HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 232
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 562/18, Beschluss v. 07.08.2019, HRRS 2020 Nr. 232
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Kammergerichts vom 25. Juli 2018 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem Nebenkläger im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Kammergericht hat den Angeklagten wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit in Tateinheit mit Beihilfe zur Freiheitsberaubung in zwei tateinheitlichen Fällen, davon in einem Fall zu einer über eine Woche dauernden Freiheitsberaubung, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner auf Verfahrensbeanstandungen und die näher ausgeführte Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
Nach den Feststellungen des Kammergerichts wird dem Opfer der hier verfahrensgegenständlichen Entführung, einem v. Staatsangehörigen (im Folgenden: der Geschädigte), in der Sozialistischen Republik V. (im Folgenden: V.) vorgeworfen, als Geschäftsführer eines staatlichen Unternehmens einen dreistelligen Millionenbetrag unterschlagen zu haben. Tatsächlich machte seine Firma hohe Verluste, was zu einer Untersuchung führte; diese wurde indes im Jahr 2015 eingestellt, weil ihm nichts vorzuwerfen war. Danach bekleidete er weiter öffentliche und Parteiämter. In der Folgezeit entwickelte sich ein parteiinterner Machtkampf, in dem sich die konservative, an China ausgerichtete Linie durchsetzte. Der Geschädigte gehörte der prowestlichen Strömung an, die im Weiteren diskreditiert werden sollte. Zu diesem Zweck wurde das Verfahren gegen ihn wieder aufgenommen und ein Hausarrest verhängt. Unter anderem deshalb setzte er sich im Jahr 2016 nach Deutschland ab, wo sich bereits seine Ehefrau befand und wo er politisches Asyl beantragte. Der Antrag wurde - allerdings erst nach der verfahrensgegenständlichen Entführung im Jahr 2017 - positiv beschieden.
Im September 2016 wiesen deutsche Behörden den Geschädigten betreffende Aufenthaltsermittlungs- und Auslieferungsersuchen V. mangels ersichtlicher Straftaten zurück; der Aufforderung zu substanzieller Nachbesserung kamen die v. Behörden nicht nach. Stattdessen stellten sie eigene Ermittlungen an, durch die ihnen spätestens im November 2016 bekannt wurde, dass der Geschädigte sich in Deutschland aufhielt und eine enge Beziehung zu einer Freundin - ebenfalls eine v. Staatsangehörige - unterhielt. Diese Informationen gaben v. Sicherheitsbehörden an die Bundespolizei weiter, um die Festnahme des Geschädigten und seine anschließende Auslieferung nach V. zu erreichen. Um die Dringlichkeit der Auslieferungsbemühungen zu unterstreichen, wandte sich der v. Ministerpräsident schriftlich und persönlich an die Bundeskanzlerin, die indes auf die Unabhängigkeit der insoweit allein entscheidungsbefugten deutschen Justiz verwies.
Nachdem v. staatliche Stellen erfahren hatten, dass der Geschädigte und seine Freundin sich Mitte Juli 2017 erneut zu einem mehrtägigen Treffen in B. verabredet hatten, wurde innerhalb des v. Geheimdienstes beschlossen, die beiden im Wege einer nachrichtendienstlichen Operation zu entführen und nach V. zu bringen. Dem Geschädigten sollte dort der Prozess gemacht werden.
Zur Durchführung der Operation wurde eine Gruppe aus mehreren Personen zusammengestellt, die in B. im Wege eines arbeitsteiligen Vorgehens die beiden späteren Entführungsopfer ausspähen sollte, um einen günstigen Ort und eine günstige Gelegenheit für die Entführung zu ermitteln. Zu dieser Gruppe gehörten Mitarbeiter des v. Geheimdienstes, Botschaftsangehörige, aber auch mehrere in Europa lebende Personen v. Herkunft, unter ihnen der in P. lebende Angeklagte. Geplant und koordiniert wurde die nachrichtendienstliche Operation im Wesentlichen von dem stellvertretenden Leiter der für die innere Sicherheit V. zuständigen Hauptabteilung „Allgemeine Sicherheit“, einem Mitarbeiter des v. Geheimdienstes und einer weiteren namentlich noch nicht ermittelten Person.
Der Angeklagte erklärte sich bereit, an der geheimdienstlichen Operation in Deutschland teilzunehmen und dazu Tatbeiträge zu leisten. Er war in den Gesamtplan im Wesentlichen eingeweiht; insbesondere war ihm der geheimdienstliche Hintergrund der Operation bekannt. Ihm war weiter bewusst, dass dem Geschädigten nach seiner gewaltsamen Ergreifung und seiner Verbringung nach V. länger als für eine Woche die Freiheit entzogen werden würde.
Ab dem 16. Juli 2017 trafen nach und nach die auswärtigen Tatbeteiligten in B. ein. Der Angeklagte mietete am 18. Juli 2017 in P. einen BMW X5 an und übergab das Fahrzeug unmittelbar danach einem weiteren Tatbeteiligten, der damit nach B. fuhr. In den folgenden Tagen wurde das Fahrzeug zu verschiedenen Observations- und Abschöpfungsmaßnahmen sowie organisatorischen Fahrten im Stadtgebiet von B. verwendet. Nachdem am 19. Juli 2017 die Freundin des Geschädigten am Flughafen in B. eingetroffen war, wurde sie - ebenfalls unter Verwendung des vom Angeklagten beschafften BMW X5 - von einem Teil der Tatbeteiligten ausgespäht. Auch in den folgenden Tagen wurden die späteren Entführungsopfer beim jeweiligen Verlassen des von ihnen gebuchten Hotels observiert und verfolgt. Am 20. Juli 2017 mietete der Angeklagte in P. das spätere Tatfahrzeug, einen siebensitzigen Multivan Volkswagen T5, an und fuhr damit nach B., wo er spätabends ankam und mit weiteren Tatbeteiligten zusammentraf. Am folgenden Tag unterstützte der Angeklagte diese insbesondere durch Anmietung von Hotelzimmern und brachte den BMW X5 nach P. zurück, wo er sich für weitere Einsätze bereithielt.
Am Morgen des 23. Juli 2017 verließen der Geschädigte und seine Freundin ihr Hotel; zum gleichen Zeitpunkt setzten sich die Entführer in dem vom Angeklagten beschafften Multivan in Bewegung und folgten den Entführungsopfern zum Tatort in , wo sie den körperlichen Widerstand leistenden Geschädigten und seine Freundin in den Wagen trugen bzw. zerrten. Anschließend fuhr das Fahrzeug zur v. Botschaft. Von dort wurden die beiden Opfer nach V. gebracht, wo die Freundin schon am 24. Juli 2017 eintraf. Der Geschädigte verblieb zunächst bis zum 25. Juli 2017 in der v. Botschaft in B. und wurde von dort über nach V. gebracht.
Unmittelbar nach der Tat begab sich der Angeklagte mit einem weiteren Tatbeteiligten von P. nach B. und erledigte dort logistische Tätigkeiten zur Verschleierung der geheimdienstlichen Operation. Anschließend fuhren sie zur v. Botschaft, von wo aus der Angeklagte den dort abgestellten Multivan nach P. verbrachte und das Fahrzeug am folgenden Tag an den Vermieter zurückgab.
Nachdem die umgehend tätig gewordene B. Kriminalpolizei ermittelt hatte, dass die Entführung unter anderem durch v. Tatbeteiligte unter Einschaltung der v. Botschaft durchgeführt worden war, übermittelte bereits am 1. August 2017 ein Vertreter des Auswärtigen Amts gegenüber dem Botschafter V. den ausdrücklichen Protest der Bundesrepublik Deutschland und forderte die unverzügliche Rückreise des Geschädigten. Zudem wurde ein tatbeteiligter Botschaftsmitarbeiter als persona non grata ausgewiesen.
Nur zwei Tage später, am 3. August 2017, wurde der Geschädigte im v. Staatsfernsehen präsentiert. Dort schilderte er wahrheitswidrig, er sei freiwillig nach V. zurückgekehrt, um sich den Behörden zu stellen. Zwischenzeitlich wurde er in zwei Verfahren vor dem Volksgerichtshof in Ha. im Januar bzw. Februar 2018 jeweils zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Rechtsmittel dagegen nahm er Anfang Mai 2018 zurück.
Die Revision des Angeklagten ist nicht begründet.
I. Die Verfahrensrügen erweisen sich aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen teilweise bereits als unzulässig, jedenfalls aber insgesamt als unbegründet.
II. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende materiellrechtliche Nachprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Der näheren Erörterung bedarf nur Folgendes:
1. Der Schuldspruch wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit begegnet entgegen der in der Revisionsbegründung vertretenen Auffassung keinen rechtlichen Bedenken. Insoweit gilt:
a) Eine geheimdienstliche Agententätigkeit übt aus, wer eine aktive Mitarbeit für einen fremden Nachrichtendienst entfaltet und dadurch seine Bereitschaft verwirklicht, sich funktionell in dessen Ausforschungsbestrebungen einzugliedern, ohne dass damit notwendigerweise eine Eingliederung in den organisatorischen Apparat des Geheimdienstes verbunden sein muss (BGH, Urteil vom 5. Juli 1972 - 3 StR 4/71, BGHSt 24, 369, 372; MüKoStGB/Lampe/Hegmann, 3. Aufl., § 99 Rn. 7 mwN). Diese Voraussetzungen sind hier angesichts der unterschiedlichen festgestellten Aktivitäten des Angeklagten erfüllt; es handelte sich um „geheimdienstliches“ Verhalten, also um ein Handeln, das dem Bild entspricht, welches für die Arbeit von Agenten und anderen Hilfspersonen, die für nachrichtendienstliche Zwecke eingesetzt werden, typisch ist (vgl. BGH, Urteil vom 5. Juli 1972 - 3 StR 4/71, BGHSt 24, 369, 372; LK/Schmidt, StGB, 12. Aufl., § 99 Rn. 4 mwN). Dies ergibt sich mit Blick auf die vom Angeklagten teilweise erbrachten, nach außen alltäglich erscheinenden Handlungen aus deren Einbettung in die mit erheblicher Konspiration geheim gehaltene Operation des v. Geheimdienstes.
b) Die Ausübung der geheimdienstlichen Tätigkeit muss - worauf die Revision im Ansatz zu Recht hingewiesen hat - auf die Mitteilung oder Lieferung von Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gerichtet sein. Der Tatbestand erfasst aber nicht nur die Informationsübermittlung im engeren Sinne, sondern schließt alle Vorbereitungshandlungen und Hilfsdienste ein. Ohne Bedeutung ist weiterhin, zu welchem Zweck die erlangten Informationen von dem fremden Nachrichtendienst verwendet werden. Insbesondere muss der Endzweck gerade nicht in einer Informationsvermittlung - etwa durch Lagebeurteilungen - liegen, sondern kann auch in der Vorbereitung staatsterroristischer Anschläge, von Sabotageakten oder anderen verbrecherischen Vorhaben zu sehen sein (MüKoStGB/Lampe/Hegmann, 3. Aufl., § 99 Rn. 17 mwN). So verhielt es sich hier: Die geheimdienstliche Operation verfolgte als Endziel zwar die völkerrechtswidrige Entführung von zwei v. Staatsangehörigen; Bedingung ihres Gelingens und damit notwendiges Zwischenziel war indes die engmaschige Ausspähung der Tatopfer. Die in diesem Zusammenhang durchgeführten Observationsmaßnahmen nahmen die Mittäter des Angeklagten unter anderem unter Verwendung eines von ihm beschafften Fahrzeugs vor.
c) Die Tätigkeit des Angeklagten war auch gegen die Interessen der Bundesrepublik Deutschland gerichtet. Der von der Verteidigung zitierten, vereinzelt und ohne nähere Begründung in der Literatur vertretenen Auffassung, das Tatbestandsmerkmal sei nicht erfüllt bei nur gegen einzelne deutsche Staatsangehörige gerichteten Maßnahmen, wie etwa dem Ausforschen von deren Aufenthaltsort, um sie zur Strafverfolgung ins Ausland zu entführen (vgl. Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., § 99 Rn. 21), aus der die Revision den Schluss zieht, diese Grundsätze müssten erst recht gelten, wenn - wie hier - ein ausländischer Staatsangehöriger zum Zweck der Strafverfolgung entführt werde, ist nicht zu folgen. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, von der abzuweichen der vorliegende Fall keinen Anlass bietet, gilt insoweit:
Das Tatbestandsmerkmal „gegen die Bundesrepublik Deutschland“ ist nicht eng im Sinne eines unmittelbar gegen den Bestand der Bundesrepublik oder gegen ihre staatlichen Institutionen gerichteten Handelns zu verstehen; vielmehr genügt eine Tätigkeit gegen die Interessen der Bundesrepublik Deutschland. Es reicht aus, wenn staatliche Belange zumindest mittelbar berührt sind und die Bundesrepublik Deutschland in ihrer funktionalen Stellung als politische Macht betroffen ist (BGH, Beschlüsse vom 22. September 1980 - StB 25/80, BGHSt 29, 325, 331; vom 20. Januar 2015 - 3 StR 551/14, BGHSt 60, 158 Rn. 5). Das ist bei einer geheimdienstlichen Tätigkeit eines ausländischen Geheimdienstes auf deutschem Staatsgebiet regelmäßig der Fall (BGH, Beschluss vom 4. April 2019 - StB 54-55/18, NStZ-RR 2019, 177, 179).
Werden deutsche Staatsangehörige ausgeforscht, ergibt sich eine Verletzung deutscher Interessen zudem bereits daraus, dass die Bundesrepublik ihren Staatsangehörigen - etwa aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG - gegenüber dem Zugriff ausländischer staatlicher Stellen in besonderem Maße zum Schutz verpflichtet ist (BGH, Beschluss vom 4. April 2019 - StB 54-55/18, NStZ-RR 2019, 177, 179; Urteil vom 19. Oktober 2017 - 3 StR 211/17, NStZ 2018, 590, 593).
Werden hingegen ausländische Staatsangehörige Opfer der Maßnahmen eines fremden Nachrichtendienstes, kann ausnahmsweise anderes gelten. Denn das Tatbestandsmerkmal „gegen die Bundesrepublik Deutschland“ erfordert grundsätzlich eine Spionagetätigkeit, die einen inhaltlichen Antagonismus zu den Interessen der Bundesrepublik Deutschland aufweist. Insoweit können Bedenken etwa dann bestehen, wenn die Ausforschungsbemühungen sich gegen Mitglieder oder Unterstützer einer durch die Europäische Union gelisteten ausländischen terroristischen Vereinigung richten, insbesondere gegen Führungsmitglieder, die mit internationalem Haftbefehl gesucht werden (BGH, Beschlüsse vom 20. Januar 2015 - 3 StR 551/14, BGHSt 60, 158 Rn. 6; vom 31. August 2016 - AK 46/16, NStZ 2017, 153, 154). Ein solcher Fall war hier indes nicht gegeben: Die beiden Entführungsopfer waren in der Bundesrepublik Deutschland unbescholten. Zudem war die geheimdienstliche Operation auf die - strafbare (dazu sogleich unter 2.) - gewaltsame Entführung der v. Staatsangehörigen gerichtet; damit erschöpfte sich das Vorgehen des Angeklagten und seiner Mittäter nicht in der nachrichtendienstlichen Betätigung, sondern erfüllte unabhängig davon einen weiteren Straftatbestand. Schon dies führt zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals „gegen die Bundesrepublik Deutschland“ (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2017 - 3 StR 211/17, NStZ 2018, 590, 592).
