der Krankheitsursache widerspricht den gängigen Darstellungen in der einschlägigen Literatur, wonach bislang ein allgemein akzeptiertes Erklärungsmodell der Erkrankung nicht gefunden werden konnte (vgl. Nedopil/Müller, Forensische Psychiatrie, 4. Aufl., S. 178; Kröber/Dölling/Leygraf/Sass, Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 2 S. 72 f.). Nähere Erläuterungen, welchen Umständen der Sachverständige die Ursache der Erkrankung entnommen hat, enthält das Urteil jedoch nicht.
Die Feststellungen des Urteils zur Ursächlichkeit der Erkrankung des Angeklagten für seine Taten sind teilweise widersprüchlich. Das Landgericht hat zu den Taten II. 29. und 30. festgestellt, dass der Angeklagte die Sachbeschädigungen im Asylbewerberheim begangen habe, weil er sich über Mitbewohner bzw. seinen Betreuer geärgert habe. Nicht ausschließbar habe er aber auch in diesen Fällen versucht, die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen. Bei der rechtlichen Würdigung ist das Landgericht hingegen mit dem Sachverständigen davon überzeugt, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten sicher aufgehoben war, denn diese selbstschädigenden Handlungen seien psychotisch veranlasst gewesen, um die Stimmen zur Ruhe zu bringen. Diese Taten liegen zwar der Unterbringungsanordnung nicht zu Grunde; es ist aber zu besorgen, dass sich eine Zugrundelegung falscher Tatsachen in Einzelfällen möglicherweise auch auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit in den anderen Fällen ausgewirkt haben könnte.
Das Landgericht geht bei den Taten zum Nachteil V. und M. und R. A. (Fälle II. 1. bis 3. der Urteilsgründe) davon aus, dass diesen keine psychotische Motivation zugrunde gelegen habe, aber „aufgrund der krankheitsbedingten Verwahrlosung des Angeklagten, die die moralische Integrität seiner Steuerungsfähigkeit überformt hat“, sicher die Schuldfähigkeit erheblich vermindert gewesen sei. Eine Schuldunfähigkeit sei nicht auszuschließen. Diese Formulierung des Landgerichts lässt nicht erkennen, inwiefern gerade die Erkrankung des Angeklagten zur Tatbegehung beigetragen und sich auf seine Steuerungsfähigkeit bei der Tatbegehung ausgewirkt hat. Die erheblich verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten bei den Leistungserschleichungen, Hausfriedensbrüchen und Diebstählen erklärt das Landgericht desgleichen mit „Verwahrlosungskriminalität als Folge der Erkrankung“. Auch das Verhalten gegenüber Frau B. belege die „krankheitsbedingte Verwahrlosung seiner moralischen Integrität“, hinzukomme, dass der Angeklagte alkoholisiert gewesen sei. Mit diesen Formulierungen ist ein symptomatischer Zusammenhang zwischen der Erkrankung und eine aufgrund der Erkrankung sicher erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bei den Anlasstaten und der Tat zum Nachteil der Frau B. nicht ausreichend dargetan, zumal das Landgericht bei letzterer keine Feststellungen dazu getroffen hat, inwieweit die Alkoholisierung des Angeklagten enthemmend gewirkt haben und für die Tat ursächlich geworden sein könnte und deshalb eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit auf den Alkohol zurückzuführen sein könnte.
b) Auch die Ausführungen zur Gefährlichkeitsprognose werden den oben genannten Anforderungen nicht gerecht. Das Landgericht folgt dem Sachverständigen darin, dass die Kombination von Psychose und Marihuanakonsum Auswirkungen auf die Gewaltbereitschaft des Angeklagten hatte. Cannabis steigere, wie der Sachverständige ausgeführt habe, die Gewaltbereitschaft um das bis zu Siebenfache. Aufgrund der Einnahme der psychotropen Substanz nehme die Funktionsfähigkeit des Gehirns ab. Ein dahingehendes Problembewusstsein habe der Angeklagte nicht entwickelt. Diese Einschätzung entbehrt einer tragfähigen Tatsachengrundlage. Konkrete Feststellungen zu einer Steigerung der Gewaltbereitschaft des Angeklagten aufgrund von Cannabiskonsum hat das Landgericht nicht getroffen. Das Landgericht hat bei keiner der Taten ausdrücklich festgestellt, dass der Angeklagte sie unter dem Einfluss von Cannabis begangen hat. Vielmehr heißt es an anderer Stelle der Urteilsgründe, dass sich der Angeklagte nach dem täglichen Konsum von 2 g Marihuana glücklich fühlte, was mit einer gesteigerten Gewaltbereitschaft nicht ohne weiteres zu vereinbaren ist. Zu berücksichtigen ist zudem, dass der Angeklagte seit vielen Jahren Cannabis konsumiert, sich eine Steigerung seiner Gefährlichkeit nach Auffassung der Strafkammer aber erst durch die Tat in der Bahnhofsunterführung zum Nachteil der Frau B. gezeigt hat. In dieser Tat sieht das Landgericht einen deutlichen Sprung im Ausmaß der Gefährlichkeit des Angeklagten. Bei dieser Tat ist aber kein Cannabiskonsum, sondern eine Alkoholisierung des Angeklagten festgestellt. Inwieweit die Alkoholisierung zum Abbau der Hemmungen zur Begehung schwerwiegender Straftaten beigetragen hat, hat die Strafkammer nicht geprüft.
Die Unterbringungsanordnung bedarf daher einer neuen tatrichterlichen Verhandlung und Entscheidung. Angesichts der besonderen Sachlage wird die Hinzuziehung eines weiteren psychiatrischen Sachverständigen zu erwägen sein.
2. Die Mängel in der Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten führen nicht nur zur Aufhebung des Maßregelausspruchs, sondern auch zur Aufhebung des Freispruchs (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO). Da auch in den Verurteilungsfällen eine Schuldunfähigkeit des Angeklagten letztlich nicht auszuschließen ist, hat der Senat auch diese - mit Ausnahme der rechtsfehlerfreien Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen - aufgehoben.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 366
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede