HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 116
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 401/19, Urteil v. 12.12.2019, HRRS 2020 Nr. 116
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 16. Mai 2019 im Tenor dahin ergänzt, dass der Angeklagte im Übrigen freigesprochen wird.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. In zwei weiteren Fällen hat es den Angeklagten ausweislich der Entscheidungsgründe aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, es jedoch unterlassen, dies in die Urteilsformel aufzunehmen.
Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihrer vom Generalbundesanwalt vertretenen, auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, soweit sie sie zuungunsten des Angeklagten eingelegt hat, gegen die Strafzumessung. Diesbezüglich bleibt dem Rechtsmittel der Erfolg versagt. Zugunsten des Angeklagten richtet sich das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft dagegen, dass im Tenor ein Teilfreispruch unterblieben ist. In dieser Hinsicht ist es erfolgreich.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte lernte über seine Beziehung zum Mitangeklagten im Jahr 2013 dessen Nichte kennen, die damals noch zehnjährige Zeugin M. Mit der Zeit entwickelte sich zwischen dem Angeklagten und der Zeugin eine gegenseitige Zuneigung. Sie schrieben sich Textnachrichten, in denen sie einander ihre Liebe bekundeten, und tauschten Küsse aus. Das Alter der Zeugin war dem Angeklagten bekannt.
An einem Tag kurz vor dem 15. August 2015 übernachtete die inzwischen zwölf Jahre alte Zeugin in der Wohnung des Mitangeklagten. Der damals 26jährige Angeklagte hielt sich ebenfalls dort auf. Gemeinsam nahmen die Zeugin und der Angeklagte ein Bad. Danach legten sie sich zusammen auf ein Bett und führten im gegenseitigen Einvernehmen den vaginalen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss durch, wobei der Angeklagte ein Kondom benutzte. Ihre Beziehung dauerte mehrere Monate fort.
2. Die Strafkammer hat das Tatgeschehen als schweren sexuellen Missbrauch von Kindern gemäß § 176 Abs. 1, § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB gewertet. Sie hat die Annahme eines minder schweren Falls nach § 176a Abs. 4 Halbsatz 2 StGB im Wesentlichen damit begründet, dass sich die Zeugin zum Tatzeitpunkt am oberen Ende der Schutzaltersskala befunden habe, der Angeklagte unbestraft gewesen sei und die psychosexuelle Entwicklung der Zeugin - indes nur diese - erkennbar deutlich weiter entwickelt gewesen sei, als sich aus ihrem Lebensalter ergebe. Damit sei der Reifeabstand zwischen dem eher gehemmt wirkenden Angeklagten und der Zeugin nicht so weit gewesen, wie es nach dem Alter der beiden Personen den Anschein haben könne (UA S. 9 f.). Bei der konkreten Strafzumessung hat die Strafkammer zugunsten des Angeklagten sein weitgehendes Geständnis und das Fehlen nachteiliger Tatfolgen für die Zeugin gewürdigt. Zu seinen Lasten hat sie erwogen, dass er nach Bekanntwerden des laufenden Ermittlungsverfahrens ein Betäubungsmitteldelikt beging.
3. Hiergegen wendet die Staatsanwaltschaft ein, dass die Feststellungen einen minder schweren Fall nicht trügen. Die zwölfjährige Zeugin habe sich nicht kurz vor Vollendung des 14. Lebensjahrs befunden, mithin nicht am oberen Ende der Schutzaltersskala. Dass sie in ihrer psychosexuellen Entwicklung ihrem Alter voraus gewesen sei, sei ebenso wenig belegt wie der Umstand, dass sie durch das Tatgeschehen keine Beeinträchtigungen in ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung davongetragen habe. Die Strafkammer habe überdies rechtsfehlerhaft unberücksichtigt gelassen, dass es zu einem Eindringen in den Körper des Opfers und nicht des Täters gekommen sei.
4. Das Landgericht hat es im Übrigen nicht als erwiesen angesehen, dass der Angeklagte in zwei weiteren vom Anklagevorwurf umfassten Fällen gemeinsam mit dem Mitangeklagten sexuelle Handlungen vor der Zeugin vornahm (§ 176 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB). Insoweit hat es - wie in den Urteilsgründen ausdrücklich klargestellt - versehentlich unterlassen, den Angeklagten im Tenor freizusprechen.
1. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist ausweislich seiner Begründung wirksam auf den Strafausspruch sowie das Unterlassen des Teilfreispruchs in der Urteilsformel beschränkt.
2. Soweit die Staatsanwaltschaft den Strafausspruch angreift, deckt ihr Rechtsmittel keinen Rechtsfehler auf.
a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts in diese Einzelakte der Strafzumessung ist nur möglich, wenn dem Tatgericht ein Rechtsfehler unterlaufen ist, etwa weil es gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstoßen hat oder sich die verhängte Strafe von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein. Dagegen ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 10. April 1987 - GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349; Urteil vom 4. April 2019 - 3 StR 31/19, juris Rn. 15).
Diese Maßstäbe gelten auch für die vom Tatgericht vorzunehmende Prüfung, ob ein minder schwerer Fall vorliegt. Bei der dabei gebotenen Gesamtabwägung unterliegt es seinem pflichtgemäßen Ermessen, welches Gewicht es den einzelnen Milderungsgründen im Verhältnis zu den Erschwerungsgründen beimisst; seine Wertung ist vom Revisionsgericht nur begrenzt nachprüfbar (BGH, Urteil vom 11. Oktober 2018 - 4 StR 274/18, juris Rn. 5 mwN).
b) Hieran gemessen halten sowohl die Strafrahmenwahl als auch die konkrete Strafzumessung des Landgerichts rechtlicher Nachprüfung stand. Der ausdrücklichen Erörterung bedürfen lediglich die Einwände der Staatsanwaltschaft. Hierzu gilt:
aa) Die Einordnung des Tatgeschehens als minder schwerer Fall im Sinne des § 176a Abs. 4 StGB hat die Strafkammer aufgrund einer rechtsfehlerfreien Gesamtabwägung vorgenommen.
(1) Es begegnet insbesondere keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht das Alter der zwölfjährigen Zeugin zum Tatzeitpunkt als „am oberen Ende der Schutzaltersskala“ liegend und damit - im Vergleich zum Missbrauch jüngerer Kinder - als strafmildernden Gesichtspunkt eingestuft hat. Das Gesetz schützt Kinder, mithin Personen unter 14 Jahren, § 176 Abs. 1 StGB. Ein Alter von zwölf Jahren liegt im oberen Bereich der geschützten Spanne. Hierfür ist es nach dem üblichen Sprachgebrauch nicht erforderlich, dass das Kind unmittelbar vor seinem 14. Geburtstag steht.
(2) Entgegen der Auffassung der Revision ist in den Urteilsgründen ausreichend belegt, dass die Zeugin bei der Tat in ihrer psychosexuellen Entwicklung anderen Zwölfjährigen voraus war. Dieser Umstand ergibt sich etwa aus den Feststellungen, dass die Zeugin mit dem Angeklagten eine mehrmonatige „Beziehung“ führte, beide „eine ausgeprägte Zuneigung füreinander“ (UA S. 4) empfanden und den Geschlechtsverkehr einvernehmlich ausübten. Vor der Tat tauschten sie bereits Zungenküsse aus. Die Zeugin berichtete einer Mitschülerin, sie sei mit dem Angeklagten „zusammen“, und äußerte in einer Sprachnachricht, der Angeklagte habe „sie gefickt und sie habe dies auch gewollt“ (UA S. 8). Schließlich war die Zeugin im Zeitpunkt ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung - mit erst 16 Jahren - hochschwanger.
(3) Gleiches gilt für den von der Strafkammer als strafmildernd gewürdigten Umstand, der Entwicklungsabstand zwischen dem Angeklagten und der Zeugin sei nicht so weit, wie es ihr Altersunterschied vermuten lasse. Das Landgericht hat dies ohne Rechtsfehler zum einen mit der genannten Frühreife der Zeugin, zum anderen mit seinem näher dargelegten persönlichen Eindruck vom Angeklagten begründet.
(4) Soweit die Revision rügt, die Strafkammer habe nicht strafschärfend in den Blick genommen, dass der Angeklagte in die Zeugin eingedrungen sei und nicht umgekehrt, zeigt sie ebenfalls keinen Rechtsfehler auf. Denn das Tatgericht ist nicht gehalten, sämtliche in Betracht kommenden Gesichtspunkte erschöpfend in den Urteilsgründen zu erörtern. § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO verpflichtet es lediglich dazu, die bestimmenden Umstände darzulegen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 16. April 2015 - 3 StR 638/14, NStZ-RR 2015, 240). Um einen solchen Umstand handelte es sich hier nicht. Die konkrete Tat - einvernehmlicher vaginaler Geschlechtsverkehr mit Kondom im Rahmen einer Liebesbeziehung - ging nicht derart über die Mindestanforderungen des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB hinaus, dass die einzelnen Tatmodalitäten bei der Strafzumessung als strafschärfend hätten gewertet werden müssen.
bb) Im Rahmen der konkreten Strafzumessung erweist es sich nicht als rechtsfehlerhaft, die ausgebliebenen negativen Tatfolgen für das Opfer als strafmildernd zu bewerten. Es ist nicht erforderlich, dass das Tatgericht stets in allen Einzelheiten darlegt, auf welche Weise es zu bestimmten Feststellungen gelangt ist (BGH, Beschluss vom 13. April 2010 - 3 StR 28/10, juris Rn. 4). Hier hat die Strafkammer im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, dass die Zeugin in Bezug auf das Tatgeschehen gleichgültig gewirkt habe. Ihre Angaben seien eklatant von ihrer polizeilichen Aussage abgewichen, außerdem habe es ihnen an Einzelheiten oder Randdetails gefehlt, obgleich es sich um Vorgänge gehandelt habe, „die auch eine intellektuell schwach begabte Person regelmäßig erinnert“ (UA S. 7). Diese Umstände lassen den von der Strafkammer gezogenen Schluss auf ausgebliebene negative Tatfolgen zu.
c) Das Rechtsmittel zeigt entgegen der Revision in der konkreten Strafzumessung auch keinen Fehler zulasten des Angeklagten auf, § 301 StPO. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht ein drei Jahre nach dem Missbrauch verwirklichtes geringfügiges Betäubungsmitteldelikt als „mäßig strafschärfend“ gewertet hat. Ausweislich der Urteilsgründe hat die Strafkammer insoweit maßgebend darauf abgestellt, dass der Angeklagte die neue Tat in Kenntnis des gegen ihn in dieser Sache laufenden Ermittlungsverfahrens beging. Damit hat sie in zulässiger Weise sein für ein gewisses Maß an Rechtsfeindlichkeit sprechendes Nachtatverhalten gewürdigt (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 2015 - 2 StR 272/15, NStZ-RR 2016, 7, 8 mwN; OLG Schleswig, Urteil vom 4. August 1976 - 1 Ss 394/76, MDR 1976, 1036; LK/Theune, StGB, 12. Aufl., 2007, § 46 Rn. 213).
3. Das Rechtsmittel hat dagegen Erfolg, soweit es sich gegen das Unterbleiben des Teilfreispruchs des Angeklagten in zwei Fällen in der Urteilsformel richtet. Dadurch, dass die Strafkammer es unterlassen hat, den Teilfreispruch in den Tenor aufzunehmen, hat sie den Prozessstoff nicht wie geboten erschöpfend erledigt, wodurch der Angeklagte beschwert ist (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 1998 - 4 StR 620/97, BGHR StPO § 260 Urteilsspruch 2). Der Senat holt den Teilfreispruch in analoger Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO nach und ergänzt die Urteilsformel entsprechend.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 116
Bearbeiter: Christian Becker