HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1360
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 260/24, Beschluss v. 24.07.2024, HRRS 2024 Nr. 1360
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aurich vom 12. März 2024 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in jeweils nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt. Die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat es abgelehnt. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat auf die Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die unausgeführt gebliebene Verfahrensrüge ist nicht in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Weise erhoben worden und damit unzulässig.
2. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat zum Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Hingegen hat die Ablehnung der Maßregelanordnung keinen Bestand, weil das vom Landgericht angenommene Fehlen einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht im Sinne des § 64 Satz 2 StGB nicht tragfähig begründet ist.
a) Das Landgericht hat - sachverständig beraten - seine diesbezügliche Entscheidung ausschließlich damit begründet, dass der seit Jahren drogenabhängige Angeklagte sich nicht im Maßregelvollzug behandeln lassen wolle, was er bereits im Explorationsgespräch deutlich gemacht und in der Hauptverhandlung bekräftigt habe. Ihm fehle aber nicht jedwede Therapiemotivation. Vielmehr wolle er sich im Rahmen einer dem Vollstreckungsverfahren vorbehaltenen Maßnahme nach § 35 BtMG behandeln lassen. Bei früheren Therapieversuchen sei er „noch nicht bereit“ gewesen. Die Unterbringung nach § 64 StGB lehne er jedenfalls angesichts der „negativen“ Erfahrungsberichte seines Onkels und aus Angst vor einer gemeinsamen Behandlung mit Sexualtätern ausdrücklich ab.
b) Dies ist rechtsfehlerhaft. Ob der Schluss des Landgerichts von einem Mangel an Therapiebereitschaft auf das Fehlen einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht der Behandlung gerechtfertigt ist, lässt sich nur auf Grund einer - hier nicht vorgenommenen - Gesamtwürdigung beurteilen. Ein bloßer Hinweis auf das aktuell nicht vorhandene Einverständnis mit einer Unterbringung im Maßregelvollzug genügt jedenfalls den Anforderungen an die Begründung der Prognose nicht.
Die Strafkammer hätte sich deshalb bei der Prüfung der Erfolgsaussicht einer Behandlung in einer Entziehungsanstalt nicht mit dem alleinigen Verweis auf die ablehnende Haltung des Angeklagten begnügen dürfen. Zwar kann eine mangelnde Therapiebereitschaft gegen eine Unterbringung nach § 64 StGB sprechen. Doch ist in solchen Fällen im Rahmen einer Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller sonstigen maßgeblichen Umstände der Grund des Motivationsmangels zu prüfen, ob eine Behandlungseinsicht für eine erfolgversprechende Therapie geweckt werden kann; denn auch darin kann das Ziel einer Behandlung im Maßregelvollzug bestehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. Februar 2018 - 3 StR 549/17, juris Rn. 12 mwN; vom 17. Januar 2024 - 5 StR 509/23, StV 2024, 436 Rn. 5). Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB hat vor diesem Hintergrund Vorrang vor der Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 19. Juni 2012 - 3 StR 201/12, juris Rn. 4; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 64 Rn. 26 mwN).
c) An diesen Maßstäben hat sich durch die seit dem 1. Oktober 2023 (BGBl. I Nr. 203) geltende Neufassung des § 64 Satz 2 StGB grundsätzlich nichts geändert. Zwar hat der Gesetzgeber durch die Neuregelung eine restriktivere Anwendungspraxis bezweckt, die gewährleistet, dass die Kapazitäten des Maßregelvollzugs zielgerichteter genutzt werden. Jedoch soll nach seinem Willen die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt weiterhin in solchen Fällen möglich sein, in denen das Erreichen des Unterbringungsziels aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten ist, wofür eine durch Tatsachen begründete „Wahrscheinlichkeit höheren Grades“ gefordert wird. Der Gesetzgeber hat dabei die Feststellung der hinreichend konkreten Erfolgsaussicht bewusst von erhöhten prognostischen Anforderungen abhängig gemacht. Somit ist bei der Abwägung aller prognoserelevanten Umstände das Gewicht ungünstiger Risikofaktoren wie der negativen Einstellung des Betroffenen zu der Maßregel erhöht. Die Erfolglosigkeit kann danach etwa fehlen, wenn der Angeklagte eine Behandlung nachdrücklich ablehnt und „nicht zu erwarten steht, dass er sich im Maßregelvollzug nach einer gewissen Anpassungszeit der Notwendigkeit der Behandlung öffnen und an ihr mitwirken wird“ (vgl. BT-Drucks. 20/5913, S. 48 f., 70).
Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass trotz des geänderten Prognosemaßstabs bei nicht therapiebereiten Betroffenen weiterhin von Bedeutung ist, ob eine Behandlungseinsicht geweckt werden kann. Zudem folgt daraus, dass sich das Vorrangverhältnis des § 64 StGB zu einer Maßnahme im Rahmen der Zurückstellung der Vollstreckung nach § 35 BtMG nicht geändert hat. Vielmehr ist auch weiterhin bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht eine auf Tatsachen gestützte Gesamtwürdigung der Täterpersönlichkeit und aller weiteren prognoserelevanten Umstände notwendig. Lehnt ein Angeklagter die Therapie im Rahmen einer Unterbringung ab, so ist daher für die zu treffende Anordnungsentscheidung im Urteil darzulegen, ob und gegebenenfalls Instrumente im Maßregelvollzug zur Verfügung stehen, mit denen diese Haltung überwunden und eine Therapiemotivation geweckt werden kann. Ein „Wahlrecht“ des Angeklagten zwischen einer Maßnahme nach § 35 BtMG und einer Therapie im Rahmen des § 64 StGB besteht nicht (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 5. April 2016 - 3 StR 554/15, NStZ-RR 2016, 209, 210; vom 29. September 2020 - 3 StR 195/20, juris Rn. 5).
d) Über die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt muss nach alldem neu verhandelt und entschieden werden.
Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht auch nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1360
Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede