HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 614
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 165/13, Beschluss v. 08.05.2013, HRRS 2013 Nr. 614
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 28. November 2012, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr zu der Freiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision hat mit der Verfahrensrüge Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts steuerte der Angeklagte seinen PKW plötzlich vor den vom Zeugen C. geführten Wagen und zwang diesen zu einer Notbremsung. Er forderte die Nebenklägerin "in einem Ton, der aus seiner Sicht ... keinen Widerspruch duldete", auf, in seinen PKW, in dem auch die frühere Mitangeklagte B. saß, umzusteigen; dem kam die sehr verängstigte Nebenklägerin nach. Während einer Fahrt noch im Stadtgebiet von Hamburg entschlossen sich der Angeklagte und B., die Nebenklägerin gegen deren Willen nach Amsterdam zu verbringen, um ihren Lebensgefährten D. zur Zahlung eines ausstehenden Betrages aus einem Drogengeschäft zu bewegen. In Amsterdam hielt man sich im Haus des niederländischen Staatsangehörigen A. Bo. auf. Bis zu ihrer Befreiung durch die niederländische Polizei "am Morgen des zweiten Tages" zwangen der Angeklagte und B. die Nebenklägerin durch gegen Leib und Leben gerichtete Drohungen dazu, ihren Sohn und eine Freundin zur Beschaffung von insgesamt 7.500 € zu drängen.
2. Die vom Beschwerdeführer zulässig erhobene Aufklärungsrüge gemäß § 244 Abs. 2 StPO greift durch.
a) Folgendes liegt zu Grunde:
Die Staatsanwaltschaft stellte in ihrer Begleitverfügung zur Anklageerhebung das Verfahren ein, soweit es sich gegen A. Bo. gerichtet hatte; sie verneinte insoweit einen hinreichenden Tatverdacht im Sinne des § 170 Abs. 2 Satz 1 StPO. Der in der Anklageschrift als Zeuge aufgeführte Bo. wurde schließlich auf Drängen der Verteidigerin des Angeklagten zur Hauptverhandlung formlos geladen; er erschien jedoch nicht. Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage stimmten die Staatsanwaltschaft, der Nebenklägervertreter, die Verteidiger und die Angeklagten der Verlesung der Niederschrift über die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung Bo. s zu. Der Vorsitzende der Jugendkammer kündigte die spätere Verlesung des Protokolls an; diese unterblieb jedoch, ohne dass den Akten Gründe hierfür zu entnehmen wären.
b) Das verstieß gegen § 244 Abs. 2 StPO.
Das Landgericht hat die Verurteilung des Angeklagten - neben weiteren Beweiserwägungen - auf die für glaubhaft befundene Aussage der Nebenklägerin gestützt. Dies gilt insbesondere, soweit der Angeklagte behauptet hatte, diese sei freiwillig mit nach Amsterdam gefahren und habe sich freiwillig in dem Haus Bo. s aufgehalten. Bei dieser Beweislage gebot es § 244 Abs. 2 StPO, allen erkennbaren und sinnvollen Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts nachzugehen (vgl. BGH, Urteil vom 10. November 1992 - 1 StR 685/92, BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 23; zuletzt BGH, Beschluss vom 19. März 2013 - 5 StR 79/13). Deshalb hätte sich das Landgericht gedrängt sehen müssen, jedenfalls die protokollierte Aussage des damaligen Beschuldigten Bo. im Ermittlungsverfahren gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO (vernehmungsersetzend) zu verlesen. Bo. hatte unmittelbar die näheren Umstände des Aufenthalts der Nebenklägerin seit deren Ankunft in Amsterdam wahrgenommen und hierüber auch detaillierte, die Einlassung des Angeklagten (und der früheren Mitangeklagten) stützende Angaben gemacht.
Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich das Landgericht nicht von der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin überzeugt hätte, wenn es die Angaben Bo. s ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt hätte und dementsprechend das Urteil anders ausgefallen wäre.
3. Da das Verfahren sich nur noch gegen den erwachsenen Angeklagten richtet, verweist der Senat die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurück (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2004 - 4 StR 518/03).
4. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe die erste Variante des § 239a Abs. 1 StGB verwirklicht, auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen durchgreifenden Bedenken begegnet. Nach den Feststellungen auf UA S. 10 fasste der Angeklagte den Entschluss, die Rückzahlung des aus dem Drogengeschäft mit D. ausstehenden Geldbetrages zu erzwingen, erst, nachdem er sich zuvor bereits der Nebenklägerin bemächtigt hatte. Dies könnte lediglich die Voraussetzungen der zweiten Variante des § 239a Abs. 1 StGB erfüllen. In diesem Fall würde freilich die Annahme von Tateinheit mit einem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b StGB Bedenken begegnen. Dessen Voraussetzungen hat das Landgericht allerdings ebenfalls nicht vollständig festgestellt, weil sich aus dem angefochtenen Urteil nicht ergibt, dass der Angeklagte mit Schädigungsvorsatz gehandelt hat (vgl. zu diesem Erfordernis in dem hier gegebenen Fall des sog. Inneneingriffs grundlegend BGH, Urteil vom 20. Februar 2003 - 4 StR 228/02, BGHSt 48, 233).
HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 614
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel