hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 454

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 79/13, Beschluss v. 19.03.2013, HRRS 2013 Nr. 454


BGH 5 StR 79/13 - Beschluss vom 19. März 2013 (LG Berlin)

Erfolgreiche Aufklärungsrüge aufgrund der unterlassenen Vernehmung eines Zeugen (nicht hinreichend gesichertes Beweisergebnis in Fällen sogenannten wiederholten Wiedererkennens).

§ 244 Abs. 2 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 24. Oktober 2012 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

im Schuldspruch zu den Taten II.2. und 3. der Urteilsgründe,

im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen (Taten II.2. und 3. der Urteilsgründe), gefährlicher Körperverletzung (Tat II.1. der Urteilsgründe) sowie wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung (Tat II.4. der Urteilsgründe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Diese hat mit einer Aufklärungsrüge im Umfang der Beschlussformel Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO) und ist im Übrigen im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO unbegründet.

1. Nach den landgerichtlichen Feststellungen zu den Taten II.2. und 3. der Urteilsgründe hielten sich die späteren Tatopfer D. und B. des Nachts - gemeinsam mit den Zeugen L. und P. Bier trinkend - vor einem "Spätkauf" auf. Dort schlug der Angeklagte den ihm unbekannten Geschädigten D. zu Boden, trat ihn mehrmals und nahm dessen Handy an sich. Währenddessen schlug ein unbekannt gebliebener Mittäter aufgrund eines zuvor mit dem Angeklagten gefassten Tatentschlusses den Geschädigten B. ebenfalls nieder. Anschließend traten er und der Angeklagte, der inzwischen "mit dem Zeugen D. ‚fertig' war", gemeinsam gegen den Kopf des am Boden liegenden B., so dass dieser bewusstlos wurde, und nahmen dessen Goldketten an sich. Die entwendeten Gegenstände wollten sie für sich behalten oder verwerten.

Der Angeklagte hat diese Taten bestritten und ein Alibi behauptet. Dieses hat das Landgericht als widerlegt angesehen und sich von der Täterschaft des Angeklagten im Wesentlichen deshalb überzeugt, weil die Zeugen D. und B. ihn in der Hauptverhandlung "zu einhundert Prozent" bzw. "ohne zu zögern" als einen der Täter wiedererkannt hätten. Im Urteil wird nicht mitgeteilt, ob auch der ebenfalls als Zeuge vernommene L. den Angeklagten hat identifizieren können.

2. Die Revision macht mit einer zulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) erhobenen Aufklärungsrüge geltend, das Landgericht hätte den zumindest beim Beginn beider Angriffe am Tatort anwesenden, in der Anklageschrift als Beweismittel bezeichneten P. als Zeugen vernehmen müssen. Dieser hätte anhand näher beschriebener physiognomischer Merkmale bekundet, "dass der Angeklagte ... nicht mit den Tätern identisch war". Die Rüge greift durch und führt zur Aufhebung der Schuldsprüche betreffend die Taten II.2. und 3. der Urteilsgründe nebst den zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO).

a) § 244 Abs. 2 StPO gebietet es, allen erkennbaren und sinnvollen Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts nachzugehen (vgl. BGH, Urteil vom 10. November 1992 - 1 StR 685/92, BGHR StPO § 244 Abs. 6 Beweisantrag 23). Deshalb hätte sich das Landgericht bei der bestehenden Beweislage gedrängt sehen müssen, den Genannten als Zeugen zu vernehmen.

aa) Diese war dadurch geprägt, dass die beiden Geschädigten den Angeklagten in der Hauptverhandlung zwar als einen der Täter identifiziert hatten. Auch im Rahmen ihrer jeweiligen polizeilichen Vernehmung hatten sie den Angeklagten bei einer - im Vergleich zu einer Wahlgegenüberstellung allerdings weniger zuverlässigen - Wahllichtvorlage wiedererkannt. Die Bilder waren ihnen hierbei aber nicht - was wegen des höheren Beweiswertes vorzugswürdig gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 14. April 2011 - 4 StR 501/10, NStZ 2011, 648, 649) - sequentiell, sondern nebeneinander vorgelegt worden. Es handelte sich um lediglich sechs Fotos, während eine Anzahl von acht Vergleichspersonen sachgerecht gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 9. November 2011 - 1 StR 524/11, NStZ 2012, 283, 284). Beiden Zeugen waren zudem dieselben Bilder in identischer Anordnung, der Angeklagte als "Nr. 4", gezeigt worden, und zwar dem Zeugen B. am 14. Dezember 2011 und dem Zeugen D. am 29. Dezember 2011. Dieses Foto des Angeklagten war auch für einen Fahndungsaushang verwendet worden, den der Zeuge B. vor Beginn seiner Vernehmung im polizeilichen Wartebereich wahrgenommen hatte. Die Revision trägt darüber hinaus vor, der Zeuge habe im Rahmen dieser Vernehmung angegeben, er habe den Angeklagten bereits im Vorfeld auf einem in der Zeitung "Lichtenberger Kurier" veröffentlichten Fahndungsfoto wiedererkannt.

