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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1234

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 352/20, Beschluss v. 25.08.2021, HRRS 2021 Nr. 1234


BGH 3 StR 352/20 - Beschluss vom 25. August 2021 (LG Düsseldorf)

Prüfung der Gefährlichkeit bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung (keine täterbelastende Berücksichtigung von zulässigem Verteidigungsverhalten; Leugnen der Tat); Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang; lediglich indizielle Bedeutung von erheblichen Beeinträchtigungen von Gesundheit, Arbeits- und/oder Leistungsfähigkeit)

§ 64 StGB; § 66 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Bei der Prüfung der Gefährlichkeit des Angeklagten im Sinne des § 66 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB darf zulässiges Verteidigungsverhalten weder hangbegründend noch als Anknüpfungspunkt für die Gefährlichkeit eines Angeklagten verwertet werden. Wenn der Angeklagte die Taten leugnet, bagatellisiert oder einem anderen die Schuld an der Tat zuschiebt, ist dies grundsätzlich zulässiges Verteidigungsverhalten. Die Zulässigkeitsgrenze ist erst erreicht, wenn sich das Leugnen, Verharmlosen oder die Belastung des Opfers als Ausdruck besonders verwerflicher Einstellung des Täters darstellt, etwa weil die Falschbelastung mit einer Verleumdung oder Herabwürdigung oder der Verdächtigung einer besonders verwerflichen Handlung einhergeht.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 7. Mai 2020

im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte im Fall II. 1. der Urteilsgründe des schweren sexuellen Missbrauchs einer widerstandsunfähigen Person in Tateinheit mit Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen schuldig ist;

im Maßregelausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit das Landgericht

die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet und

von dessen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt abgesehen hat.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, wegen sexueller Belästigung, Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, gefährlicher Körperverletzung und sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen in Tateinheit mit Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches durch Bildaufnahmen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt und seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet; von der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat die Strafkammer abgesehen. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat die Änderung des Schuldspruchs gemäß Ziffer 1. a) der Beschlussformel zur Folge und den aus Ziffer 1. b) der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

1. Der Senat ändert den Schuldspruch analog § 354 Abs. 1 StPO, da der Angeklagte nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen im Fall II. 1. der Urteilsgründe den Qualifikationstatbestand des § 179 Abs. 5 Nr. 1 StGB in der Fassung vom 27. Dezember 2003 verwirklichte, indem er den vaginalen Geschlechtsverkehr mit der widerstandsunfähigen Zeugin vollzog. § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO hindert die Änderung des Schuldspruchs nicht. Auch § 265 Abs. 1 StPO steht ihr nicht entgegen, weil sich der Angeklagte nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können.

2. Die auf § 66 Abs. 2 StGB gestützte Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung hat keinen Bestand.

a) Die Strafkammer hat die Gefährlichkeit des Angeklagten im Sinne des § 66 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB - entgegen der Auffassung des in der Hauptverhandlung vernommenen psychiatrischen Sachverständigen - angenommen. Sie hat dies unter anderem damit begründet, dass sich der Angeklagte nur im Hinblick auf die Tat zum Nachteil einer der Geschädigten als Sexualstraftäter ansehe. Hieraus folge, „dass eine umfassende Auseinandersetzung mit seinen Taten und seiner Schuld beim Angeklagten bislang nicht stattgefunden hat“.

b) Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Tatgericht die Grenzen zulässigen Verteidigungsverhalten des Angeklagten verkannt hat.

aa) Zulässiges Verteidigungsverhalten darf weder hangbegründend noch als Anknüpfungspunkt für die Gefährlichkeit eines Angeklagten verwertet werden (BGH, Beschlüsse vom 11. November 2020 - 1 StR 277/20, StV 2021, 254; vom 24. Oktober 2019 - 4 StR 200/19, NStZ-RR 2020, 15; vom 21. August 2014 - 1 StR 320/14, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 11; vom 4. Februar 2014 - 3 StR 451/13, NStZ-RR 2014, 107; vom 4. August 2009 - 1 StR 300/09, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 13). Wenn der Angeklagte die Taten leugnet, bagatellisiert oder einem anderen die Schuld an der Tat zuschiebt, ist dies grundsätzlich zulässiges Verteidigungsverhalten (BGH, Beschlüsse vom 24. Oktober 2019 - 4 StR 200/19, NStZ-RR 2020, 15 mwN; vom 25. April 1990 - 3 StR 85/90, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verteidigungsverhalten 8). Andernfalls wäre der Angeklagte gezwungen, seine Verteidigungsstrategie zu ändern, um der Anordnung der Sicherungsverwahrung zu entgehen (BGH, Beschlüsse vom 4. Februar 2014 - 3 StR 451/13, NStZ-RR 2014, 107; vom 26. Oktober 2011 - 5 StR 267/11, NStZ-RR 2012, 9). Die Zulässigkeitsgrenze ist erst erreicht, wenn sich das Leugnen, Verharmlosen oder die Belastung des Opfers als Ausdruck besonders verwerflicher Einstellung des Täters darstellt, etwa weil die Falschbelastung mit einer Verleumdung oder Herabwürdigung oder der Verdächtigung einer besonders verwerflichen Handlung einhergeht (BGH, Beschlüsse vom 24. Oktober 2019 - 4 StR 200/19, NStZ-RR 2020, 15; vom 21. August 2014 - 1 StR 320/14, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 11 mwN).