d) Der Angeklagte handelte als Mittäter und nicht lediglich als Gehilfe. Täter ist jedermann, der sich in die Ausforschungsbestrebungen des fremden Nachrichtendienstes integriert, sich mit seiner aktiven Tätigkeit also bewusst in dessen Dienst stellt, ohne dass damit eine Eingliederung in dessen Organisationsstruktur verbunden sein muss. Auch die Tätigkeit, mit der die Informationsbeschaffung durch andere nur unterstützt wird, begründet Täterschaft und nicht etwa lediglich Beihilfe (vgl. eingehend BGH, Urteil vom 5. Juli 1972 - 3 StR 4/71, BGHSt 24, 369, 377 f.; Beschluss vom 2. Dezember 1985 - 3 StR 424/85, NStZ 1986, 165, 166; MüKoStGB/Lampe/Hegmann, 3. Aufl., § 99 Rn. 29 mwN).
2. Auch die tateinheitliche Verurteilung wegen Beihilfe zur Freiheitsberaubung in zwei tateinheitlichen Fällen, davon in einem Fall zu einer über eine Woche dauernden Freiheitsberaubung, hält revisionsgerichtlicher Überprüfung stand. Insbesondere stellen die Tatbeiträge des Angeklagten in objektiver und subjektiver Hinsicht strafbare Beihilfehandlungen zur jeweiligen Haupttat dar.
Die Entführung und die sich anschließende Freiheitsberaubung der Freundin des Geschädigten, der in V. nichts zur Last gelegt wurde, erweisen sich ohne Weiteres als tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft. Dasselbe gilt hinsichtlich der Ergreifung des Geschädigten; insoweit bedarf näherer Betrachtung allein das Merkmal des Qualifikationstatbestands der über eine Woche dauernden Freiheitsberaubung nach § 239 Abs. 3 Nr. 1 StGB, weil sich der Geschädigte in V. wegen angeblicher Unterschlagung verantworten sollte und sich spätestens vier oder fünf Tage nach seiner Ergreifung aufgrund eines v. Haftbefehls und im Anschluss daran aufgrund zweier rechtskräftiger Urteile in V. in Haft befand. Hierzu im Einzelnen:
Die objektiv tatbestandsmäßige Freiheitsberaubung kann grundsätzlich gerechtfertigt sein, wenn sie sich als Freiheitsentziehung auf tragfähiger gesetzlicher Grundlage darstellt. Dies setzt allerdings voraus, dass die rechtlichen Grenzen der Eingriffsgrundlage nicht überschritten werden. Dabei führt zwar nicht schon jeder Verfahrensmangel zur Rechtswidrigkeit des Vollzuges; wird indes das vorgeschriebene Verfahren zum Zwecke der Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme gar nicht erst betrieben, sondern umgangen, kann sogar in den Fällen eine rechtswidrige Freiheitsberaubung vorliegen, in denen die sachlichen Anordnungsvoraussetzungen gegeben waren (LK/ Schluckebier, StGB, 12. Aufl., § 239 Rn. 23 mwN).
a) So verhält es sich hier zunächst hinsichtlich der Ausspähung und Ergreifung des Geschädigten: Nachdem die deutschen Behörden seine Auslieferung verweigert und dabei festgestellt hatten, eine Straftat von ihm sei nicht zu erkennen, umgingen v. Stellen die Regelungen der Rechtshilfe, da sie auf diesem Weg ihr Ziel, des Geschädigten habhaft zu werden, in absehbarer Zeit nicht erreichen konnten. Die nicht abgedeckte geheimdienstliche Operation auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, an deren Ende der Geschädigte mit Gewalt ergriffen und nach V. verbracht wurde, erweist sich zudem wegen der damit verbundenen massiven Souveränitätsverletzung als völkerrechtswidrig (Wilske, Die völkerrechtswidrige Entführung und ihre Rechtsfolgen, 2000, S. 99, 105 mwN; Bauer, Die völkerrechtswidrige Entführung, 1968, S. 31 mwN), ohne dass entschieden werden müsste, ob anderes gälte, wenn die später festgenommene Person lediglich von auf fremdem Hoheitsgebiet agierenden Ermittlern oder V-Leuten mit List dazu veranlasst wurde, sich in den späteren Gerichtsstaat zu begeben (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1994 - 2 BvR 435/87, NJW 1995, 651; BGH, Beschluss vom 19. Dezember 1986 - 2 StR 588/86, NJW 1987, 3087; Urteil vom 2. August 1984 - 4 StR 120/83, NStZ 1984, 563). Hinzu kommt, dass der Geschädigte in Deutschland Asyl beantragt hatte; das der Bundesrepublik Deutschland zustehende Recht der Gewährung territorialen Asyls begründete - nicht erst ab Asylgewährung, sondern jedenfalls bereits ab Antragstellung - für andere Staaten zusätzlich die Pflicht, den Geschädigten als Person, die in Deutschland Zuflucht gefunden hatte, nicht zu verfolgen, festzunehmen und zu entführen (Bauer, Die völkerrechtswidrige Entführung, 1968, S. 41 f., 46). Auch insoweit liegt ein Verstoß gegen das Völkerrecht vor.
b) Rechtsfolge einer Verletzung des Völkerrechts der vorliegenden Art ist grundsätzlich, dass der daraus resultierende Schaden gegenüber dem verletzten Staat im Ganzen wiedergutzumachen ist (Wilske, Die völkerrechtswidrige Entführung und ihre Rechtsfolgen, 2000, S. 228 f. mwN; Bauer, Die völkerrechtswidrige Entführung, 1968, S. 87 f. mwN). Bei einer völkerrechtswidrigen Entführung bedeutet dies, dass der Entführte an den Aufenthaltsstaat zumindest dann zurückzugeben ist (Wilske, Die völkerrechtswidrige Entführung und ihre Rechtsfolgen, 2000, S. 229 mwN; Bauer, Die völkerrechtswidrige Entführung, 1968, S. 94 f. mwN), wenn dieser die Rückgabeverpflichtung ausdrücklich gegenüber dem Entführerstaat geltend macht (Wilske, Die völkerrechtswidrige Entführung und ihre Rechtsfolgen, 2000, S. 230 f. mwN; vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 17. Juli 1985 - 2 BvR 1190/84, NStZ 1986, 178; BGH, Beschluss vom 19. Dezember 1986 - 2 StR 588/86, NJW 1987, 3087).
Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt: Die Bundesrepublik Deutschland hatte bereits am 1. August 2017 und damit nur etwas mehr als eine Woche nach der Entführung der beiden v. Staatsangehörigen aus B. gegen dieses Vorgehen des v. Geheimdienstes protestiert, einen v. Diplomaten ausgewiesen und die unverzügliche Rückkehr des Geschädigten nach Deutschland verlangt.
c) Einem solchen Restitutionsverlangen ist umgehend zu entsprechen; die Rückgabe erst nach jahrelanger Haftverbüßung entspricht einer Verweigerung der geschuldeten Wiedergutmachung in Form der Naturalrestitution und stellt ein erneutes völkerrechtswidriges Delikt dar (Wilske, Die völkerrechtswidrige Entführung und ihre Rechtsfolgen, 2000, S. 233 f. mwN). Aus diesem Grund konnten auch das sich an die Entführung anschließende Strafverfahren und die darin verhängten Urteile - selbst wenn diese zu Recht gesprochen worden wären - die (weitere) Freiheitsberaubung des Geschädigten nicht rechtfertigen.
