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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 160

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 391/20, Beschluss v. 17.12.2020, HRRS 2021 Nr. 160


BGH 3 StR 391/20 - Beschluss vom 17. Dezember 2020 (LG Krefeld)

Prozessuale Tat (erschöpfende Aburteilung; Identität; einheitlicher Vorgang; Bekanntwerden in der Hauptverhandlung).

§ 264 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Gegenstand der Urteilsfindung ist nur die in der Anklage bezeichnete Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO. Allerdings hat das Gericht die angeklagte Tat im verfahrensrechtlichen Sinne erschöpfend abzuurteilen; zur Tat in diesem Sinne gehört das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang darstellt. In diesem Rahmen muss das Tatgericht seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden. Diese Umgestaltung der Strafklage darf aber nicht dazu führen, dass die Identität der von der Anklage umfassten Tat nicht mehr gewahrt ist, weil das ihr zugrundeliegende Geschehen durch ein anderes ersetzt wird.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Krefeld vom 29. April 2020 wird

das Verfahren eingestellt, soweit der Angeklagte in Fall B. I. 7. der Urteilsgründe verurteilt worden ist; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last;

das vorbezeichnete Urteil im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen und des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen schuldig ist.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Der Angeklagte hat die verbleibenden Kosten seines Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen wendet sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Soweit das Landgericht den Angeklagten in Fall B. I. 7. der Urteilsgründe verurteilt hat, fehlt es an der Verfahrensvoraussetzung einer Anklageerhebung und demzufolge auch an der eines Eröffnungsbeschlusses, so dass das Verfahren gemäß § 354 Abs. 1, § 206a Abs. 1 StPO einzustellen ist.

a) Mit der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage war dem Angeklagten zur Last gelegt worden, an einem nicht mehr genau feststellbaren Tag etwa im September 2018 auf der Couch im Wohnzimmer mit der Nebenklägerin den Oralverkehr ausgeübt zu haben, und zwar in der Weise, dass er sie veranlasste, seinen Penis in den Mund zu nehmen.

b) Nach den Feststellungen des Landgerichts zu Fall B. I. 7. der Urteilsgründe führte der Angeklagte in dem genannten Zeitraum an dem besagten Ort indessen seine Hand in die Unterhose der Nebenklägerin, legte seine Finger an deren Scheide und bewegte diese hin und her.

Eine Nachtragsanklage, die diese Begehungsweise zum Gegenstand hatte, ist nicht erhoben worden.

c) Die auf die vorgenannten Feststellungen gestützte Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen hat keinen Bestand; das Verfahren ist insoweit einzustellen. Das von der Strafkammer festgestellte Geschehen weicht so deutlich von dem in der Anklageschrift geschilderten Vorgang ab, dass es sich nicht mehr als die von der Anklage bezeichnete Tat im Sinne von § 264 Abs. 1 StPO darstellt. Hierzu gilt:

Gegenstand der Urteilsfindung ist nur die in der Anklage bezeichnete Tat im Sinne des § 264 Abs. 1 StPO. Allerdings hat das Gericht die angeklagte Tat im verfahrensrechtlichen Sinne erschöpfend abzuurteilen; zur Tat in diesem Sinne gehört das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorkommnis nach der Lebensauffassung einen einheitlichen Vorgang darstellt. In diesem Rahmen muss das Tatgericht seine Untersuchung auch auf Teile der Tat erstrecken, die erst in der Hauptverhandlung bekannt werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 20. November 2014 - 4 StR 153/14, juris Rn. 5; Beschlüsse vom 18. Oktober 2016 - 3 StR 186/16, StraFo 2017, 26; vom 27. November 2011 - 3 StR 255/11, NStZ 2012, 168 Rn. 6; vom 10. November 2008 - 3 StR 433/08, NStZ-RR 2009, 146, 147). Diese Umgestaltung der Strafklage darf aber nicht dazu führen, dass die Identität der von der Anklage umfassten Tat nicht mehr gewahrt ist, weil das ihr zugrundeliegende Geschehen durch ein anderes ersetzt wird (BGH, Urteil vom 30. Oktober 2008 - 3 StR 375/08, juris Rn. 8).

So verhält es sich hier: In Fall B. I. 7. der Urteilsgründe weichen die Feststellungen der Strafkammer hinsichtlich der Modalitäten der Tatbegehung so erheblich vom Anklagevorwurf ab, dass mit ihnen eine andere als die angeklagte Tat beschrieben ist. Nach dem dargelegten, der Anklageerhebung zugrundeliegenden Ermittlungsergebnis war die Nebenklägerin über zwei Jahre hinweg zu jeweils nur ungefähr benannten Zeitpunkten Opfer einer größeren Anzahl verschiedenartiger sexueller Übergriffe des Angeklagten an verschiedenen Tatorten, so dass gerade der konkret beschriebenen Art und Weise der Tatverwirklichung - die hier nicht nur umgestaltet, sondern ersetzt worden ist - erhebliche Bedeutung zukam. Mangels Erhebung einer Nachtragsanklage war eine Aburteilung des Falles B. I. 7. der Urteilsgründe demnach nicht möglich. An dem Fehlen hinreichender Tatindividualisierung vermag auch die Erteilung eines diesbezüglichen Hinweises nach § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO in der Hauptverhandlung nichts zu ändern (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juli 2014 - 4 StR 230/14, juris Rn. 8; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 265 Rn. 23, jeweils mwN).

2. Die auf die erhobene Sachrüge veranlasste umfassende materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat im verbleibenden Umfang keinen Rechtsfehler zu Ungunsten des Angeklagten ergeben. Der durch die vorgenommene Teileinstellung des Verfahrens bedingte Wegfall der Einzelstrafe in Fall B. I. 7. der Urteilsgründe lässt den Strafausspruch gegen den Angeklagten im Übrigen unberührt. Angesichts der nach der Teileinstellung bestehenbleibenden Einzelstrafen von zweimal drei Jahren, einmal einem Jahr und neun Monaten sowie dreimal einem Jahr und sechs Monaten ist auszuschließen, dass das Landgericht ohne die weggefallene Strafe auf eine niedrigere Gesamtfreiheitsstrafe als vier Jahre und sechs Monate erkannt hätte.

3. Die Entscheidung über die verbleibenden Kosten beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 160

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 148

Bearbeiter: Christian Becker