Bei diesem Ablauf der Identifizierungsmaßnahmen bestand somit die Möglichkeit, dass beim Zeugen B. die originäre Erinnerung durch das (einzelne) Fahndungsfoto "überschrieben" worden war (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Juli 2009 - 5 StR 235/09, NStZ 2010, 53, 54; s. auch Urteil vom 27. Oktober 2005 - 4 StR 234/05), und es war nicht einmal ausgeschlossen, dass der Zeuge D. mit ihm vor seiner eigenen Einsichtnahme über die zu erwartende Anordnung der Fotos gesprochen, möglicherweise gar auch das Fahndungsfoto gesehen hatte.

bb) Angesichts dessen musste sich dem Landgericht die zeugenschaftliche Vernehmung P. s aufdrängen. Je weniger gesichert ein Beweisergebnis erscheint und je gewichtiger die Unsicherheitsfaktoren sind, desto größer ist der Anlass für das Gericht, trotz der (an sich) erlangten Überzeugung weitere erkennbare Beweismöglichkeiten zu nutzen (vgl. BGH, Urteil vom 5. Dezember 1995 - 1 StR 580/95, StV 1996, 249). Dem steht hier nicht entgegen, dass in der von der Revision vorgetragenen Strafanzeige vermerkt ist, der Zeuge hätte geäußert, ein Wiedererkennen der Täter sei nicht möglich. Denn diese Einschätzung war im Laufe der Ermittlungen nicht überprüft worden. Sie lässt im Übrigen die Möglichkeit offen, dass er den Angeklagten als Täter ausschließen kann.

b) Danach erscheint es dem Senat als möglich, dass das Landgericht hinsichtlich der Taten II.2. und 3. der Urteilsgründe zu einer anderen Beweiswürdigung gelangt wäre, hätte es den Zeugen P. zum Tatgeschehen gehört und dessen Angaben in seine Gesamtbetrachtung einbezogen.

3. Der dadurch bedingte Wegfall der Einsatzstrafe (drei Jahre Freiheitsstrafe für die Tat II.3. der Urteilsgründe) sowie der für die Tat zu II.2. der Urteilsgründe festgesetzten Einzelstrafe zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.

Die für die Taten II.1. und 4. der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen haben dagegen Bestand; der Senat schließt aus, dass deren Zumessung durch die aufgehobenen Fälle zum Nachteil des Angeklagten beeinflusst worden ist.

4. Für die neu zu treffende Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Das Tatgericht muss in Fällen sogenannten wiederholten Wiedererkennens in den Urteilsgründen darlegen, dass es sich des eventuell verringerten Beweiswerts bewusst gewesen ist (s. schon BGH, Urteil vom 28. Juni 1961 - 2 StR 194/61, BGHSt 16, 204, 206). Dabei wird vorliegend das Augenmerk auch auf die im angefochtenen Urteil nicht erörterte Frage zu legen sein, ob schon das Wiedererkennen des Angeklagten seitens des Zeugen B. bei der polizeilichen Wahllichtbildvorlage durch das vorherige Betrachten des in der Zeitung und auf dem Fahndungsaushang veröffentlichten Fotos beeinflusst worden sein könnte. In diesem Zusammenhang wird gegebenenfalls auch darzustellen sein, wie sich der Zeuge L. zum Wiedererkennen des Angeklagten geäußert hat.

b) § 249 StGB setzt einen finalen Zusammenhang zwischen dem eingesetzten Nötigungsmittel und der Wegnahme voraus (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juni 2001 - 3 StR 176/01). Hierfür genügt die bloße Feststellung, ein Täter habe das Opfer geschlagen oder getreten, "um ihm Schmerzen zuzufügen" (UA S. 11), nicht.

HRRS-Nummer: HRRS 2013 Nr. 454

Externe Fundstellen: NStZ 2013, 725

Bearbeiter: Christian Becker