Dies gilt eingedenk dessen, dass eine völkerrechtswidrige Verbringung die Durchführung eines Strafverfahrens nicht grundsätzlich hindert, weil eine dahingehende allgemeine Regel des Völkerrechts nicht existiert (BVerfG, Beschlüsse vom 17. Juli 1985 - 2 BvR 1190/84, NStZ 1986, 178; vom 13. Juni 1986 - 2 BvR 837/85, NJW 1986, 3021). Denn auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs ist zu berücksichtigen, ob der Staat, dessen Souveränität verletzt worden ist, Ansprüche aus der völkerrechtswidrigen Verletzung seiner Gebietshoheit geltend macht, die einer (weiteren) Durchführung des Strafverfahrens entgegenstehen. Insoweit ist anerkannt, dass letzteres insbesondere in Betracht kommt, wenn entsprechend der völkerrechtlichen Praxis der verletzte Staat Wiedergutmachung in Form der unverzüglichen Rücklieferung des Entführten verlangt (vgl. BGH, Urteile vom 2. August 1984 - 4 StR 120/83, NStZ 1984, 563; vom 1. Februar 1985 - 2 StR 482/84, NStZ 1985, 361; Beschluss vom 19. Dezember 1986 - 2 StR 588/86, NJW 1987, 3087; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 17. Juli 1985 - 2 BvR 1190/84, NStZ 1986, 178). Damit übereinstimmend hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass infolge eines solchen Rückführungsverlangens die völkerrechtswidrige Veränderung des Aufenthalts des Betroffenen rückgängig zu machen ist und das Strafverfahren vorläufig eingestellt werden muss, um eben diese Rückführung zu ermöglichen (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 1986 - 2 StR 588/86, NJW 1987, 3087).
Daraus folgt hier, dass ungeachtet der Frage, ob nach Rückgabe des Entführten an den Aufenthaltsstaat das Strafverfahren - in dessen Abwesenheit - fortgesetzt werden kann (vgl. dazu BGH, Urteil vom 18. Februar 1987 - 2 StR 588/86, juris Rn. 2 ff. zur wegen § 350 StPO möglichen Fortsetzung des Revisionsverfahrens; BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1994 - 2 BvR 435/87, NJW 1995, 651, 652; kritisch zu dieser Rechtsprechung Wilske, Die völkerrechtswidrige Entführung und ihre Rechtsfolgen, 2000, S. 337 Fn. 428 mit zahlreichen Nachweisen zur ebenfalls kritischen überwiegenden Auffassung in der Literatur), jedenfalls die Freiheitsentziehung durch den Entführerstaat V. während der Dauer des Verfahrens nicht aufrechterhalten werden durfte. Mithin erweist sich auch die sich an die völkerrechtswidrige Entführung anschließende Freiheitsentziehung während und aufgrund des Strafverfahrens als rechtswidrig und damit insgesamt als eine über eine Woche dauernde Freiheitsberaubung im Sinne von § 239 Abs. 3 Nr. 1 StGB.
Nach alledem kann offen bleiben, ob insbesondere aufgrund der wissentlichen Missachtung der Regelungen der Rechtshilfe und der Umgehung eines formellen Auslieferungsverfahrens sowie des Eingriffs in das Asylrecht des Geschädigten vorliegend - wie das Kammergericht angenommen hat - ein auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für möglich gehaltener „extrem gelagerter Ausnahmefall“ (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 1986 - 2 BvR 837/85, NJW 1986, 3021, 3022) vorlag, der ein Verfahrenshindernis begründen konnte. Ebenso ist es nicht entscheidungserheblich, ob sich die Verfahren gegen den Geschädigten nur als Schauprozess gegen ein abtrünniges ehemaliges Parteimitglied darstellten und lediglich den Deckmantel eines Wirtschaftsstrafverfahrens trugen, wovon sich das Kammergericht keine sichere Überzeugung hat verschaffen können.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 232
Externe Fundstellen: BGHSt 64, 170; NJW 2020, 856; NStZ 2020, 280; StV 2020, 587
Bearbeiter: Christian Becker