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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 27

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 291/20, Beschluss v. 11.11.2020, HRRS 2021 Nr. 27


BGH 3 StR 291/20 - Beschluss vom 11. November 2020 (LG Wuppertal)

Rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags (Alibi; Behauptung „ins Blaue hinein“; Ausschöpfung des Beweisantrags; unzulässige Beweisausforschung).

§ 244 Abs. 3 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bei der Entscheidung über die Ablehnung eines Beweisantrages muss der Inhalt des Antrags tatsächlich ausgeschöpft werden. Die Ablehnung muss zudem einen konkreten Ablehnungsgrund benennen.

2. Einzelfall einer unzureichenden Ablehnung mit der Begründung, dem Antrag gehe es allein um eine Beweisausforschung.

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 31. Januar 2020 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in fünf Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit Körperverletzung, und sexuellen Übergriffs mit Gewalt in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Körperverletzung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision die Verletzung materiellen und formellen Rechts. Während die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge keinen Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten ergeben hat, hat das Rechtsmittel mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

1. Die zulässige Rüge, mit welcher der Angeklagte die fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags geltend macht, dringt durch.

a) Dem liegt Folgendes zugrunde:

Die Strafkammer hat den Angeklagten wegen insgesamt sieben Taten zu Lasten seiner Ehefrau verurteilt, darunter ein am 10. Dezember 2016 begangener sexueller Übergriff. Das Landgericht hat sich dabei vor allem auf die Angaben der Geschädigten gestützt, da der Angeklagte das Geschehen abgestritten und sich unter anderem eingelassen hat, am Wochenende des 10. und 11. Dezember 2016 bei einer Verlobungsfeier in P. gewesen zu sein. Nachdem die Strafkammer dazu einen von den Verteidigern benannten Zeugen aus F. vernommen und die Vernehmung zweier weiterer Zeugen wegen Unerreichbarkeit abgelehnt hatte, haben die Verteidiger die Vernehmung eines als ehemaligen Lehrer des Angeklagten bezeichneten und namentlich mit Anschrift benannten Zeugen aus T. beantragt.

Der Antrag hat zum Gegenstand, dass der Angeklagte sich vom 9. bis 11. Dezember 2016 in P. befunden und an einer Verlobungsfeier teilgenommen habe, der Zeuge bei diesem Fest den Angeklagten zeigende Fotos gemacht habe, er zur Übergabe der Bilder bereit sei und sich aus diesen das Aufnahmedatum ergebe. Das Landgericht hat den Antrag und weitere Anträge mit der Begründung abgelehnt, es handele sich lediglich ?um solche zur Beweisausforschung, mit denen erst brauchbares Verteidigungsmittel aufgefunden werden soll"; die Aufklärungspflicht gebiete nicht, dem nachzukommen. Die Behauptungen zu gefertigten Fotos und zur Übergabebereitschaft der Zeugen seien „offensichtlich ins Blaue gestellt worden“, da die Verteidigung ihre zugrundeliegenden Erkenntnisse nicht darlege. Soweit alle zurückgewiesenen Anträge das Ziel verfolgten, die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugin in Frage zu stellen, seien sie bei vorläufiger Würdigung selbst im Falle des Erwiesenseins aller in ihnen aufgestellten Behauptungen nicht geeignet, Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zeugin und der Glaubhaftigkeit ihrer Bekundungen zu wecken.

b) Diese Begründung trägt die Ablehnung des Antrags nicht. Sie schöpft den Inhalt des Antrages nicht aus (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 24. Juni 2008 - 3 StR 179/08, NStZ 2008, 707; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 244 Rn. 87) und benennt hinsichtlich der Alibibehauptung keinen Ablehnungsgrund nach § 244 Abs. 3 Satz 2 und 3, Abs. 5 Satz 2 StPO.

Auf das Vorbringen, dass der Angeklagte sich vom 9. bis 11. Dezember 2016 in P. befunden und an einer Verlobungsfeier teilgenommen habe, ist die Strafkammer in dem Beschluss nicht eingegangen, sondern lediglich auf die weiteren Behauptungen, der Zeuge habe Fotos aufgenommen, der Angeklagte sei darauf zu erkennen und der Zeuge zur Übergabe der Bilder bereit. In Bezug auf den unter Beweis gestellten Aufenthalt in P. ist die Bewertung des Landgerichts nicht nachvollziehbar, der Antrag habe allein eine Beweisausforschung zum Gegenstand. Bei dem nicht in den Blick genommenen Vorbringen handelt es sich nach den weiteren Umständen um eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO nF, welche die Schuldfrage betrifft (vgl. zum Alibibeweis BGH, Beschluss vom 12. Juli 2018 - 3 StR 144/18, StraFo 2018, 522, 523). Zudem ist mit dem benannten Zeugen ein Beweismittel bestimmt bezeichnet worden und dem Antrag zu entnehmen, weshalb der Zeuge die behauptete Tatsache belegen können soll; er soll laut Beweisantrag selbst an der Feier teilgenommen haben. Schließlich fehlt eine Grundlage für die Annahme, die Beweisaufnahme sei insoweit nicht gemäß § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO ernsthaft verlangt (s. zu „ins Blaue gestellten“ Anträgen BT-Drucks. 19/14747 S. 34; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 244 Rn. 21d ff.; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 110 ff.).

Dem Beschluss des Landgerichts ist auch im Gesamtzusammenhang kein Grund zu entnehmen, aus dem der Beweisantrag in gesetzlich zulässiger Weise abgelehnt worden ist. Ungeachtet der Tatsache, dass ein solcher nicht genannt wird, trifft die zusammenfassende Erwägung nicht zu, dass die Beweisbehauptung selbst im Falle des Erwiesenseins nicht zu Zweifeln an der Aussage der Geschädigten führen könne. Stünde nämlich die Anwesenheit des Angeklagten zur Tatzeit in P. fest, hätte er nicht zugleich die Tat in Deutschland begehen können.

2. Der Verfahrensfehler hat die vollständige Aufhebung des Urteils zur Folge, da er sich auf die Beweiswürdigung insgesamt auswirkt. Wären die Angaben der Geschädigten zu der Tat am 10. Dezember 2016 durch das Alibi widerlegt worden, hätte dies ihre Glaubhaftigkeit grundlegend in Frage stellen können (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 2000 - 3 StR 483/99, NStZ 2001, 160, 161), zumal die Strafkammer ergänzend E-Mail-Nachrichten herangezogen hat, welche die Zeugin zeitnah zu den Taten angefertigt haben soll. Hätte sich insofern die Unrichtigkeit hinsichtlich einer Tat ergeben, hätte dies die Überzeugungskraft auch im Übrigen beeinträchtigen können.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 27

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2021, 57

Bearbeiter: Christian Becker