HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 365
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 266/15, Beschluss v. 04.02.2016, HRRS 2016 Nr. 365
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 13. Februar 2015 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen zu der Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Nach den Feststellungen lebte der Angeklagte zusammen mit seiner Verlobten und dem gemeinsamen am 5. Dezember 2011 geborenen Sohn J. in einer Wohnung. Die Versorgung des Kindes übernahmen arbeitsteilig ausschließlich beide Elternteile. Das Kind wurde öfter misshandelt, so dass es ältere Verletzungen in Form von sichtbaren Prellungen aufwies. Welcher Elternteil dem Kind welche Verletzungen zugefügt hatte, hat nicht festgestellt werden können. Sicher ist jedoch, dass sowohl die Mutter als auch der Angeklagte wussten, dass das Kind Verletzungen durch elterliche Misshandlungen erlitten hatte.
Am Abend des 11. April 2012 erhielten der Angeklagte und seine Verlobte Besuch von einem Bekannten, mit dem sie gemeinsam im Wohnzimmer die Fernsehübertragung eines Fußballspiels anschauten. Gegen 22.30 Uhr wurde das Kind ins Bett gebracht. Nach 23.30 Uhr, als der Angeklagte von der Toilette kommend sich anschickte, das Wohnzimmer wieder zu betreten, machte J. durch Geräusche auf sich aufmerksam, worauf beide Elternteile gemeinsam in das Kinderzimmer gingen, um nach dem Kind zu sehen. Kurz darauf ertönte aus dem Kinderzimmer ein krachendes Geräusch. Die Strafkammer geht zugunsten des Angeklagten davon aus, dass bei dem im Kinderzimmer befindlichen Kinderbett drei der vier Fixierungen des Lattenrostes aus dem Rahmen gebrochen waren, was zur Folge hatte, dass der sich auf die Bettumrandung stützende Angeklagte mit den Händen auf den Kopfbereich von J. stürzte und dies bei dem Kind zu Hämatomen am Kopf, einer Einblutung an der Zunge sowie einer Quetsch-Rissverletzung unter dem Auge führte. Wenige Minuten später, gegen 23.45 Uhr, als beide Elternteile sich noch gemeinsam im Kinderzimmer befanden, wurde das Kind von einem Elternteil für den anderen erkennbar über einen Zeitraum von mindestens fünf bis zehn Sekunden heftig geschüttelt. Die Strafkammer, die nicht hat feststellen können, wer aktiv handelte, geht zugunsten des Angeklagten davon aus, dass das Schütteln durch die Mutter erfolgte. Der Angeklagte erkannte aber zumindest die Verletzungshandlung an dem Kind. Es war ihm bewusst, dass es durch das rohe Schütteln erheblich verletzt werden wird, und er hatte auch die Möglichkeit, durch ein schnelles Eingreifen die Tat zu verhindern. Es kam ihm darauf an, dass das Kind aufhört zu schreien und er selbst wieder seine Ruhe hat.
J. hörte unmittelbar nach dem Schütteln auf zu schreien, er röchelte und es stellten sich Atemaussetzer ein. Die Mutter kam mit dem Kind auf dem Arm in Begleitung des Angeklagten aus dem Kinderzimmer zurück ins Wohnzimmer. Beide Eltern schwiegen und zeigten sich betroffen. Anschließend alarmierte der Bekannte auf Aufforderung des Angeklagten den Notarzt, der das Kind ins Krankenhaus verbrachte. Bei einer am Folgetag durchgeführten rechtsmedizinischen Untersuchung des Kindes wurden neben alten Hämatomen u.a. eine Knochenhautabhebung am rechten Oberarmknochen, ein Kortikalisdefekt an der linken Elle, massive ubiquitäre zirkumskripte Blutungen in der Netzhaut und chronische subdurale Hämatome mit frischen Anteilen festgestellt. Die Verletzungen sind zwischenzeitlich ohne dauerhafte Schädigung ausgeheilt.
