HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 896
Bearbeiter: Fabian Afshar
Zitiervorschlag: BGH, 3 ZA 1/21, Beschluss v. 17.05.2023, HRRS 2023 Nr. 896
Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für eine Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Münster vom 15. Juli 2021 wird abgelehnt.
Das Amtsgericht Münster hat mit Beschluss vom 29. April 2021 (106 II 8/21) - nach vorangegangenen Beschlüssen vom 6. August 2020, 6. November 2020 und 3. Februar 2021 - gemäß § 34c Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) für die Dauer von drei Monaten angeordnet, dass der Betroffene ein technisches Mittel, mit dem sein Aufenthaltsort elektronisch überwacht werden kann, ständig im betriebsbereiten Zustand am Körper zu tragen, die Anlegung und Wartung des technischen Mittels zu dulden und seine Funktionsfähigkeit nicht zu beeinträchtigen hat (elektronische Aufenthaltsüberwachung). Seine hiergegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht Münster mit Beschluss vom 15. Juli 2021 (05 T 344/21) zurückgewiesen. Eine Entscheidung über die Zulassung der Rechtsbeschwerde hat es hierbei nicht getroffen, allerdings in einer Rechtsmittelbelehrung ausgeführt, gegen den Beschluss sei gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG die Rechtsbeschwerde statthaft.
Der Betroffene beabsichtigt die Erhebung einer Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof mit dem Ziel einer Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anordnung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung. Unter dem 19. August 2021 hat er beim Bundesgerichtshof beantragt, ihm für das beabsichtigte Rechtsbeschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen und einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt beizuordnen.
1. Der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts gemäß § 76 ff. FamFG ist zulässig. Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass der Betroffene bisher nicht durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt vertreten ist. Zwar besteht nach § 10 Abs. 4 Satz 1 FamFG vor dem Bundesgerichtshof grundsätzlich die Pflicht zur Vertretung durch einen solchen. Die genannte Vorschrift nimmt hiervon indes das Verfahren über die Verfahrenskostenhilfe nach §§ 76 ff. FamFG ausdrücklich aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. Mai 2021 - 3 ZB 1/21, juris Rn. 4; vom 21. April 2021 - 3 ZB 4/20, juris Rn. 2).
2. Der Antrag dringt jedoch in der Sache nicht durch. Denn die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO), weil eine Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof nach § 70 FamFG nicht statthaft und damit unzulässig wäre.
a) Unerheblich ist insofern allerdings, dass die Rechtsbeschwerde bislang nicht erhoben worden und damit die Einlegungsfrist des § 71 Abs. 1 Satz 1 FamFG nicht gewahrt worden ist. Denn bei Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe käme eine Wiedereinsetzung in die Rechtsbeschwerdefrist in Betracht. Ein Beteiligter, der Rechtsmittel einlegen will, die Kosten der Verfahrensführung aber nicht oder nur in Raten aufbringen kann, hat grundsätzlich Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn er - wie hier - rechtzeitig bis Ablauf der Rechtsmittelfrist einen Antrag auf Verfahrenskostenhilfe und eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eingereicht hat (vgl. BGH, Beschluss vom 21. April 2021 - 3 ZB 4/20, juris Rn. 6 mwN).
b) Indes wäre eine Rechtsbeschwerde mangels Zulassung nicht statthaft.
aa) Der Gesetzgeber des Landes Nordrhein-Westfalen hat - als eine nach § 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO statthafte abdrängende Rechtswegzuweisung - die Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung durch § 34c Abs. 6 Satz 1 PolG NRW dem Amtsgericht übertragen. Zugleich hat er in § 34c Abs. 6 Satz 2 PolG NRW in seiner ihm als Ausfluss der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit für das gerichtliche Verfahren (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) zukommenden Regelungskompetenz dieses dadurch bestimmt, dass er die entsprechende Geltung der Vorschriften des 7. Buches des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) angeordnet hat. Damit ist wegen des fragmentarischen Charakters der Regelungen im 7. Buch des FamFG, die ihrerseits eine Geltung des Allgemeinen Teils des FamFG (1. Buch) voraussetzen, zugleich implizit auch die entsprechende Geltung der Vorschriften des 1. Buches des FamFG angeordnet worden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. September 2021 - 3 ZB 2/20, NStZ-RR 2022, 23; vom 11. August 2021 - 3 ZB 2/21, juris Rn. 9; vom 4. Mai 2021 - 3 ZB 1/21, juris Rn. 9 mwN; vom 17. Dezember 2020 - 3 ZB 7/19, NStZ-RR 2021, 226, 227; vom 12. Februar 2020 - StB 36/18, NStZ-RR 2020, 230, 231). Anders als vergleichbare Vorschriften der Polizeigesetze anderer Bundesländer beschränkt § 34c Abs. 6 Satz 2 PolG NRW die Geltung der Regelungen des 1. Buches des FamFG nicht auf einzelne dort enthaltene Vorschriften und nimmt insbesondere die Bestimmungen über die Rechtsbeschwerde (§§ 70 ff. FamFG) nicht von der Verweisung aus. Mithin können Beschwerdeentscheidungen gegen Beschlüsse des Amtsgerichts in Verfahren über die Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung nach § 34c PolG NRW - unabhängig davon, ob das nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG zuständige Oberlandesgericht (vgl. BGH, Beschluss vom 22. September 2021 - 3 ZB 2/20, NStZ-RR 2022, 23 mwN) oder, wie vorliegend, ein Landgericht (§ 72 Abs. 1 Satz 2 GVG) in der Beschwerdeinstanz entschieden hat - grundsätzlich mit der Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof nach § 70 FamFG angefochten werden (vgl. BGH, Beschluss vom 22. September 2021 - 3 ZB 2/20, NStZ-RR 2022, 23). Die damit verbundene Zuweisung einer Entscheidung über die Anwendung von Landesrecht an den Bundesgerichtshof als Organ des Bundes durch den Landesgesetzgeber ist durch Art. 99 Halbsatz 2 GG gestattet.
bb) Gemäß § 70 Abs. 1 und 2 FamFG ist die Rechtsbeschwerde jedoch grundsätzlich nur statthaft, wenn das Beschwerdegericht sie (ausdrücklich) in der Beschwerdeentscheidung zugelassen hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Juli 2022 - 3 ZB 5/21, juris Rn. 9; vom 22. Februar 2022 - 3 ZB 3/21, NStZ-RR 2022, 187, 188; vom 22. September 2021 - 3 ZB 2/20, NStZ-RR 2022, 23). Dies ist in dem Beschluss des Landgerichts Münster vom 15. Juli 2021 allerdings nicht geschehen. Weder die Beschlussformel noch die Entscheidungsgründe verhalten sich zur Frage der Zulassung einer Rechtsbeschwerde. Zwar hat das Landgericht Münster seinem Beschluss vom 15. Juli 2021 eine Rechtsmittelbelehrung dahin angefügt, die Entscheidung sei gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG mit der Rechtsbeschwerde anfechtbar. Diese unzutreffende Rechtsauskunft kann jedoch weder als implizite Zulassung der Rechtsbeschwerde gewertet werden noch begründet sie einen Anspruch des Betroffenen dahin, über das geltende Recht hinaus eine Rechtsbeschwerde erheben zu dürfen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. September 2021 - 3 ZB 2/20, NStZ-RR 2022, 23, 24 mwN; vom 29. April 2018 - StB 5/18, NStZ-RR 2018, 262, 263).
Damit wäre eine Rechtsbeschwerde unzulässig. An die unterbliebene Rechtsbeschwerdezulassung ist der Senat gebunden, und zwar ungeachtet der Frage, ob die Voraussetzungen für eine Zulassung nach § 70 Abs. 2 Satz 1 FamFG vorgelegen haben. Das FamFG kennt auch keine Nichtzulassungsbeschwerde.
c) Eine Rechtsbeschwerde wäre vorliegend nicht (ausnahmsweise) gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG statthaft. Nach dieser Vorschrift sind in Freiheitsentziehungssachen Rechtsbeschwerden gegen Beschlüsse des Beschwerdegerichts auch ohne Zulassung statthaft. Die hier inmitten stehende Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung („elektronische Fußfessel“) stellt jedoch keine Freiheitsentziehung dar (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. Juli 2022 - 3 ZB 5/21, juris Rn. 12; vom 22. Februar 2022 - 3 ZB 3/21, NStZ-RR 2022, 187, 188 f.; vom 22. September 2021 - 3 ZB 2/20, NStZ-RR 2022, 23 f.; s. auch BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 916/11 u.a., BVerfGE 156, 63 Rn. 222, 320 f. mwN). Eine solche setzt, wie sich aus § 415 Abs. 2 FamFG ergibt, voraus, dass betreffende Person gegen ihren Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit an einem eng begrenzten Ort festgehalten wird, etwa in einem Gewahrsamsraum oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses. Eine elektronische Aufenthaltsüberwachung als solche hindert den Betroffenen indes nicht daran, seinen Aufenthaltsort zu verlassen und sich frei zu bewegen (vgl. BGH, Beschluss vom 22. September 2021 - 3 ZB 2/20, NStZ-RR 2022, 23 f.).
Die elektronische Aufenthaltsüberwachung gemäß § 34c PolG NRW ist schließlich nicht etwa deshalb unabhängig von dem allgemeinen und in § 415 Abs. 2 FamFG normierten materiellen Begriffsverständnis für die Frage der Zulassungsfreiheit einer Rechtsbeschwerde formell als Freiheitsentziehung (im Sinne des § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG) zu qualifizieren, weil der nordrheinwestfälische Landesgesetzgeber in § 34c Abs. 6 Satz 2 FamFG für das gerichtliche Verfahren pauschal die entsprechende Geltung der Vorschriften des 7. Buches des FamFG angeordnet hat, die sich auf Freiheitsentziehungssachen und damit gemäß § 415 Abs. 1 FamFG auf nach Bundesrecht angeordnete Freiheitsentziehungen beziehen. Durch den Verweis des § 34c Abs. 6 Satz 2 FamFG werden vielmehr allein allgemein die Verfahrensvorschriften des 7. Buches des FamFG sowie implizit diejenigen des 1. Buches des FamFG für anwendbar erklärt. Es wird jedoch nicht angeordnet, dass die elektronische Aufenthaltsüberwachung im Anwendungsbereich der in Bezug genommenen Vorschriften des FamFG als Freiheitsentziehung gelten soll (vgl. BGH, Beschluss vom 22. September 2021 - 3 ZB 2/20, NStZ-RR 2022, 23 f.).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 896
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