bb) Der Angeklagte, der in der Hauptverhandlung neben der eingeräumten Sexualstraftat zum Nachteil der Nebenklägerin im Übrigen die Sexual- und Körperverletzungstaten im Wesentlichen bestritten hat, hat die Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens nicht überschritten. Die Urteilsausführungen erschöpfen sich nicht in der - grundsätzlich zulässigen - Erwägung, dass Umstände, die einer möglicherweise bestehenden Gefährlichkeit entgegenstehen, in der Aussage nicht zu Tage getreten sind. Hier hat die Strafkammer vielmehr die Gefährlichkeit bereits mit dem Bestreiten der Taten begründet. Der aufgezeigte Rechtsfehler bedingt mithin die Aufhebung der angeordneten Sicherungsverwahrung mit den zugehörigen Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO).

3. Auch die Entscheidung, von einer Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) abzusehen, hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Es wird schon nicht deutlich, ob die Strafkammer einen zutreffenden rechtlichen Maßstab angelegt hat. Sie hat unter Bezugnahme auf eine Kommentarstelle (Fischer, StGB, 67. Aufl., § 64 Rn. 7) angenommen, ein übermäßiger Konsum setze eine erhebliche Beeinträchtigung der Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit voraus. Indes entspricht es der Rechtsprechung sämtlicher Strafsenate des Bundesgerichtshofs, dass eine erhebliche Beeinträchtigung von Gesundheit, Arbeits- und/oder Leistungsfähigkeit lediglich indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hangs haben kann, das Fehlen solcher Beeinträchtigungen die Bejahung eines Hangs aber nicht ausschließt (BGH, Beschlüsse vom 19. Februar 2020 - 3 StR 415/19, NStZ-RR 2020, 168, 169; vom 17. September 2019 - 3 StR 355/19, juris Rn. 4, jeweils mwN).

Da die Voraussetzungen für eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nicht von vornherein zu verneinen sind, ist auch die Entscheidung über die Maßregel gemäß § 64 StGB aufzuheben. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert eine Nachholung der Unterbringung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; s. BGH, Beschluss vom 19. Februar 2020 - 3 StR 415/19, NStZ-RR 2020, 168, 169 mwN).

4. Die aufgezeigten Rechtsfehler lassen den Strafausspruch hingegen unberührt. Es ist zum einen auszuschließen, dass das Landgericht bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf eine mildere Strafe erkannt hätte. Zwischen beiden Sanktionen besteht grundsätzlich keine notwendige Wechselwirkung; sie sollen unabhängig voneinander bemessen bzw. angeordnet werden (BGH, Beschlüsse vom 19. Februar 2020 - 3 StR 415/19, NStZ-RR 2020, 168, 190; vom 3. Mai 2018 - 3 StR 148/18, juris Rn. 8). Zum anderen hat die Strafkammer die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung bei der Bemessung der Strafe nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt.

5. Für die - wiederum unter Hinzuziehung eines Sachverständigen durchzuführende (§ 246a Abs. 1 und 3 StPO) - neue Hauptverhandlung gibt der Senat Folgendes zu bedenken:

§ 246a Abs. 1 Satz 1 StPO sieht für die Anordnung der Sicherungsverwahrung zwingend die Hinzuziehung eines Sachverständigen vor. Hiermit beugt die Vorschrift von vornherein jedem Zweifel vor, ob in einfach gelagerten Fällen nicht ausnahmsweise schon die eigene Sachkunde des Tatgerichts genügen könnte (s. LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 246a Rn. 1 mwN). Deshalb ist es ihm verwehrt, dieses Verfahrenserfordernis durch näher dargelegte eigene Sachkunde zu ersetzen (BGH, Beschlüsse vom 30. März 1977 - 3 StR 78/77, BGHSt 27, 166, 167 f.; vom 20. Januar 2004 - 4 StR 464/03, NStZ-RR 2004, 204, 205).

Eingedenk dessen stößt es auf rechtliche Zweifel, dass die Strafkammer das Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen der Sache nach wegen methodischer Mängel als für die Beurteilung der Gefährlichkeit des Angeklagten im Wesentlichen untauglich angesehen hat. Zwar ist das Tatgericht nicht gehindert, von dem Gutachten eines einvernommenen Sachverständigen abzuweichen, weil dieses stets nur Grundlage der richterlichen Überzeugungsbildung sein kann (s. BGH, Urteil vom 24. Februar 2021 - 6 StR 151/20, juris Rn. 9 mwN).

Im Geltungsbereich des § 246a Abs. 1 StPO dürfte es jedoch erforderlich sein, dass die Angaben des Sachverständigen geeignet gewesen sind, dem Gericht die besondere Sachkunde zu vermitteln. Dies erscheint hier fraglich. Soweit die Strafkammer eine differenzierte Einzelfallanalyse des psychiatrischen Sachverständigen vermisst hat (s. UA S. 71 f.), wäre sie gehalten gewesen, ihn zu einer solchen anzuhalten oder - sollte er sich hierzu nicht imstande sehen - einen weiteren Sachverständigen hinzuziehen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1234

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2022, 42; StV 2022, 301

Bearbeiter: Christian Becker