Das Landgericht sieht den Tatbestand des § 225 Abs. 1 StGB in der Alternative des rohen Misshandelns durch Unterlassen verwirklicht und stützt die rechtliche Bewertung darauf, dem Angeklagten als Beschützergarant sei aus den Vorverletzungen bekannt gewesen, dass das Kind entweder durch ihn selbst oder die Mutter misshandelt worden sei, wobei ihm aus beiden Varianten eine besondere Fürsorgepflicht erwachsen sei. Zumindest sei dem Angeklagten eine schadensabwendende Intervention gegenüber der Mutter möglich gewesen, weil er sich in unmittelbarer Nähe des Tatgeschehens befunden und es unmittelbar mitbekommen habe.
Die Verurteilung hat keinen Bestand.
Der Tatbestand des § 225 Abs. 1 StGB kann in den Tatalternativen des Quälens und des rohen Misshandelns auch durch Unterlassen verwirklicht werden (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Januar 1991 - 4 StR 560/90, NStZ 1991, 234). Das Landgericht ist daher im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass in Fällen, in denen nicht festgestellt werden kann, wer von beiden Elternteilen die Misshandlung zum Nachteil des gemeinsamen Kindes vornahm, in Anwendung des Zweifelssatzes eine Strafbarkeit wegen Unterlassungstäterschaft in Betracht kommt (vgl. BGH, Urteil vom 3. Juli 2003 - 4 StR 190/03, NStZ 2004, 94; Beschluss vom 21. November 2002 - 4 StR 444/02, FamRZ 2003, 450). Die Erwägungen, mit denen die Strafkammer eine Handlungspflicht des Angeklagten angenommen und die für ihn bestehende Möglichkeit der Erfolgsabwendung bejaht hat, halten indes einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
1. Soweit die Strafkammer die Pflicht des Angeklagten, zum Schutz seines Sohnes tätig zu werden, auf dessen Kenntnis von früheren elterlichen Misshandlungen gestützt hat, hat sie übersehen, dass eine solche Handlungspflicht des Angeklagten nur existierte, falls die früheren Misshandlungen durch die Mutter des Kindes begangen worden waren. In diesem Fall hätte der Angeklagte bereits im Vorfeld der neuerlichen Gewalttat durch die Mutter geeignete Maßnahmen ergreifen müssen, um weitere drohende Übergriffe von dem Kind abzuwenden (vgl. BGH, Urteil vom 3. Juli 2003 - 4 StR 190/03 aaO; Beschluss vom 21. November 2002 - 4 StR 444/02 aaO; Urteil vom 30. März 1995 - 4 StR 768/94, BGHSt 41, 113, 117). Hatte dagegen der Angeklagte selbst die früheren Misshandlungen vorgenommen, bestand für ihn keine Verpflichtung, seinen Sohn vor der Mutter zu schützen, da nach seinem Kenntnisstand von ihr keine Gefahren für das Kind ausgingen (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juli 2002 - 3 StR 64/02). Von welchem Elternteil die dem Tatgeschehen vorausgegangenen Übergriffe zum Nachteil des gemeinsamen Sohnes verübt worden waren, hat das Landgericht aber gerade nicht feststellen können.
2. Auch den Erwägungen, mit denen die Strafkammer die Pflicht und die Möglichkeit der Erfolgsabwendung aus dem konkreten Tatgeschehen abgeleitet hat, begegnen durchgreifende rechtliche Bedenken. Denn für die Feststellung, wonach der Angeklagte die Verletzungshandlung an J. erkannte und die Möglichkeit hatte, die Tat durch schnelles Eingreifen zu verhindern, fehlt im Rahmen der Ausführungen zur Beweiswürdigung jede Begründung, so dass nicht nachvollzogen werden kann, auf welcher Tatsachengrundlage der Tatrichter zu seiner Überzeugung gelangt ist. Dass der Angeklagte das - zu seinen Gunsten angenommen nur fünf Sekunden dauernde - Verletzungsgeschehen unmittelbar mitbekam und noch rechtzeitig hätte eingreifen können, versteht sich auch angesichts des Umstands, dass sich beide Elternteile in dem übersichtlich möblierten Kinderzimmer aufhielten, nicht von selbst, zumal der Aufenthalt ca. 15 Minuten dauerte und es vor dem eigentlichen Tatgeschehen zu der Beschädigung des Kinderbettes kam.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 365
Externe Fundstellen: NStZ 2017, 465; StV 2016, 431
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede