HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 934
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 195/21, Beschluss v. 27.07.2021, HRRS 2021 Nr. 934
Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Krefeld vom 22. Januar 2021 wird
das Verfahren in den Fällen B. II. 6 und B. II. 8 der Urteilsgründe eingestellt; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last;
das vorgenannte Urteil
im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in fünf Fällen schuldig ist,
im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und Beischlaf unter Verwandten, sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in sechs Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Beischlaf unter Verwandten, und Beischlafs unter Verwandten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt; im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision gegen seine Verurteilung. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
1. Soweit das Landgericht den Angeklagten in den Fällen B. II. 6 und B. II. 8 der Urteilsgründe - wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen und Beischlafs unter Verwandten - verurteilt hat, fehlt es an der Verfahrensvoraussetzung einer Anklageerhebung und demzufolge an der eines Eröffnungsbeschlusses, so dass das Verfahren entsprechend § 354 Abs. 1, § 206a Abs. 1 StPO einzustellen ist.
a) Dem Angeklagten waren mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage für den Tatzeitraum ab dem 16. November 2004 sexuelle Übergriffe zur Last gelegt worden, die bis zum 31. Juli 2011 in einer Wohnung in B. und ab August 2011 in einer Wohnung in E. stattgefunden haben sollen. Der Angeklagte habe die Geschädigte jeweils in das Bad der Wohnungen geführt und den Oral- sowie Vaginalverkehr, teils auch den Analverkehr vollzogen.
b) Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen wies der Angeklagte die Geschädigte im Fall B. II. 6 der Urteilsgründe an, seinen Penis zu manipulieren, als er auf einer Matratze im Flur des Wohnhauses in B. nächtigte. Im Fall B. II. 8 vollzog er im November oder Dezember 2016 in dem von ihm genutzten Zimmer in der Wohnung der Geschädigten in Ef. mit dieser den vaginalen Geschlechtsverkehr.
c) Diese Geschehen weichen so deutlich von den in der Anklageschrift geschilderten Vorgängen ab, dass sie sich nicht mehr als die von der Anklage bezeichneten Taten im Sinne von § 264 Abs. 1 StPO darstellen.
Nur diese sind Gegenstand der Urteilsfindung. Zwar hat das Gericht die angeklagten Taten im verfahrensrechtlichen Sinne erschöpfend abzuurteilen; hierzu gehört das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang darstellt. In diesem Rahmen muss das Tatgericht seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden. Diese Umgestaltung der Strafklage darf aber nicht dazu führen, dass die Identität der von der Anklage umfassten Tat nicht mehr gewahrt ist, weil das ihr zugrundeliegende Geschehen durch ein anderes ersetzt wird (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2020 - 3 StR 391/20, juris Rn. 7 mwN). Bei Serienstraftaten können der Ort und die Zeit des Vorgangs, das Täterverhalten, die ihm innewohnende Richtung, also die Art und Weise der Tatverwirklichung, und das Opfer die Vielzahl der Fälle ausreichend konkretisieren, sodass nicht nur die Umgrenzungsfunktion gewahrt ist, sondern auch die Übereinstimmung von angeklagtem und ausgeurteiltem Sachverhalt überprüft werden kann (BGH, Beschluss vom 25. April 2019 - 1 StR 665/18, NStZ 2020, 308 Rn. 5 mwN).
Hieran gemessen unterfallen die Feststellungen zu den Fällen B. II. 6 und B. II. 8 nicht dem angeklagten Tatgeschehen. Nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles unterscheiden sie sich derart deutlich, dass es an der Nämlichkeit der Taten fehlt. Im Fall B. II. 6 differieren - im Unterschied zu den anderen Taten, die im selben Tatzeitraum und im selben Haus begangen wurden - sowohl die Tatmodalitäten als auch der Tatort. Während laut Anklagevorwurf die Taten jeweils im Badezimmer stattfanden und eine Penetration durch den Angeklagten zum Gegenstand hatten, beziehen sich die Feststellungen auf eine Manipulation am Angeklagten im Flur des Hauses. Insgesamt handelt es sich dabei nicht allein um kleinere, die Tatidentität noch wahrende, sondern in der Zusammenschau um erhebliche Abweichungen. Im Fall B. II. 8 fand die im Urteil geschilderte Tat weder in einer der in der Anklage genannten Wohnungen noch im Badezimmer statt. Nach den weiteren Umständen lässt sich eine Tatidentität ebenfalls nicht begründen, zumal die Tatserie laut Anklageschrift im November 2016 endete, die Tat indes „im November oder Dezember 2016" begangen wurde.
d) Die Einstellung des Verfahrens in den beiden Fällen führt zur entsprechenden Anpassung des Schuldspruchs und zum Wegfall der insoweit verhängten Einzelstrafen.
2. Im Übrigen ist der Schuldspruch insoweit zu ändern, als die tateinheitliche Verurteilung in den Fällen B. II. 1 und B. II. 7 wegen Beischlafs unter Verwandten zu entfallen hat. Die Strafverfolgung wegen dieses Deliktes ist im Unterschied zu den in Tateinheit damit stehenden Gesetzesverletzungen verjährt.
Die Taten B. II. 1 und B. II. 7 wurden im Sommer 2004, nicht ausschließbar bereits im März 2004, beziehungsweise im Zeitraum vom 16. November 2004 bis zum 15. November 2006 begangen. Die - für den jeweiligen Straftatbestand zu prüfende (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Oktober 2003 - 3 StR 383/03, juris Rn. 2 mwN) - Verjährungsfrist beträgt bei Beischlaf unter Verwandten gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4, § 173 Abs. 1 StGB fünf Jahre. Anders als bei verschiedenen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ruht diese Frist nicht nach § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB bis zu einem bestimmten Alter des Opfers.
3. Die für die Fälle B. II. 1 und B. II. 7 festgesetzten Einzelstrafen haben trotz der Schuldspruchänderung Bestand. Es ist auszuschließen, dass das Landgericht auf geringere Strafen erkannt hätte. Es hat die Strafen den Strafrahmen des § 176a Abs. 1 und des § 174 Abs. 1 StGB entnommen und neben der Verwirklichung des Beischlafs unter Verwandten mehrere weitere gewichtige Gesichtspunkte strafschärfend herangezogen. Zudem können bei der Strafbemessung verjährte tateinheitlich verwirklichte Gesetzesverletzungen mit dem ihnen zukommenden Gewicht weiter berücksichtigt werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. August 2020 - 4 StR 588/19, StV 2021, 254 Rn. 3 mwN; vom 13. Januar 2009 - 3 StR 543/08, juris Rn. 2).
Soweit die Strafkammer Einzelfreiheitsstrafen für die Tat B. II. 5 von einem Jahr und acht Monaten sowie für die Tat B. II. 4 von einem Jahr bestimmt hat, handelt es sich um ein evidentes Fassungsversehen. Ersichtlich sollte für die Tat B. II. 4 auf die höhere Strafe von einem Jahr und acht Monaten erkannt werden, da das Landgericht hierzu besondere sich aus dem Oralverkehr ergebende Strafschärfungsgründe herangezogen hat. Zudem hat es erwogen, dass die Handlungen „bei den Taten zu B.II.3, B.II.5. und B.II.6. von geringerer Intensität waren als bei den übrigen Taten“, und bei den Taten B. II. 3 und B. II. 6 jeweils eine Freiheitsstrafe von einem Jahr festgesetzt. Angesichts der auch sonstigen Vergleichbarkeit mit diesen Taten steht nach dem Zusammenhang der Urteilsgründe außer Frage, dass die Einzelstrafe für die Tat B. II. 5 den für jene Taten bemessenen Strafen entsprechen sollte.
4. Die Einstellung des Verfahrens in zwei Fällen hat die Aufhebung der Gesamtstrafe zur Folge, da hier nicht völlig auszuschließen ist, dass die Strafkammer ohne die beiden wegfallenden Einzelstrafen eine geringere Gesamtstrafe ausgesprochen hätte. Die zugehörigen Feststellungen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen; sie können deshalb bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende, den bisherigen nicht widersprechende Feststellungen sind möglich.
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 934
Bearbeiter: Christian Becker